»Da entsteht eine ganz ungeheure Freiheit«

Dieter Dorn - Foto: Carole Parodi

Dieser Mann hat Theatergeschichte geschrieben, man kann sogar so weit gehen zu sagen: Er  i s t  Teil dieser Theatergeschichte. Jürgen Otten hat mit Dieter Dorn über seine Theaterarbeit und die Neuinszenierung von Verdis »La traviata« gesprochen.

Zweifelsohne zählt Dieter Dorn zu den großen Regisseuren unserer Zeit. Ein Seelen- und Weltensucher, der, bei allem Realitätssinn, niemals aufgegeben hat, an eine gesellschaftliche Utopie zu glauben, der aber dabei vor allem eines immer in den Mittelpunkt seiner Arbeit rückte als das Höhere, Bedeutsamere, eigentlich Relevante: den Text jener Autoren, denen er sich widmete, sei er von Shakespeare, Kleist, Brecht, Botho Strauß oder Bernhard, das Gleiche gilt für die Musik Mozarts, Verdis oder Wagners. An der Staatsoper im Schiller Theater wird Dieter Dorn in dieser Saison »La traviata« inszenieren. Zum Gespräch über seine Theaterarbeit empfängt er — was eine Seltenheit ist, da Dorn Privates und Arbeit stets strikt voneinander getrennt hat — in seiner Münchner Wohnung. Auf dem großen Tisch im Arbeitszimmer steht, en miniature, das [wunderbar archaische] Bühnenbild zu Verdis Oper. Daneben liegt aufgeschlagen ein Bildband, der tags zuvor in der Bayrischen Akademie der Künste vorgestellt wurde. Der Band versammelt Arbeiten des Bühnenbildners Jürgen Rose, mit dem Dorn seit nunmehr 38 Jahren ein unverwechselbares Gespann bildet, zuletzt im weithin beachteten Genfer »Ring«; er trägt den Titel »Nichts ist so lebensfüllend wie das Theater«.

Ein schöner Titel. Poetischer kann man das, was Sie machen, wohl kaum beschreiben.
Ja, auf jeden Fall. Schon eindrucksvoll, so ein Leben im und für das Theater.

Die französisch-amerikanische Bildhauerin Louise Bourgeois hat einmal gesagt, in der Kunst ginge es nicht um die Kunst, sondern ums Leben. Stimmen Sie ihr zu?
Ja, dem würde ich zustimmen, vor allem dann, wenn man den Rose-Ausspruch in der Schleppe hat. Aber nun würde ich auch sagen, dass Theater ja keine Kunst ist, sondern im alleräußersten Fall eine Kunstanstrengung, die in die Richtung von Kunst gehen kann.

Frei nach Becketts berühmtem Wort vom »Besser scheitern«?
Das größte Faszinosum ist für mich der spielende Mensch, wie ihn Schiller beschrieben hat. Und das ist unglaublich. Da ist der leere Raum, mit Menschen darin, die vor Menschen spielen: Das ist das Wunder. Und dann gibt es, wie bei einer guten Suppe, ganz viele Zutaten, die das entweder schöner und größer machen oder es, und das geschieht leider sehr oft, verderben. Es ist das Lebensfüllendste, da hat Jürgen Rose mit seinem Titel Recht. Und wenn man das Kunst nennt, ist es doch der faszinierende Versuch, an den Menschen, an sich selber irgendwie heranzukommen.

Selbsterkenntnis ist ja, wenn wir an Kleist denken, nicht ganz so einfach.
 [lacht] Wohl wahr.

Aber Theater kann ganz einfach funktionieren. Sie kennen gewiss die »Sturm«-Inszenierung von Peter Brook. Da gab es nichts als einen Teppich. Und Menschen, die für andere Menschen spielten. Mehr benötigt man anscheinend nicht zum Glück. Ist das auch ihr Ideal?
Ja, das ist es. Und viele Jahre haben wir in diese Richtung gearbeitet, allerdings nicht ganz so konsequent und welttheaterhaft. Ich bin ein Anhänger der Polis. Das Theater muss für d ie Stadt arbeiten, von der es bezahlt wird und in der es lebt, in der die Schauspieler leben, und in der das Instrument ruht. Das ist auch der Grund, warum ich, was das Theater angeht, immer ein sehr treuer Mensch gewesen bin und seit 1976 ununterbrochen in München arbeite. Und zwar nicht aus Faulheit, sondern aus Überzeugung.

Vertrauen entsteht durch Kontinuität?
Ja, auch mit dem Ensemble. Das gibt es ja heute nicht mehr: dass man den Versuch unternimmt, ein Ensemble mit einem Repertoiretheater auszubauen, wo die einzelnen Stücke oft mehr als ein Jahrzehnt lang im Spielplan sind und ein Stück das andere ergänzt, sich auf dieses Stück bezieht, Widerspruch dagegen einlegt, kurzum: wo eine Dialektik entsteht, und nicht eine ziellose Abfolge einzelner Stücke. Und wo man auch den Weg der Schauspieler sehen kann, weil sie diese Stücke über viele, viele Jahre spielen. Das war unser Ideal. Und sowohl in den Kammerspielen, als auch die zehn Jahre noch im Residenztheater, wo wir nach dem Rauswurf aus den Kammerspielen landeten, haben wir es geschafft, dieses Ideal zu realisieren.

»Ich sag Dir, wie es wird.« Dieter Dorn im Gespräch mit Tom Fox, dem Darsteller des Wotan im Genfer Ring.
»Ich sag Dir, wie es wird.« Dieter Dorn
im Gespräch mit Tom Fox, dem Darsteller
des Wotan im Genfer Ring.

In Ihrer Autobiographie schwingt ein bisschen Wehmut darüber mit, dass man sie 2001 etwas rustikal aus dem Amt entfernt hat.
Das ist keine Wehmut, dahinter verbirgt sich richtige Wut, vor allem wegen der scheinheiligen Begründung, die man seinerzeit für meine Demission gefunden hatte. Aber heute kann ich schon ein bisschen darüber lächeln, dass in der Stadt das Wort die Runde machte, demzufolge der Verantwortliche für mein Ausscheiden bei den Kammerspielen das »bestangezogene Stück Seife in dieser Stadt« sei, wie ich das, etwas überspitzt, damals in einem Spiegel-Interview gesagt habe. Gleichviel: Dieses Ende war nicht schön. Und es war auch ganz und gar unnötig, weil die Kammerspiele wirklich blühten. Wir mussten sogar potentielle Abonnenten vertrösten, und dann gab es ja noch diejenigen, die am stolzesten waren, wenn sie ihr Abonnement vererben konnten. Das zu beenden, in einer Mischung aus Politik, Gemeinheit und Dummheit, war ein starker Eingriff. Leider half es auch nichts, dass uns Peter Sloterdijk zur Seite stand — mit einem fulminanten Beitrag in der Süddeutschen Zeitung, in dem er die duodezfürstenhafte Haltung der Kulturpolitik dem Theater gegenüber beschrieb. Aber genützt hat das natürlich nicht. Tja, und dann, kam, wie aus dem Nichts, das Wunder, und zwar in Gestalt von Kulturminister Zehetmair, der mich bat, das Residenztheater zu übernehmen.

Sie haben auch dort auf ihr lebenslanges Prinzip gesetzt, auf Kontinuität durch Vertrauen. Ist es vielleicht so, dass Freiheit auch im Theater erst durch Bindung entsteht, also gewissermaßen dialektisch? Und dadurch, dass, im Schillerschen Sinne, der Mensch erst Mensch wird, wo er spielt?
Ja, das würde ich sagen. Das ist kein Programm. Das hat sich entwickelt. Wir hatten uns viel zu sagen. Und so sind wir diesen Weg Stück für Stück weiter gegangen. Je mehr man weiß, je größer das Vertrauen ist, umso freier kann man miteinander umgehen, und umso weniger muss man spielen und so tun, als ob man es wüsste. Für den Regisseur ist es ungeheuer wichtig, dass man die Ohnmacht einem großen Text oder einer großen Partitur gegenüber, diesen weißen Stellen, zulassen und sie sich zugestehen kann, und dass man darauf hoffen darf, dass die gemeinsame Arbeit einen Weg bereitet, das in dieser oder jener Art und Weise zu lösen. Da entsteht dann jeden Morgen aufs Neue eine ganz ungeheure Freiheit in der handwerklichen Arbeit, erst für das eine Projekt, dann aber auch für die Dauer, von Stück zu Stück.

Damit steht ihr Ideal eines Theaters der Kontinuität ja im Grunde diametral demjenigen des postdramatischen Theaters entgegen, das den performativen, autobiographisch-individualistischen Aspekt, wie wir es einmal nennen wollen, sehr stark betont und letztlich das Gegenteil von Kontinuität sucht: die Evidenz des Augenblicks, die manchmal eben auch nur eine Evidenz der show, des events, ist. Chris Dercon, der designierte Intendant der Volksbühne Berlin, kommt aus dieser Richtung, zudem ist er ein Mensch, der sich bislang hauptsächlich mit der Kunst auseinander gesetzt hat. Kurz gefragt: Ist das für das Theater gut?
Es ist so, dass das Instrument Theater — und die Volksbühne ist ein solches Instrument, zudem mit einer großen Tradition — dass dieses Theater dann als eine Forschungsstätte für den Menschen mit möglichst immer einem gleichen oder zu ergänzenden Personal verloren wäre. Und es ist eines der vielen und jetzt herausgehobenen Beispiele dafür, dass man ein Theater zu einem multikulturellen Veranstaltungsraum macht, in dem es zwar noch einige Schauspieler gibt, wohin man aber aus der ganzen Welt die Produktionen holt. Das können Sie mit einer zunächst vom Ort ausgehenden Truppe ganz schwer konterkarieren. Was wollen Sie mit dem leeren Raum Theater und dem Teppich machen, wenn in diesem Theater die besten Sachen und diese Mischformen mit der Bildenden Kunst und anderen Disziplinen veranstaltet werden? Das muss sich doch entwickeln! Selbst Peter Brook hat für diese Erkenntnis sein halbes Leben benötigt. Was ich damit sagen möchte: Der Raum ist verloren — und die Geduld womöglich auch, denn Sie können sich immer alles einkaufen. An den Münchner Kammerspielen ist das ja nicht anders. Das ist ein ganz schwieriger Prozess, und das missversteht auch Brooks Begriff vom Welttheater. Bei Brook haben natürlich Afrikaner und Europäer und Japaner miteinander gespielt, aber trotzdem versucht, den leeren Raum zu füllen. Das ist etwas anderes als das, was heute mit dem Welttheater gemeint ist. Die Identifikation mit dem Raum geht verloren. Man geht in einen etwas komplizierteren Ausstellungsraum. Und das ist im Grunde auch das Ende des oft so geschmähten Stadttheaters. Denn die Städte, die sich ein solches Institut nur noch mit Mühe leisten können, nehmen das auch als Beispiel. Und das ist das Gefährliche. Mit einem Wort: Ich weiß nicht, wohin das führt. Doch die Theaterleute haben diese Entwicklung zum Teil selbst mit eingeläutet, durch ihre Ästhetik, den Medien hinterher zu rennen, ihre eigene Palette in die Rumpelkammer zu stellen und dann zu versuchen, das zu überbieten, was die großen Blockbuster machen können. Aber sie haben das technische Instrumentarium ja nicht, so dass es eher hilflos wirkt gegen eine Supershow im Olympiagelände mit irgendwelchen Superbands. Die Bilderwelten sind dort so toll, dass ein Video im Theater nur armselig dagegen wirken kann. Ich bin durchaus der Meinung, dass es schon genügend dem Theater entfremdete Räume gibt, und dass wir die Räume, in denen Theater gespielt wird, unbedingt schützen sollten.

Macht es Sinn, das aus der Position eines großen Theatermannes öffentlich anzumahnen?
Ich glaube, nicht. Ich empfand es als junger Theatermacher auch als Gängelung, als ich versucht habe, meinen eigenen Weg auf dem Theater zu gehen, erst als Schauspieler, dann als Regisseur. Die Ratschläge der Älteren klangen damals in meinen Ohren häufig so, dass ich dachte: Die haben mich einfach nicht richtig verstanden. Es ist eine andere Generation, die sollen das versuchen. Was nur klar ist: Wenn man nicht über genügend Produktionsmittel verfügt, dann geht es nicht.

»Die Erinnerungen sind gewaltig. Aber die einzige Möglichkeit, dagegen anzugehen, ist, das nächste Stück zu machen.«

In Ihrer Zeit am Schiller Theater war das ja kein Problem. Boleslaw Barlog hatte dort rund einhundert, zum Teil sehr prominente Schauspieler versammelt, gewissermaßen als eine Bastion gegen das Ost-Berliner Theater. Was mich aber besonders interessiert: Sind Sie Samuel Beckett begegnet, der seinerzeit am Schiller Theater inszenierte?
Ja, denn ich bin ihm, weil ich enorm fasziniert von ihm war, immer nachgegangen. Ich war damals so eine Art verdeckter Oberspielleiter. Und es ist etwas ganz Merkwürdiges, wenn man dieses altehrwürdige Theater heute betritt. Man muss aufpassen, dass man kein Museumsgefühl kriegt, weil das bedeuten würde, dass man in einem Museum inszeniert. Ich nenne es immer »Theatergruft«, weil ich sage. Ein Theater muss spielen, sonst existiert es nicht. Wesentlicher aber ist: Da kommen ungeheure Erinnerungen. Wie in dem Bildband von Rose [schlägt eine Seite auf, die eine Fotografie von 1991 zeigt , auf der etliche seiner Schauspieler versammelt sind]: Und das hängt mit Berlin, mit Hans Lietzau zusammen, dem ich ja die ganzen Schauspieler weggenommen habe, mit denen ich in Berlin gearbeitet hatte; alle 36 Schauspieler sind mir nach München gefolgt. Das war ein bisschen so wie der Auszug der Kinder aus Israel. Jetzt will ich Ihnen mal sagen, was das bedeutet [zeigt nacheinander auf die einzelnen Schauspieler] schwerkrank, tot, tot, schwerkrank, tot, tot, tot, tot, [er deutet auf Axel Milberg, den man heut e in erster Linie als Tatort-Kommissar kennt] berühmt [deutet auf die nächsten], tot, tot. So, das ist es.

Gibt es einen Verlust, der mehr schmerzt als die vielen anderen?
Da würde ich keine Nummerierung vornehmen, weil wir so gearbeitet haben, wie es meine Philosophie vorsah: dass nämlich der kleinste Schauspieler stets der wichtigste ist. Der bestimmt das Niveau. Mit diesen Schauspielern habe ich, und wenn es nur kleine Auftritte, genauso viele Versuche unternommen wie beispielsweise mit dem Rolf Boysen und der Gisela Stein. Auch diese beiden bedeutenden Schauspieler haben kleinere Rollen gespielt. Das war unser Prinzip, demzufolge auch die Chargen, die man heute ja gemeinhin so belächelt, weil der Begriff negativ konnotiert ist und damit missverstanden wird, sehr wichtige Arbeit verrichtet haben. Und was noch wichtiger ist: Wir sind uns immer alle auf der gleichen Ebene begegnet.

Das klingt fast ein bisschen traurig, weil es das nicht mehr gibt.
Das ist es auch. Die Erinnerungen sind gewaltig. Aber die einzige Möglichkeit, dagegen anzugehen, ist, das nächste Stück zu machen.

So darf man dann wohl auch den Titel ihrer Autobiographie verstehen, der ja ein Imperativ ist: »Spielt weiter!«
Ja, weil es ja keinen Sinn hat, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Und gerade deswegen komme ich auch mit einem leicht mulmigen Gefühl nach Berlin. Das war schon ein sehr einschneidender Moment, als sämtliche Schauspieler mit mir aus diesem Theater und aus dieser Stadt weggingen.

Sie leben seit über 40 Jahren als Sachse in München. Welche Identität überwiegt?
Das kann ich gar nicht sagen, weil ich immer schon eine große Verbindung zwischen beiden gesehen habe. Gewisse Mentalitäten sind sich sehr ähnlich, [sächselt jetzt] wenn auch auf ganz anderen Gebieten als auf dem rein sprachlichen.

Sachsen hin, München her, es gibt eine Lücke in Ihrem reichen Theaterleben, und die heißt Anton Tschechow. Sie haben nicht ein einziges Stück von ihm inszeniert. Warum nicht?
Oh, das ist eine lange Geschichte. Ich habe in Leipzig auf der Theaterhochschule Seminare über die wunderbaren Stücke von Ostrowskij belegt und bin in dem Zusammenhang natürlich auch den Stücken Tschechows begegnet. Ich fand ihn einen ungeheuren Autor. Weder während meiner Zeit an der Landesbühne Hannover, mit lauter jungen Schauspielern, noch in Essen und in Oberhausen, in dem Selbstbestimmungsversuch, der auch eher komische als ernsthafte Züge trug, hatte ich die Schauspieler, die das konnten. Also haben wir uns anderen theatralen Gegenständen gewidmet. In Berlin, am Schiller Theater, wollte Helmut Griem nicht den Astrov spielen, weil er dafür nach eigenem Empfinden zu alt war, und in Hamburg, wo ich dann auf die besten Schauspieler meiner Zeit traf, gab es andere Regisseure, die ich bewunderte für ihren Tschechow: Peter Zadek, Luc Bondy und Jürgen Flimm. Das alles beeindruckte mich so nachhaltig, dass ich schließlich von meinem Vorhaben zurücktrat. Und in dieser Weise ging es so lange weiter, bis es zu spät war, Tschechow zu inszenieren.

Das bedeutet, auf eine Tschechow- Inszenierung von Dieter Dorn müssen wir vergebens weiter hoffen?

Ich fürchte, ja.


Das Interview führte Jürgen Otten. Diesen Beitrag findet ihr auch in »Staatsoper – Das Magazin No. 3«.

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.