Hörtipps für den Dezember

Auf einen Kaffee mit der Dramaturgie - Hörtipps für den Dezember

Pünktlich zum Dezember gibt unser Dramaturg Detlef Giese wieder wertvolle CD-Tipps. Im Fokus stehen hierbei drei der bedeutendsten Dirigentenpersönlichkeiten, die alle im Jahr 1914, also vor 100 Jahren, geboren wurden.

Von Zeit zu Zeit ist es an der Zeit, sich zu erinnern. Besonders dann, wenn das Jahr, müde geworden von seinem stetigen Lauf, damit beginnt, seine weiten Schwingen einzuklappen, wenn die Melancholie in den trüben Spätherbsttagen über das Land gleitet, mal als zarter Hauch, mal mit der Gewalt donnernder Posaunen. Dann senkt sich die Erinnerung herab, mitunter als schwere Last, zuweilen aber auch als ein federleichtes Etwas, das ein Lächeln auf die Gesichter zu zaubern vermag. So wie fast alles in und auf dieser Welt ist sie ein ambivalentes Phänomen, die gute Freundin Erinnerung.

So wie es aussieht, erinnert sich das Internetz an alles. Es scheint ein wahres Elefantengedächtnis zu besitzen – alles was einstmals in es eingespeist wurde und sich in seinen Maschen verfing, bleibt uns erhalten, womöglich – ein großes Wort – für die Ewigkeit. Diverse Leute, die in unbedachten Momenten Bilder, die sie später als unvorteilhaft erachteten, den Klauen des Netzes anvertraut haben, bereuen dies offenbar, habe ich mir sagen lassen. Selbst bin ich ja, wie im letzten Beitrag ausgeführt, nicht so der Social-Network-Typ, ebenso wenig wie ein »Handy Man« der eigentlichen Art, eher ein »Candy Man«. Dabei weiß ich die Segnungen des Internetzes durchaus zu schätzen. Wenn es etwa nötig ist, auf die Schnelle die Lebensdaten von Komponisten, Sängern etc. parat zu haben: Zack, mit einem Klick sind sie auf’m Tisch, nicht per Pedes, sondern per Pedia. Oder wenn es gilt, die Länge eines Musikstückes herauszufinden (oder für den Fall, dass es gänzlich unbekannt sein sollte, überhaupt erstmal eine Ahnung davon zu bekommen): Jubbiduh, dank Jutjub ist das recht nerven- und muskelschonend möglich, ohne so antiquierte Dinge wie CD, Vinyl oder gar die – inzwischen anscheinend ausgestorbene – Musiccassette (MC) bemühen zu müssen. Das ist schon sehr praktisch, ganz zweifellos, desgleichen das Surfen auf Seiten wie der von unserer guten alten Staatsoper – nicht nur wegen des permanent weiter gedeihenden Blocks, sondern überhaupt, wegen des Spielplans, der Tickets und alles sonst noch Wissenswerten drumherum.

Neulich aber ist mir aufgefallen, dass gerade diese Seite auf meinem Rechner, an dem täglich sitze und beispielsweise auch für diesen Block schreibe, sich auffällig langsam öffnet und schließt. Das wird wohl, so dachte ich, ein missliches technisches Problem sein. Der liebe Kollege von der EDV war schnell angerufen und stand wenige Augenblicke später bereits in der Tür. »Da müssen wir wohl den Brauser abdäten«, war sein rasch erteilter Rat. Ich hielt das zunächst nicht für nötig, da die Dusche eigentlich ganz prima funktioniert, bevor mir einfiel, dass mit »Brauser« offenkundig das Dingens gemeint ist, mit dem man sich durch die Tiefen und Untiefen des Internetzes hindurch bewegt. Und wahrscheinlich war es in der Tat so, dass der alte bereits merklich ächzte und stöhnte, wenn Daten in rauen Mengen auf ihn einstürmten, derer er nurmehr mit größter Mühe Herr wurde. Also, ein neues Gewand wurde ihm sogleich angelegt, das Lord Browser auch wie angegossen sitzt – mit Stock und Zylinder ist er seitdem ein ebenso schneller wie kompetenter Wegweiser, zumindest für meine bescheidenen Zwecke.

Was mich aber hochgradig irritiert, ist ein Fenster, das nahezu immer aufploppt, wenn besagter Lord am Werke ist. Ganz prosaisch wird darauf hingewiesen, dass X automatisch Daten an X sendet (die Ixe stehen für die Namen zweier bekannter Firmen bzw. Marken aus der IT-Branche), »um die Benutzerzufriedenheit zu verbessern«. Nun unterstelle ich mal, dass damit auch auf mein eigenes Wohlbefinden abgezielt wird, was sich jedoch nur in sehr begrenztem Maße durch derlei Nachrichten verbessern dürfte. Aber wenigstens ist offen gelegt, dass irgendwas irgendwohin übermittelt wird; was jedoch darüber hinaus im Verborgenen passiert, bleibt vorerst auch verborgen.

In solchen Momenten beginne ich manchmal, über das Wesen des Internetzes nachzudenken. Was für eine Kreatur es wirklich ist, lässt sich wohl nur schwer ergründen. Ist es vielleicht eine Riesenkrake, die – wie man es aus alten Seefahrergeschichten und von Schauergemälden kennt – aus den dunklen Tiefen der unendlichen See emporschießt und weitgehend wehrlose »User« mit in den Abgrund reißt? Oder ist es ein Bär, dem man, als er noch klein und niedlich war, zunächst Honig um’s Maul geschmiert und dann Ketten angelegt hat, die er nun zu sprengen sucht? Wenn er seinen Bi- und Trizeps nur einmal kurz anspannt, wird die gewaltige Kraft, die in ihm schlummert, jedenfalls spürbar. Oder, um das domestizierte Getier zu bemühen, ist es der wuschelige Hund, der mit treuherzigem Blick nur darauf wartet, das Stöckchen (spricht die Informationen) zu holen, um danach schwanzwedelnd ein Leckerli einzufordern? Oder doch vielmehr die kapriziöse Katze, die ohnehin ausschließlich das macht, was sie will, uns aber trotzdem das Gefühl gibt, über sie zu gebieten? Wahrscheinlich, so kommt es mir vor, ist das Internetz aber eher eine Art Wolpertinger, ein Fabelwesen von gemischter Anatomie (ursprünglich ein Hase mit Hörnern und Flügeln), das vielgestaltige Naturen in sich vereinigt. Wir werden das weiter im Blick behalten.

Ferenc Fricsay
Ferenc Fricsay

Aber eigentlich wollte ich ja über die Erinnerung sprechen. Ins Gedächtnis gerufen werden soll an dieser Stelle, zu der Zeit, in der das ermattete, schon ein wenig flügellahme Jahr langsam zur Neige geht, an die 100. Geburtstage dreier großer Dirigenten. Neben dem Jahrgang 1912, der so exzellente Pultgrößen wie Georg Solti, Sergiu Celibidache, Igor Markevich, Erich Leinsdorf, Kurt Sanderling und Günter Wand hervorgebracht hat, hielt auch das Jahr 1914 eine gewisse Häufung bereit. Zunächst ist hier der gebürtige Budapester Ferenc Fricsay zu nennen, der mit Berlin in besonderer Weise verbunden ist, wenn auch nur am Rande mit der Staatsoper. Von den späten 1940er Jahren an war er mit Unterbrechungen bis zu seinem frühen Tod 1963 Leiter des RIAS Symphonie-Orchesters (dem heutigen Deutschen Symphonie-Orchester), darüber hinaus auch an der Städtischen Oper (ab 1961 Deutsche Oper) aktiv. Ein außergewöhnlicher Künstler mit der besonderen Gabe für ein schlankes, transparentes Musizieren, was sich insbesondere bei Mozart zeigt. Seine Einspielungen der großen Opern, der »Entführung«, dem »Figaro«, dem »Don Giovanni« und vor allem der »Zauberflöte« aus den 1950er Jahren haben Maßstäbe gesetzt, auch durch Sängerinnen und Sänger wie Maria Stader, Rita Streich, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau und Josef Greindl. Aber auch für seine ungarischen Landsleute Bartók und Kodály hatte er eine gute Hand, desgleichen für Tschaikowsky und Johann Strauß. Und sein Wagner (u. a. gibt es eine Studioaufnahme des »Fliegenden Holländer« aus den frühen 1950er Jahren) klingt deutlich anders als bei den tonangebenden Dirigenten seiner Zeit: dramatisch durchpulst und trotzdem mit viel Sinn für feine Nuancen und Schattierungen.

Rafael Kubelik
Rafael Kubelik

Der zweite im Bunde, an den erinnert werden soll, ist der im Juni 1914 geborene und 1996 verstorbene Rafael Kubelik. Als langjähriger Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und geschätzter Gast bei vielen Ensembles war er eine zentrale Gestalt im internationalen Musikleben. Für die Musik seiner tschechischen Heimat hat er sich besonders intensiv eingesetzt: Man höre nur einmal die mit geradezu existentieller Wucht aufgeladene Interpretation von Smetanas »Mein Vaterland«, die Sinfonien, die »Slawischen Tänze« oder das »Stabat Mater von Dvořák, die ebenso ausdrucksstark wie klangschön gestaltet sind, oder Janáčeks »Glagolitische Messe« mit ihren archaisch anmutenden Ecken und Kanten. Und dann natürlich Gustav Mahler, mit dem ihm so etwas wie eine »Wahlverwandtschaft« zu verbinden schien: Kubelik war einer der ersten, die diesen monumentalen sinfonischen Kosmos durchmessen haben, schwungvoll bewegt in vielen schnellen Sätzen, empfindsam versenkt in den langsamen, zugleich mit einem Gespür für die besondere Architektur der Werke. Es ist ein Erlebnis, Kubeliks Mahler zu lauschen.

Carlo Maria Giulini
Carlo Maria Giulini

Und schließlich ist auf einen italienischen Dirigenten hinzuweisen, der immer ein wenig im Schatten Anderer, Prominenterer stand. Carlo Maria Giulini, der Älteste unseres Triumphirats, der im Mai 1914 in der Provinz Bari (gleichsam am Absatz des Stiefels) das Licht der Welt erblickte, ist ein hoch bedeutsamer Operndirigent. Seine Einspielungen von Mozarts »Figaro« und »Don Giovanni« gehören meiner Ansicht nach immer noch zum Besten, was es auf diesem Gebiet gibt: Mit ihren raschen Tempi und geschärften Konturen wirken diese Aufnahmen erstaunlich »modern«, obwohl sie schon um 1960 produziert worden sind. Verdi ist ein ähnlicher Fall: Den »Don Carlo« und die »Messa da Requiem« hat kaum ein Dirigent mit vergleichbarer Intensität und Genauigkeit auf die Schallplatte gebannt. In den 1950er Jahren hat Giulini in führender Position an der Mailänder Scala gearbeitet, u. a. in der berühmten Inszenierung der »Traviata« mit dem Regisseur Luchino Visconti mit Maria Callas als Protagonistin. In späteren Jahren – gestorben ist er in hohem Alter von 91 Jahren – zog es ihn verstärkt zur Sinfonik, vor allem zu Brahms und Bruckner. Als junger Student habe ich ihn im Februar 1994 gemeinsam mit der Staatskapelle in einem Konzert erleben dürfen. Er dirigierte damals im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt Brahms’ 2. und 4. Sinfonie. Der Beifall war riesig – und es gab einen bewegenden Moment, als der alte Giulini noch einmal allein (das Orchester war bereits abgegangen) auf die Bühne zurückkam, um dem Publikum zu danken. Die Erinnerung daran möchte ich nicht missen.

Bis zum nächsten Mal, viel Freude beim Hören wünscht
Euer Detlef Giese

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