FREIHEIT, SCHRANKENLOSER GÖTTERFUNKE

Daniel Barenboim beim Jubilmäumskonzert zum Fall der Berliner Mauer 2014 - Foto: Bundesregierung / Bergmann

Daniel Barenboim über »Die Meistersinger von Nürnberg« von Richard Wagner. 

Wir beginnen die Spielzeit 2015/2016 mit einer Neuproduktion von Richard Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg«, einem Werk, das ich oftmals und in verschiedenen Inszenierungen dirigiert habe, und das ich aus einem ganz bestimmten Grund für diese Saisoneröffnung am 3. Oktober 2015 ausgesucht habe.

An diesem Tag feiern wir in Deutschland den 25. Jahrestag der Deutschen Einheit. Seit Beginn meiner Amtszeit als Generalmusikdirektor an der Staatsoper vor ebenfalls fast 25 Jahren hat das Thema der deutschen Wiedervereinigung für unsere Arbeit in der Staatsoper eine große Rolle gespielt. Von Anfang an arbeiteten Mitarbeiter sowohl aus dem ehemaligen »Ost-Deutschland« als auch aus »West-Deutschland« Seite an Seite miteinander — sei es in der Staatskapelle Berlin, dem Chor, der Technik oder in der Verwaltung. Über die letzten 25 Jahre hinweg hat die Staatsoper alle Herausforderungen gemeistert und gezeigt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands wirklich stattgefunden hat. Wir sind glücklich und stolz darüber, an der Staatsoper die gesamte Bandbreite der deutschen Musiktheatertraditionen zu pflegen und kontinuierlich zu erneuern.

Zu diesem Verständnis der Staatsoper und ihrem kulturellen wie gesellschaftlichem Auftrag passen Wagners »Meistersinger« als Stück nur zu gut. Denn »Die Meistersinger von Nürnberg« ist in erster Linie eine Oper über deutsche Kunst und Kultur und deren Vielfalt. Historische Vorlage für die Hauptfigur des Werkes war Hans Sachs, ein Schuster sowie überaus beliebter und produktiver Dichter, der über 6000 Werke schuf. Bei Wagner steht Sachs gleichermaßen für Bewahrung und Erneuerung kultureller Traditionen. Seine Ansprache im letzten Akt und insbesondere sein letzter Satz haben zwar oft zu Interpretationen des Werkes als eines von nationalistischem Gedankengut charakterisierten geführt.

Dabei besagt gerade dieser letzte Satz (»Zerging in Dunst das heil’ge röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!«), dass Kunst auch über den möglichen Verfall des Nationalstaates (oder Reiches) überleben kann und wird. Wagner selbst schreibt in »Die Kunst und die Revolution« über das »Kunstwerk der Zukunft«, welches nicht einer Vormachtstellung des Nationalen folgen soll, sondern vielmehr Freiheit und Gemeinschaftlichkeit zwischen den Völkern zelebriert: »So soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen; das nationale Wesen in ihm darf nur ein Schmuck, ein Reiz individueller Mannigfaltigkeit, nicht eine hemmende Schranke sein.«

Ich betrachte »Die Meistersinger von Nürnberg« im Geiste ebendieser Wagnerschen Utopie als eine Würdigung deutscher Kultur in all ihrer Vielfalt. Der 25. Jahrestag der Deutschen Einheit ist ein wunderbarer, froher Anlass für solch eine Würdigung. Die jüngere deutsche Geschichte ist auch gezeichnet von unsäglichem Leid und Schrecken, und es ist mir wichtig, dass wir deutsche Geschichte, Kunst und Kultur — bei aller notwendigen Erinnerung und Ermahnung an diese Zeit — nicht auf diese zwölf Jahre der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft reduzieren.

Wir sehen uns heute wieder konfrontiert mit — teilweise brandgefährlichen — Debatten über die Bewahrung deutscher kultureller Werte und Traditionen. Diese sind in keinster Weise gefährdet, sondern werden, ganz im Gegenteil, bereichert durch die Öffnung gegenüber und den Austausch mit anderen Kulturen. In den »Meistersingern« lässt Wagner — selbst bekannt für seinen innovativen Geist (»Kinder, schafft Neues!«) — seinen Protagonisten Hans Sachs gemeinsam mit dem Außenseiter und Erneuerer Walter von Stolzing kämpfen für die vom Komponisten selbst formulierten Ideale der künstlerischen Freiheit und Erneuerung, dem Durchbrechen etablierter, spießiger Traditionen — nicht ohne jedoch die positiven Aspekte der gewonnen Traditionen zu schätzen und zu bewahren.

In diesem Sinne betrachte ich »Die Meistersinger von Nürnberg« nicht als Ausdruck deutschen Nationalismus sondern als Würdigung deutscher Kultur und Kunst, die ich als ungemein vielfältig und tolerant ansehe, ebenso wie die deutsche Gesellschaft.


Diesen Beitrag findet ihr auch in der Saisonvorschau 2015/2016

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