Alban Berg – Chronik eines Lebens II

Alban Berg

Anlässlich des 130. Geburtstages von Alban Berg widmet sich Dramaturg Roman Reeger in einer vierteiligen Chronik dem Leben und Werk des Komponisten. Der zweite Teil reicht von Bergs Heirat mit Helene Nahowski bis zur Entwicklung der Drei Orchesterstücke op. 6 im Jahr 1914.

Am 3. Mai 1911 heirateten Alban Berg und Helene Nahowski. Kennengelernt hatten sich beide jedoch bereits im Winter 1906, als sie sich in der Operngalerietrafen. Früh war Berg die vornehm-zurückhaltende junge Frau, die – wie er selbst – nahezu jeden Abend in der Oper verbrachte, aufgefallen. Fast ein ganzes Jahr beobachtete er sie in der Galerie, wobei es ihm seine Schüchternheit lange verboten hatte, sie anzusprechen. Helene war die Tochter der Blumenbinderin Anna Nahowski, die durch ihr langjähriges Verhältnis mit Kaiser Franz Joseph I. eine gewisse Bekanntschaft in den Kreisen der Wiener Gesellschaft erlangt hatte. So galt es bereits um 1900 als offenes Geheimnis, dass es sich bei Helene um die illegitime Tochter des Kaisers handelte. Ihr offizieller Vater Franz Nahowski war Beamter bei der Südbahngesellschaft und pflegte zahlreiche außereheliche Beziehungen. Trotz seiner gehobenen Stellung, geriet die Familie Nahowski durch seine Neigung zum Glücksspiel immer wieder in hohe Schulden, welche Anna Nahowski mit den hohen Schweigegeldsummen, die sie vom Kaiser erhielt, tilgte. Die kunstsinnige Helene strebte eine Karriere als Opernsängerin an und lies sich dementsprechend im Gesang ausbilden. Berg schwärmte von ihrem großen Kunstverständnis, welches in seiner Universalität seinem eigenen entsprach und auch das gemeinsame Musizieren verband beide. Doch der geplanten Eheschließung stand lange der erbitterte Widerstand des Vaters entgegen, der neben der unsicheren beruflichen Stellung auch die labile Gesundheit Bergs anführte, um seine Tochter von einer Hochzeit abzubringen.

Helene Berg
Helene Berg

In den schwärmerischen Briefen, die Berg an Helene in dieser Zeit schrieb, finden sich Liebesbekundungen wie: »Man ahnt nicht mehr, daß ich des Leid und der Freude teilhaftig sein kann und daß ich eine Liebe in mir herumtrage, die größer ist als alle Gefühle der Welt zusammen und ewiger als die Welt – und gewaltiger auf ein Ziel gerichtet, als es je die Liebe eines Menschen war, ist und sein wird in aller Ewigkeit!« Schließlich gab Franz Nahowski nach und stimmte einer Heirat zu, wenngleich er nicht an das Gelingen der Beziehung glaubte und dies was er mehrfach zum Ausdruck brachte (z. B. machte er zur Voraussetzung, dass beide wegen des gelockerten Scheidungsrechts zum Protestantismus konvertieren sollten). Dabei hatte sich Bergs finanzielle Situation ab 1907, bedingt durch eine Erbschaft seiner Mutter Johanna, die Universalerbin des Vermögens und Grundbesitzes ihres steinreichen Vaters Josef Weidmann war, entscheidend verbessert. Berg konnte nun seine ungeliebte Stelle in der Verwaltung bedenkenlos kündigen, musste sich jedoch zunächst auch um die zahleichen Höfe auf dem Land kümmern, die nach und nach veräußert wurden. Selbst gegenüber engen Freunden verschwieg er sein »Baronat«, wie Adorno später berichtete, doch verlieh ihm jenes »eine gewisse unerschütterliche Sicherheit, die nicht nur von den keineswegs stets gesicherten Lebensumständen abstach, sondern auch oberflächlich mit seinem bescheidenen Wesen sich kaum zusammenreimte.«

Gegen Ende des Jahres komponierte er mit seinem Streichquartett op. 3 das letzte Werk, welches unter der direkten Anleitung Arnold Schönbergs entstand. Dieses kann wohl als das bemerkenswerteste Stück des frühen Berg bezeichnet werden. Folgte er in seiner Klaviersonate op. 1 noch sehr dem schönbergschen Duktus, der ihm hie und da auch kompositorisch Probleme zu bereiten schien, und in den darauffolgenden Vier Liedern sehr seinen jugendlich-spätromantischen Einflüssen, so lässt sich nun erstmals die spezifische Originalität, welche das Gesamtwerk Bergs prägt, beobachten. Das motivische Material, das sich in scheinbar unendlichen Variationen und Gestalten präsentiert und die Genauigkeit der Organisation desselbigen, unter Einbeziehung von kompositorischen Techniken, wie der Intervallausdehnung und den spezifischen, zwischen Tonalität und Atonalität schwebenden, harmonischen Sphären, korrelieren mit einem lyrischen Tonfall, der jedoch mit einigen Schroffheiten durchsetzt ist und somit zugleich vom dramatischen Impetus des Opernkomponisten zeugt.

Nicht zuletzt unterscheidet sich das erste Streichquartett bereits aufgrund seiner vergleichsweise umfangreichen Länge von Kompositionen Schönbergs und Weberns aus dieser Zeit. Die Fertigstellung und 1911 erfolgte Uraufführung markiert somit einen Wendepunkt in Bergs Schaffen. Abgesehen von den 1913 komponierten recht kurzen und atonalen Vier Stücken für Klarinette und Klavier op. 5 sollte es über 10 Jahre dauern, bis Berg sich wieder mit der Komposition von Kammermusik beschäftigte. Indes trieb ihn bereits während seines Studiums bei Schönberg die Idee um, ein Stück für großes Orchester zu schreiben, ganz dem Vorbild Gustav Mahlers folgend. Am 10. März 1912 schrieb Berg an Schönberg, der mittlerweile wieder in Berlin lebend am Stern’schen Konservatorium unterrichtete: »Ich habe endlich einmal wieder etwas komponiert, ein kleines Orchesterlied nach einem Text auf Ansichtskarten Altenbergs, dem ich bald […] einige folgen lassen werde.« Die aphoristischen Texte, mit denen der Dichter Peter Altenberg, der eng mit Alban und Helene Berg verbunden war, Postkarten zu kommentieren pflegte, hatten schon immer eine gewisse Faszination bei Berg hinterlassen, sodass er in manchen Briefen an seine Frau jene Altenberg-Verse zitierte oder gar versuchte dessen Stil zu imitieren. Tatsächlich komponierte Berg insgesamt fünf verschiedene Texte von Altenberg für Singstimme und Orchester. In diesem ersten sinfonischen Werk Bergs zeigt sich das Vorbild Gustav Mahlers zunächst in dem großbesetzten Orchesterapparat, der jedoch an vielen Stellen sehr sparsam, fast kammermusikalisch eingesetzt wird. Zugleich entwickelt Berg Stimmungen, Instrumentaltimbres und motivische Komplexe, die auf spätere Werke vor allem auf seine Opern Wozzeck und Lulu verweisen.

Peter Altenberg
Peter Altenberg

Die Uraufführung der Altenberg-Lieder erfolgte im Rahmen eines der denkwürdigsten Konzerte des frühen 20. Jahrhunderts. Dieses fand am 31. März 1913 im Wiener Musikverein statt und wurde vom Akademischen Verband für Literatur und Musik veranstaltet. Neben Anton Weberns Sechs Stücken für Orchester op. 4, Alexander Zemlinskys Liedern nach Texten von Maeterlinck, zwei von Alban Bergs Altenberg-Liedern standen Gustav Mahlers Kindertotenlieder ebenso auf dem Programm wie die Kammersymphonie Arnold Schönbergs, der zugleich die musikalische Leitung inne hatte. Das Publikum im restlos ausverkauften Saal bestand im Wesentlichen aus Anhängern und erbitterten Gegnern Schönbergs. Eine gewisse Spannung lag in der Luft und so kam es nach der Aufführung der Kammersymphonie bereits zu ersten Tumulten, Pfiffen und Handgreiflichkeiten zwischen Vertretern beider Lager. Hiernach folgten die zwei Altenberg-Lieder, welche die Stimmung im Konzertsaal vollends kippen ließen.

Eine Kritik der Wiener Zeitung beschreibt die Szenerie: »Zwei Orchesterlieder nach Ansichtskarten von Peter Altenberg von Alban Berg raubten aber auch denbisher Besonnenen die Fassung. […] Die Musik zu diesem lustig-sinnlosen Ansichtskartentexte[n] überbietet alles bisher Gehörte, und es ist nur der Gutmütigkeit der Wiener zuzuschreiben, daß sie sich bei ihrem  Anhören mit herzlichem Lachen begnügen wollten. Dadurch aber, daß Schönberg inmitten des Liedes abklopfte und in das Publikum die Worte schrie, daß er jeden Ruhestörer mit Anwendung der öffentlichen Gewalt abführen lassen werde, kam es neuerlich zu aufregenden und wüsten Schimpfereien, Abohrfeigungen und Forderungen. Herr von Webern schrie auch von seiner Loge aus, daß man die ganze Bagage herausschmeißen sollte, und aus dem Publikum kam die Antwort, daß man die Anhänger der mißliebigen Richtung der Musik nach der Irrenanstalt Steinhof abschaffen müßte. Das Toben und Johlen im Saale hörte nicht mehr auf. Es war gar kein seltener Anblick, daß irgend ein Herr aus dem Publikum in atemloser Hast und mit affenartiger Behendigkeit über etliche Parkettreihen klettert, um das Objekt seines Zornes zu ohrfeigen. – Der einschreitende Polizeikommissär konnte in diesem Chaos will aufgepeitschter Leidenschaften nichts ausrichten […]« Dieses Konzert gilt neben der Uraufführung von Igor Strawinskys  »Le sacre du printemps«, die im selben Jahr in Paris stattfand, als zweiter großer Skandal der Musikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Berg, den der Misserfolg hart traf, sollte die Altenberg-Lieder nie wieder in einem Konzert hören, wofür er nicht zuletzt selbst sorgte, indem er sich weder um Aufführungen kümmerte und gar von seinem eigenen Werk abriet, wenn Dirigenten oder Konzertveranstalter nach ihnen fragten. So wurden sie erst nach Bergs Tod im Jahr 1953 wieder aufgeführt.

Ein Jahr später entwickelte er mit den bedeutenden Drei Orchesterstücken op. 6 seine sinfonische Klangsprache konsequent weiter. »Der Fortschritt gegenüber den Klarinettenstücken ist so groß, wie nur die Distanz sein kann zwischen der extremen Formel der Selbstdisziplin und dem durchgebildeten Stil, auch das genialische Quartett, die souveränen Altenberglieder werden überboten durch die Sicherheit der Verfügung übers dort Erworbene« schreibt Adorno. Tatsächlich gelingt Berg mit den Orchesterstücken ein Meisterwerk, dessen Vielschichtigkeit und stilistische Breite, die bei Mahler beginnt und über Schönberg zu Debussy führt, mit einer strengen Formarchitektur korreliert.

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