»… der große geistige Aufschwung in die Utopie«

Fidelio - Foto: Bernd Uhlig

Gedanken zu Beethovens »Fidelio« von Harry Kupfer – aus einem Gespräch zu Beginn der Proben im Schiller Theater, Ende August 2016

Das Stück geht auf eine wahre Begebenheit während der französischen Revolution zurück. Nur dass die Frau, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreit hat, sich nicht in einen Mann verwandelt hat. Schon vor Beethoven wurden Opern darüber geschrieben, aus politischen Gründen wurde das Geschehen aber von Frankreich nach Spanien verlegt.

Beethoven hat sich diesem Stoff aus sehr individuellen Gründen angenähert. Die Leonoren-Figur war so etwas wie seine geheime Sehnsucht. Er hatte ja durchaus viele Beziehungen zu Frauen, aber nie das Glück, eine Partnerschaft zu finden, die er sich erträumt hat. Diese hat er sich als Ideal erträumt im Ideal und in der Figur der Leonore gefunden.

Fidelio - Foto: Bernd Uhlig
Falk Struckmann (Don PIzarro), Camilla Nylund (Leonore) und Andreas Schager (Florestan) während der Proben im Schiller Theater

Beethoven hat fast neun Jahre an seiner Oper gearbeitet. Man weiß nicht, wie er gerungen hat. Der Misserfolg der ersten Aufführung 1805, die zur Zeit der französischen Besatzung stattfand, hat ihn dazu bewogen, aus der dreiaktigen Oper eine zweiaktige zu machen. Aber auch die zweite Fassung war noch nicht das, was wir heute unter der Oper »Fidelio« verstehen: Es fehlte noch der große geistige Aufschwung in die Utopie. Das ist ihm erst in der letzten Fassung von 1814 mit dem großen Finale, das beinahe an die 9. Sinfonie erinnert, gelungen.

Diese Entwicklung ist stufenweise vorangegangen. Beethoven war ein politisch denkender Mensch. Das wird z. B. dadurch deutlich, dass er die Musik der Kantate, die er anlässlich des Todes von Kaiser Joseph II. geschrieben hatte, für das Opernfinale direkt übernommen hat, für den Moment der Kettenabnahme. In der bereits 1790 entstandenen Kantate heißt der Text: »So stiegen die Menschen ans Licht!« Beethoven war ein Mensch, der im realen Leben stand und politisch dachte. Das alles ist in die Arbeit am »Fidelio« mit eingeflossen.

Dass die Oper als Spieloper beginnt und dann über die große heroische Oper in ein Oratorium endet, ist eine falsche Annahme. Man muss vielmehr vom Inhaltlichen ausgehen. Beethoven war ein kompromissloser Mensch. Das beweist Takt für Takt seine Musik und seine musikalische Entwicklung. Er hat nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wie man Opern nach festen Schemata komponiert. Er hat jede Situation so gestaltet, wie sie ihm inhaltlich notwendig erschien. Da gibt es die kleine, banale, zugleich fürchterliche Welt im Gefängnis: Der Vater, Rocco, mit seiner Tochter, ohne Mutter. Und in dieser bedrückten Atmosphäre spielen sich private Dinge ab: Es entstehen Liebesbeziehungen. Und genau so hat er die Beziehung von Jaquino und Marzelline komponiert, das heißt, es hat mit dem Beginn als Spieloper nichts zu tun, sondern ist allein von der Situation, in denen sich die Figuren befinden, her gedacht. Die Marzellinen-Arie beinhaltet Sehnsüchte eines jungen Mädchens, das im Gefängnis leben muss, das als Normalität betrachtet und dennoch Sehnsüchte hat. Da sind schon Töne und Anklänge enthalten, die an die große Leonoren-Arie erinnern. Und das Quartett sprengt ohnehin alles in die Luft!

Die vorgegebenen Formen interessieren Beethoven nicht ‒ und so schreibt er ein fast oratorisches erstes Finale, diesen grandiosen Gefangenenchor, dazu das kurze, aber sehr markante Duett zwischen Rocco und Leonore. Auch das Melodram im zweiten Akt ist ein ungewöhnliches Gestaltungsmittel, ebenso die Szene zwischen Rocco, Leonore und dem fast verendenden Florestan, die zum Höhepunkt der gesamten Opernliteratur gehört.

Beethoven war Realist. Er wusste genau, dass er keine große Freiheitsoper schreiben wollte, und so werden am Schluss auch nicht alle Gefangenen befreit. Folgt man dem Libretto, wird allein Florestan die Freiheit gegeben, die anderen Fälle werden, laut dem Minister, erst untersucht. Leonore wird belohnt durch die Befreiung des zu Unrecht aus politischen Gründen gefangen gehaltenen Florestan, die anderen bleiben jedoch vorerst im Gefängnis. Der Jubel gilt der Tat Leonores und der Liebe. Die ganze Oper ist keine Befreiungsoper, sondern eine Oper über die Menschenliebe, die weit über Sexualität hinausgeht.

Fidelio - Foto: Bernd Uhlig
Camilla Nylund (Leonore), Evelin Novak (Marzelline), Matti Salminen (Rocco) und Florian Hoffmann (Jaquino)

Beethoven hat genaue musikalische Charakterisierungen bei den Figuren vorgenommen. Leonore möchte wissen, ob es ihr Mann ist, der eingekerkert ist. Bevor sie aber Gewissheit hat, dass es wirklich Florestan ist, muss sie entdecken, dass dort jemand verendet, der ermordet werden soll und beschließt: »Wer du auch seist, ich will dich retten!« Sie gibt ihren ursprünglichen Plan, der aus ihrer privaten Beziehung, aus ihrer Liebe zu Florestan heraus geboren ist, zugunsten eines ihr noch völlig unbekannten Menschen auf. Das ist schon sehr bemerkenswert.

Rocco ist die Schlüsselfigur des ganzen Stückes. Er ist derjenige, der aus persönlicher Haltung, Not, bereit ist, alles zu tun. Er macht Geschäfte. Er geht sogar so weit, und das ist gefährlich, dass er als Befehlsempfänger die Anweisungen Don Pizarros ernst nimmt und den Gefangenen systematisch und sukzessive tötet. Er weigert sich jedoch, den Gefangenen direkt umzubringen. Rocco ist eine typische und zeitlose Figur. Leider sind diese Zustände in unserer Welt immer noch nicht vorbei. Es gibt immer Leute, die dergleichen ausführen und sich ein Hintertürchen offen lassen. Sinngemäß sagt Rocco: »Ich töte nicht, aber das Grab werde ich graben. Im Tod wird ihm besser sein.« Diese Differenzierung kann man in den Duetten und Terzetten musikalisch sehr genau verfolgen, so auch in der »Gold-Arie«, die leider in vielen Produktionen gestrichen wird. Rocco besitzt Lebenserfahrung ‒ er weiß, was Armut bedeutet und wie wichtig es ist, nebenbei etwas Geld zu verdienen. Das gipfelt in dem Satz: »Und Macht und Liebe verschafft dir das Gold!«

Unbedingt erschien es mir notwendig, die gesprochenen Dialoge in ihrem originalen Duktus mit einzubeziehen. Nur auf diese Weise ist es möglich, das Stück zu verstehen, nur dadurch werden die Figuren richtig charakterisiert. Wir haben die Dialoge zwar gekürzt, z. B. sogar stark, aber nicht umgeschrieben.

Wie bekommt man nun diese merkwürdige musikalische Formenmischung, die Beethoven aus inhaltlichen Gründen vorgenommen hat, in einen Guss? Eine Gemeinschaft von jungen Künstlern mit ihren Dozenten beschließt, dieses Stück zu untersuchen und in einer improvisierten Handlung zu interpretieren. Und so wird aus diesem Stück, fernab jeglicher Gefängnisromantisierung, ein geistiger Vorgang, der sich mit dem Stück und den Figuren auseinandersetzt. Auf diese Weise eröffnet sich auch die Möglichkeit der Utopie am Schluss. Denn was der Minister am Ende sagt, ist reine Utopie ‒ das sind die Gedanken von Beethoven, dem großen Humanisten.

 

Ein Kommentar

  • Dirk Wilken
    schrieb am 16.12.2018 um 19:38 Uhr.

    Am 13. Dezember 2018 hat mich bei dieser szenisch und musikalisch überzeugenden Aufführung der Beginn gestört, nämlich die Wahl der Ouvertüre. Für mich gibt es keinen überzeugenden Grund, die von Beethoven für die Fassung von 1814 geschriebene Fidelio -Ouvertüre durch die ältere 2. Leonoren zu ersetzen.

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