Hör- und Lesetipps Ton Koopman

Kaffee_mit_der_Dramaturgie

Beim ersten Kaffee mit der Dramaturgie widmet sich Detlef Giese ausführlich dem Bach-Kenner und Vertreter der »Early Music«-Szene Ton Koopman, der im Januar sein Debüt als Dirigent bei der Staatskapelle Berlin geben wird.

Früher, zu einer Zeit, als noch hinreichend Muße für das tägliche Orgelspiel bestand, hat mich zuweilen die Frage umgetrieben: Wenn Buxtehude in Lübeck war und Lübeck in Hamburg, war dann Hamburg in Buxtehude? Bevor aber die geneigte Leserin und der geschätzte Leser reflexartig je nach kulturellem und geographischem Hintergrund »Wieso dat denn?«, »Wos meinen’s?« oder »Wat’n ditte?« (die Nordlichter mögen indes einen gewissen Standortvorteil besitzen) ausrufen, bringe ich ein wenig Licht in dieses Rätsel, wenn auch nicht dessen Lösung, die seit vielen Jahren immer noch nicht abzeichnet: An der Lübecker Marienkirche wirkte über mehrere Dekaden hinweg sehr kunst- und segensreich der große Dieterich Buxtehude (ca. 1637-1707) als Organist und – nicht de jure, aber doch de facto – Musikdirektor, während an St. Nikolai in Hamburg der gleichfalls sehr bedeutende Vincent Lübeck (1654-1740) an einer der damals größten und prächtigsten Orgel der Welt amtete. Wäre es dann nicht vollkommen logisch, wenn zur selben Zeit in dem Städtchen Buxtehude ein Herr Hamburg seinen Dienst versehen hätte? Womöglich hat sich ein verdienter Lokalhistoriker bereits dieser Frage gewidmet, nur die Antwort ist noch nicht zu uns gedrungen. Buxtehude mit seiner Hauptkirche St. Petri – ein beeindruckendes Zeugnis der norddeutschen Backsteingotik – gibt es übrigens wirklich. Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, die Ortschaft zumindest zu streifen. Sie liegt in der Nähe von Stade am südlichen Ufer der dort schon recht ausufernden Elbe und ist, wie ich erfahren konnte, mit der Bahn zu erreichen. Allein, Buxtehude war der Weg, aber nicht das Ziel, und so blieb es nur bei einem kurzen Gedanken an diese Stadt, die den Namen des ingeniösen Meisters aus dem schönen Lübeck an der Trave trägt.

Ein anderer Meister ist weiland zwar nicht nach, aber zu Buxtehude gereist. Es ist schon ein paar Tage her, im Herbst 1705, als sich der 20-jährige Johann Sebastian Bach aus dem thüringischen Arnstadt in das ca. 400 Kilometer entfernte Lübeck machte. Ob er dem Holsten-Bier oder den hiesigen Marzipanspezialitäten zugesprochen hat, wissen wir nicht, wohl aber, dass er zehn Tage für die doch recht lange Reise benötigte. Übrigens größtenteils zu Fuß, während zwei Jahre zuvor der junge Georg Friedrich Händel gemeinsam mit seinem Compagnon Johann Mattheson von Hamburg aus die Kutsche nahmen, um einen Besuch bei Buxtehude abzustatten. Sowohl Händel als auch Bach, die schon damals ihre herausragenden Talente erkennen ließen, wurden vom alternden Dänen (unser freundlicher Nachbar im Norden hat uns nicht nur den größten Wagner-Tenor –Lauritz Melchior – und die witzigsten Kleinkriminellen –die Olsenbande – geschenkt, sondern auch einen der originellsten Komponisten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts) als mögliche Nachfolger gehandelt. Die Crux war nur, dass an die Übergabe der durchaus attraktiven Amtsgeschäfte die Heirat der nicht mehr ganz so jungen Buxtehude-Tochter Anna Margareta gekoppelt war. Weder Bach noch Händel haben sich bewegen lassen, eine solche Verbindung einzugehen – und so blieb es letztlich nur ein frommer Wunsch, den guten Dieterich samt seiner Orgel und der Tradition der berühmten »Abendmusiken« zu beerben.

Buxtehudes Musik gehört – und hoffentlich stehe ich mit dieser Meinung nicht allein – wohl zum Besten, was seinerzeit komponiert worden ist. Orgel- und Cembalowerke, dazu eine Menge Kantaten und anderes mehr bilden das beeindruckende Œuvre. In Gänze kann man es hören, wenn man zu der Einspielung der »Opera omnia« greift, die Ton Koopman im vergangenen Jahr vollendet hat. Ein nicht hoch genug zu schätzenden Unternehmen hat er damit zum Ende gebracht – ein weiterer Baustein in seinem nimmermüden Wirken als Organist, Cembalist und Dirigent. So wie einst mit Jan Peterszoon Sweelinck ein Holländer die norddeutsche Orgelschule, deren prominentester Vertreter Buxtehude ist und dessen Einfluss auf Bach immens war, begründet hat, so hat jetzt ein Musiker aus dem sportbegeisterten Land an der Nordsee neue Maßstäbe für die Interpretation von B & B (Buxtehude & Bach, das klingt beinahe wie eine Firma für Präzisionsuhrwerke) gesetzt.

Jetzt kommt Ton Koopman erstmals zur Staatskapelle Berlin. Wie selbstverständlich leitet er seit vielen Jahren nicht nur eigene und fremde Ensembles aus der »Early Music«-Szene, sondern auch die sogenannten Traditionsorchester, unter ihnen z. B. das Concertgebouworkest Amsterdam, die Berliner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und die großen amerikanischen Orchester aus New York, Boston und Chicago. Es fügt sich gut, dass er sich ein Bach-Programm für sein Debüt mit der Staatskapelle erwählt hat. Denn Bach steht wohl im Zentrum: Mir ist kein Künstler bekannt, der sich mit einem derartigen Elan und enzyklopädischen Ehrgeiz der Musik von JSB angenommen hat: Das gesamte Orgelwerk hat er ebenso aufgezeichnet wie sämtliche Kantaten (dieses Projekt allein füllt nicht weniger als 67 CD’s, man möge also ein wenig Zeit mitbringen), die oratorischen Großwerke wie die beiden Passionen, die h-Moll-Messe und das Weihnachtsoratorium sowie die Kompositionen für Orchester (u. a. die Brandenburgischen Konzerte und die Suiten). Immer sehr lebendig und pointiert, mit einer immer wieder überraschenden Vielfalt an Gestaltungstechniken – auch beim wiederholten Hören bestimmter Stücke hat die Langeweile keine Chance, ihre einschläfernden Flügel auszubreiten. »Geschwinde, geschwinde, ihr wirbelnden Winde«, so heißt ein Bach’sches »Dramma per musica«, das den Streit zwischen Phoebus und Pan zum Thema hat – uns so etwas könnte auch durchaus Koopman selbst charakterisieren. Manchmal stelle ich mir ihn vor wie einen Wirbelwind, der mit virtuosem Schwung die Manual- und Pedaltasten ebenso zielbewusst wie energisch überfliegt und eine akustische Spur von außerordentlicher (»extraordinaire«, wie Buxtehude es gesagt hätte) Profilschärfe zurücklässt. Und bei alledem verlieren die langsamen Sätze nichts an expressiver Kraft – Koopman gibt der Musik den Atem, den sie benötigt, um ihre fein schattierten Ausdruckswirkungen zu entfalten.

Eine Orchestersuite und ein Konzert für Violine und Oboe musiziert er gemeinsam mit der Staatskapelle (am 29. Januar im Konzerthaus, das sei unbedingt vorgemerkt), dazu noch eine weltliche Kantate, die der gute Johann Sebastian anlässlich einer Hochzeit geschrieben hat. Eine Sopranistin singt allein zur Begleitung einiger Instrumente – und wer könnte dies besser als unsere Anna Prohaska, die gerade in diesem Tagen erst aus dem Ännchen in Webers »Freischütz« nach Nam’ und Art eine richtige Anna gemacht hat. »Weichet nur, betrübte Schatten«, so heißt diese Kantate, in der alles zu finden ist, was Bach ausmacht: melodischer Reiz, harmonisches Raffinement und ein bemerkenswerter Abwechslungsreichtum. Vielleicht ist für den Einen oder die Andere in diesem Zusammenhang auch von Interesse, dass Ton Koopman auch Bücher geschrieben hat, auf die zu verweisen und die zu empfehlen mir eine angenehme Pflicht ist: 1985 bereits ein Buch mit dem schönen, im Grunde schon alles aussagenden Titel »Barokmuziek: Theorie en Praktijk«, in den späten 1990ern war er dann ganz wesentlich an einem dreibändigen Werk »Die Welt der Bach-Kantaten« beteiligt, das er gemeinsam mit dem renommierten Bach-Forscher Christoph Wolff herausgegeben hat.

Die Welt Bachs, so zeigt es sich immer wieder, ist prinzipiell unausschöpflich. Ton Koopman lässt uns dies begreiflich werden. Und er wird uns auch ein Stück Musik vorstellen, das sicher nur die Wenigsten bislang gehört haben: die letzte Sinfonie aus der Feder eines relativ unbekannt gebliebenen Bach-Sohnes, Johann Christoph Friedrich mit Namen. Das ist der sogenannte »Bückeburger Bach«, der in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts der südniedersächsischen Kleinstadt Bückeburg im Landkreis Schaumburg-Lippe (die gibt es, gleich wie Buxtehude, wirklich, man kann sie auch mit der Bahn erreichen) seltenen Glanz verlieh. Bachs Werk aus den mittleren 1790er Jahren klingt beinahe wie eine späte Haydn-Sinfonie, in größerer Besetzung mit Flöte, Klarinetten, Fagott, Hörnern und Streichern. Der letzte noch lebende Bach-Sohn hatte sich voll und ganz den klassischen Stil angeeignet, Ton Koopman wird auch ihn zum Klingen bringen.

Man könnte übrigens trefflich darüber spekulieren, was geworden wäre, wenn der junge Johann Sebastian tatsächlich Anna Margareta Buxtehude geehelicht und zu St. Marien Lübeck seine Wirkungsstätte gefunden hätte. Die Musikgeschichte dürfte dann anders verlaufen sein. Ob es etwa die Phalanx der berühmten Bach-Söhne Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christian und eben auch Johann Christoph Friedrich gegeben hätte, muss ebenso in den Sternen stehen bleiben wie die Überlegung, auf welchen Lebenswegen der »Alte Bach« wohl gewandelt wäre, wenn er damals die Freiersfüße nicht wieder in die Hand genommen hätte. Vater Buxtehude jedenfalls war schließlich fast 50 Jahre auf seinem Posten, treu und brav, mit kaum je erlahmendem Engagement. Erwähnt sei noch, dass Johann Sebastian im Vorfeld seiner Reise nach Lübeck noch einen berühmten Organisten kennengelernt hatte: Johann Adam Reincken, seines Zeichens an Hamburgs Katharinenkirche aktiv, gleichfalls über viele Jahrzehnte. Als Bach 1722 erneut zu Reincken kam, hielt man diesen schon für einen nahezu Hundertjährigen, da sich hartnäckig das Gerücht hielt, er sei 1623 geboren (was offenbar ein Fake war, es sei denn, er wäre erst im fortgeschrittenen Alter von 20 Jahren getauft worden). Nichtsdestotrotz, der greise Meister beeindruckte Bach mit seinem Spiel und seinen Kompositionen ein weiteres Mal. Reincken war übrigens – wen wundert’s – auch ein Holländer. Die Menschen aus den Niederlanden konnten und können offenbar nicht nur gut Fußball, sondern auch glänzend Orgel spielen. Vielleicht stimmt es ja, dass auch in Buxtehude ein Mann im Oranje-Trikot auf der Orgelbank saß.

Bis zum nächsten Mal, dann mit neuen Tipps zum Hören und Lesen

Euer Detlef Giese

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