»Eine offene Wunde in der italienischen Geschichte«

sani-nicola_(c)_Hugues-Roussel

In dieser Woche haben die Proben zur neuen Werkstatt-Produktion »Falcone« begonnen, die am 28. April Premiere hat. Die Kammeroper erzählt den letzten Tag im Leben des berühmten italienischen Mafia-Richters, der 1992 einem Attentat zum Opfer fiel. Wir trafen den Komponisten Nicola Sani, der die Proben vor Ort begleitet. 

Wie kamen Sie auf die Idee, die Geschichte um Giovanni Falcone, der Symbolfigur im Kampf gegen die Mafia, in einer Oper zu verarbeiten?
Die Idee entstand in Zusammenarbeit von mir und Franco Ripa di Meana. Wir gehören beide einer Strömung von Künstlern an, die sich nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch engagieren. Es gab in den 60er- und 70er-Jahren eine sehr starke Bewegung in Italien, die sich für diese Verbindung von Kunst und Politik einsetzte und wir wollten in unserem Stück eine Brücke zu dieser Idee schlagen.
Für uns ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Wirklichkeit sehr wichtig. Wir wollen die Wirklichkeit ins Zentrum unseres kreativen Prozesses setzen, denn so hat unsere Arbeit nicht nur einen Sinn für uns, sondern auch für die Gesellschaft.
Bei diesen Überlegungen sind wir irgendwann auf Giovanni Falcone gestoßen. Er war jemand, der eine Veränderung angestrebt hat. Damit meine ich keinen politischen Wechsel, sondern einen gesellschaftlichen. Sein Ziel war ein Land, das nicht mehr unter der Kontrolle der Kriminalität steht. Das Attentat auf Falcone am 23. Mai 1992 war ein Schock für das ganze Land, der immer noch Nachwirkungen zeigt. All das hat Franco Ripa di Meana und mich motiviert, ein Musiktheater über unsere Zeit, unsere Geschichte, zu schreiben, basierend auf der Figur Falcone.

» Heute, nach 25 Jahren, sind immer noch viele Fragen offen.«

Was für ein Mensch war Giovanni Falcone? Was wollten Sie in der Oper über ihn erzählen?
Falcone eignet sich gut als Protagonist einer Oper – er hat alle Charaktereigenschaften einer Figur aus einer Verdi-Oper. Man könnte ihn als »verlorenen Helden« bezeichnen, der sein ganzes Leben der Verbesserung der Gesellschaft gewidmet hat. Falcone war und ist immer noch eine sehr bedeutsame Figur. Er war der Erste, der entdeckt hat, wie das komplexe System der Mafia organisiert war. Es gibt in der Oper eine sehr symbolische Dimension. Das hat mit der Sprache der Mafia zu tun, denn die ist sehr symbolisch. Es gibt ganz kleine Nuancen, die eine sehr große Bedeutung haben. Falcone wusste das, er kannte diese Sprache sehr gut. Er war der Erste und der Einzige, der je direkt mit den Mafiosi sprechen konnte. Er hat erreicht, dass sich Tommaso Buscetta damals im Maxiprozess als Kronzeuge zur Verfügung stellte. Was wir heute über die Organisation und die Struktur der Mafia wissen, wissen wir dank seiner Arbeit – es ist sein Verdienst.
Gleichzeitig war er auch eine sehr tragische Figur. Er hat gegen die politischen Machtgefüge gekämpft und war bis zu seiner Ermordung immer stärker isoliert. Heute, nach 25 Jahren, sind immer noch viele Fragen offen. Deshalb ist diese Neuproduktion hier in Berlin unglaublich bedeutungsvoll, denn wir sind heute an einem Punkt angekommen, an dem es wichtig ist, in der Geschichte zurückzugehen und sich zu fragen »Wo sind wir heute? Haben wir vollendet, wofür Falcone sich geopfert hat?«

Die Oper ist dokumentarisch angelegt – was genau bedeutet das?
Das Libretto besteht ausschließlich aus echten, historischen Dokumenten aus der Zeit Falcones. Es gibt kein einziges Wort, das hinzuerfunden wurde. All diese Dokumente zusammenzutragen, war eine große Aufgabe. Wir sind die Mafia-Prozesse durchgegangen und haben uns durch eine Flut von Interviews, Zeitungen, Büchern, Briefen und Artikeln gearbeitet. Franco Ripa di Meana hat dann all diese Materialien organisiert und ein Libretto geschrieben, bei der Produktion in Italien hat er auch die Regie übernommen. Das Dokumentarische bildet die eine Seite des Stücks, andererseits will die Oper keine Falcone-Biographie sein, sondern mit Bezug auf sein Leben die Rolle schildern, die er im Kampf gegen die Mafia eingenommen hat. So endet die Oper auch nicht mit dem Attentat, vielmehr ist sich unsere Falcone-Figur – wie der echte – über ihr tragisches und gewaltsames Ende von Anfang an im Klaren. Die Bombe, mit der das Attentat begangen wurde, schwebt gewissermaßen über dem ganzen Stück.
Bei der Neuproduktion hier an der Staatsoper gibt es zum ersten Mal einen anderen Regisseur, Benjamin Korn. Und es gibt noch eine weitere Neuerung: Das Libretto wurde auf Deutsch übersetzt. Ich denke, das ist sinnvoll und auch notwendig, weil es eine Oper ist, bei der der Text sehr klar und verständlich sein soll.

» Ich wollte bei dieser Oper eine Musiksprache finden, die das in ihr verarbeitete Zeitdokument erklingen lässt.«

Welche Herausforderungen gab es beim Komponieren?
Insgesamt war das Komponieren eine große Herausforderung. Als Komponist gehöre ich einer Strömung der Experimentalmusik an, die die Verbindung von Musik und Technologie sucht. Ich war Schüler von Karlheinz Stockhausen und habe unter anderem zusammen mit Domenico Guaccero studiert. Ich wollte bei dieser Oper eine Musiksprache finden, die das in ihr verarbeitete Zeitdokument erklingen lässt. Ich wollte, dass der Text klar und verständlich ist, dass er gesungen wird, aber ohne ein traditionelles Konzept von Melodie. Ich habe bei früheren Opern häufig experimentell mit dem Text gearbeitet und die Worte als Klangkonzept benutzt, aber bei »Falcone« ist das ganz anders: Ich habe mich entschieden, einen Gesang einzuarbeiten, der auch Rezitationselemente enthält. Auch der Rhythmus spielt eine große Rolle – als Einfluss diente hier die gemeinsame Musiktheater-Arbeit von Bertolt Brecht und Hanns Eisler. Die Grundidee war, aus Rhythmus, Rezitation und Gesang verschiedene Ebenen zu kreieren. Man kann sich das wirklich visuell vorstellen: Jede Stimme gleicht einer Linie, die mal für sich steht, mal einer anderen folgt und mal auch eine andere überlappt. Es gibt keine Variationen und keine artifiziellen Elemente – das muss ganz klar und trocken sein. Für die drei Sänger und die beiden Schauspieler ist das nicht leicht. Sie müssen sich permanent unter Kontrolle haben, sie dürfen kein Wort dem Zufall überlassen.
Die gesangliche Ebene war für mich wirklich eine Herausforderung, denn sie ist anders als meine früheren Arbeiten. Die instrumentale und elektroakustische Arbeit in »Falcone« geht in die gleiche Richtung wie meine anderen Werke. In diesem Bereich sind für mich Klangfarbe und Raum wichtige Dimensionen. Die räumliche Konstruktion des Klangspektrums ist ein zentraler Aspekt meiner musikalischen Suche.
Das Kombinieren all dieser Elemente war sehr schwierig. Darüber hinaus wollte ich natürlich auch, dass Falcone mit seiner Persönlichkeit, seinem Charakter, seinem Wesen präsent ist. Er war zum Beispiel sehr ironisch und manchmal sarkastisch. Auch das wollte ich transportieren. Damals bei der Uraufführung war Maria Falcone, die Schwester von Giovanni Falcone, anwesend. Nach der Vorstellung kam sie zu mir, umarmte mich und sagte: »Sie haben alles verstanden! Wie haben Sie das nur gemacht?« Das hat mich sehr gefreut, denn das bedeutete, dass wir es geschafft hatten, eine ganz intime Atmosphäre zu erzeugen.

Wie sind die Rollen in »Falcone« konzipiert und wie ist die Bühnensituation?
Bei »Falcone« gibt es nur männliche Charaktere auf der Bühne und darunter auch nur tiefe Stimmen, also Bariton und Bass. Warum? Weil ich eine dunkle, graue Welt darstellen wollte, eine Welt ohne Luft, in der alles geschlossen ist – wie das Leben von Falcone. Er lebte wie in einem Gefängnis, immer in geschlossenen Räumen und mit seinen Bodyguards um ihn herum. Genauso ist die Welt der Mafia natürlich auch eine dunkle und geschlossene.
Falcones Frau Francesca Morvillo ist als Figur nicht auf der Bühne anwesend, aber sie wird repräsentiert durch ein Frauenquartett, dessen Stimmen man hört, das jedoch nicht sichtbar ist. Es ist quasi eine kollektive Figur, wie ein griechischer Chor, wie die Idee einer Metapher der Frau. Das ist sehr wichtig, denn Francesca war wie ein Engel neben Falcone. Sie hat entschieden, mit ihm zu sterben. Sie wollte alles mit ihm teilen bis zum letzten Moment. Gleichzeitig fungiert der Chor auch als Zeuge vom Tatort kurz nach dem Attentat. Wie bei einem Polizeibericht oder einer Bestandsaufnahme, zählt er alles auf, was am Tatort nach der Explosion der Bombe gefunden wurde.
Falcone ist schließlich die einzige Figur, die das ganze Stück über von einem Sänger verkörpert wird. Alle anderen wechseln ihre Rollen und repräsentieren unterschiedliche Stimmen der Zeit – Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Bürger, Freunde und Feinde. Das Stück spielt während des letzten Flugs Falcones von Rom nach Palermo, wenige Stunden vor seiner Ermordung. Während dieses Fluges erleben wir in Flashbacks verschiedene Momente aus dem Leben Falcones.

»Man kann sich die Atmosphäre, die damals herrschte, heute kaum vorstellen.«

Inwiefern ist die Geschichte um Falcone noch heute ein Thema im Bewusstsein der italienischen Bevölkerung?
Es ist ein wirklich großes Thema! Der Bruder von Sergio Mattarella, des derzeitigen italienischen Präsidenten, wurde von der Mafia getötet. Gerade gestern war in der Repubblica wieder ein großer Artikel über seine Appelle gegen die Mafia, es ist ein ganz präsentes Thema.
Wir beide, Franco Ripa di Meana und ich, erinnern uns noch genau, wo wir am 23. Mai 1992 waren, als sich die Nachricht vom Attentat auf Falcone verbreitete. Ich saß gerade an einer meiner ersten Musiktheater-Arbeiten, »Frammenti sull’Apocalisse«, zusammen mit dem sizilianischen Schriftsteller Roberto Andò. In Italien ist es ganz üblich, dass man weiß, wo man war, als man diese Nachricht bekommen hat. Das ist ein bisschen vergleichbar mit 9/11. Für uns und für unsere ganze Generation war es ein riesiger Schock und es traf uns völlig unvorbereitet. Man kann sich die Atmosphäre, die damals herrschte, heute kaum vorstellen. Plötzlich war Palermo unter Militärkontrolle, die Stimmung war schwer und die Leute waren ganz verstört und wütend, weil sie dachten, dass sich der Kampf gegen die Kriminalität mit Falcone grundlegend geändert hatte. Es gab noch Augenzeugenberichte im Fernsehen – daran kann ich mich gut erinnern.
Jetzt, zum 25. Jahrestag des Attentats, wird alles wieder an die Oberfläche kommen. Der Krieg gegen die Mafia ist noch lange nicht aufgearbeitet. Falcone ist immer noch eine offene Wunde in der italienischen Geschichte.

Das Gespräch führte Leonie Stumpfögger 

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