Hörtipps »Orfeo ed Euridice«

Auf einen Kaffee mit der Dramaturgie - Hörtipps »Orfeo ed Euridice«

Heute feiert unsere FESTTAGE-Neuproduktion »Orfeo ed Euridice« in der Regie von Jürgen Flimm und unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim Premiere. Passend dazu hat euch Dramaturg Detlef Giese wieder einmal Hörtipps zusammengestellt. Viel Vergnügen!

Es ist schon etliche Jahre her, in den tiefen Achtzigern, als ich weiland – es muss wohl zu einem heilandlichen oder eigenen Wiegenfeste gewesen sein – ein Kartenspiel geschenkt bekam. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein gemeines Skat-, Rommee-, Doppelkopf- oder Schafbockblatt, auch um keines, mit dem man das damals gängige Mau-Mau auf den Tisch zaubern konnte, sondern um ein Quartett, bei dem die beteiligten Spieler dazu angehalten waren, vier zusammengehörige Karten in ihrer Hand zu vereinigen, um sie dann, in einem Anflug des inneren wie äußeren Triumphes, vor den anderen auszubreiten.

Wie genau das richtig funktionierte und welche Strategie und Taktik bestenfalls anzuwenden sei, um zum gewünschten Erfolge zu gelangen, blieb mir zwar weitgehend verborgen, was mir jedoch noch einigermaßen gut erinnerlich ist, bezieht sich auf den Inhalt und die bildnerische Gestaltung des besagten Quartetts. Dem dazumal wie heutzutage omnipräsenten Bildungsauftrag war nämlich auf durchaus plakative Art und Weise Rechnung getragen worden, indem auf den insgesamt 32 Karten (in der Struktur 8×4, was zugleich, weil es sich um den Namen einer Kosmetik-Marke handelte, die seinerzeit nur in den berühmt-berüchtigten »Intershops« erhältlich war, den Duft der großen weiten Welt in sich trug) dieselbe Anzahl von Zeichnungen zu sehen war, welche die geneigten Spieler mit einigen als offenbar besonders wertvoll angesehenen Werken der Opernliteratur bekannt machen sollten. Acht exzellente Opera waren hierzu von den Machern des Blattes ausersehen worden, bis heute sind sie mir präsent: Mozarts »Zauberflöte«, Beethovens »Fidelio«, Webers »Freischütz«, Wagners »Meistersinger«, Strauss’ »Rosenkavalier« und Humperdincks »Hänsel und Gretel« (das Ganze sollte ja auch ein wenig kindgerecht aufbereitet sein) als den allseits geschätzten Beiträgen zum klassisch-romantischen Opernschatz, dazu mit Lortzings »Zar und Zimmermann« ein damals noch vielgespieltes Stück sowie – als historisch älteste res facta – Glucks »Orpheus und Eurydike«. Man beachte die Konzentration auf das deutsche Repertoire, da von Komponisten wie Verdi (geschweige denn Monteverdi) und Puccini, von Berlioz und Bizet, von Mussorgsky, Tschaikowsky und Rimsky-Korsakow, von Dvořák und Janáček oder gar anderen »Modernen« keinerlei Spur zu finden war. Und auch Barockiges – zählt man den Gratwanderer Gluck einmal nicht dazu – suchte man vergebens: kein Händel, nirgendwo, selbst Agostino Steffani, den man eigentlich mit Fug und Recht in dieser Reihe hätte erwarten können, glänzte durch Abwesenheit. Da konnte man sich schon fragen, was da wohl für ein Geschichtsbild dahintersteht und vermittelt wird.

Sei es drum, das ist ein anderes Thema, zurück zu den Karten selbst. Sämtliche dieser zwei hoch drei, sprich acht Opern wurden durch zwei hoch zwei, sprich vier Abbildungen repräsentiert: durch ein Portrait des Komponisten, ein Imago einer der Hauptfiguren sowie durch zwei Szenen aus dem Werke selbst. Im Falle der »Zauberflöte« waren das neben dem humorigen Wolferl mit Rokoko-Perücke der putzige Papagano im Federkleide (das Ganze sollte ja auch ein wenig kindgerecht sein…), eine Szene mit der Königin der Nacht und eine mit Sarastro, Pamina und Tamino, damit man, quasi im Schnelldurchlauf, Einiges von den entscheidenden Situationen und Wesenszüge zumindest einmal antippe (später wurde es dann üblich zu sagen: Ich habe das mal »angelesen«, was nichts anderes bedeutet, als dass man es nicht einmal ignoriert hat).

Und dann waren den einzelnen Werken charakteristische Instrumente beigegeben: Der »Zauberflöte« natürlich, wie kann es anders sein, eine schöne, gewiss wohlklingende Flauto traverso, dem »Freischütz«, auch das keine Überraschung, ein kühn geschwungenes Waldhorn, dem »Fidelio« eine Tätärätä-Trompete (da kommt ja, wir erinnern uns, ein entsprechendes Signal vor) und den gar laaaaangen »Meistersingern« (bei dem auf ein Richie-Konterfei ein selbiges von Hansen Sachsen sowie zwei Bilder aus der Schusterstube und von der Festwiese folgten) war eine Pauke zugeordnet – ganz nach dem Cliché, dass Wagners Musik vor allem laut und zudem eine Portion dröhnig zu sein habe.

Und was fand der interessierte Quartettspieler bei Glucks »Orpheus«? Eine Violine, ebenso einfach wie stimmig. Das meistgebrauchte, im Grunde unverzichtbare Instrument des Orchesters für dasjenige Werk, das paradigmatisch ein neues Kapitel der Opernhistorie einläutete (wären da Glocken nicht eigentlich passender gewesen?), um daraus hinreichend Kapital zu schlagen. Der Geigensound als Signum für das Glucksche Klanguniversum, das ist vielleicht nicht sonderlich einfallsreich, aber durchaus logisch. Hätte man vielleicht ein Chalumeau abbilden sollen, das ja bekanntlich im »Orfeo« eine Rolle spielt? Originell wäre es schon gewesen, jedoch hätten sich da manche in der Tat wohl »Wat’n ditte?« gefragt.

Die Geige also sollte es richten. Und man hört sie natürlich auch, buchstäblich vom ersten bis zum letzten Takt, in jeder Aufführung und Aufnahme des »Orfeo«. Dadurch, dass das Opus in der Entwicklung der Kunstform Oper einen solch herausgehobenen Status besitzt, haben sich nicht nur Spezialisten, sondern auch die sprichwörtlich »großen Dirigenten« zuweilen diesem Werke zugewandt. Wilhelm Furtwängler, nicht unbedingt als Gluck-Experte bekannt, hat den »Orfeo« des Öfteren dirigiert, u. a. an der Mailänder Scala. In neuerer Zeit war es Sir Georg Solti, der eine hochrespektable Studioproduktion vorlegte, 1969 mit den Kräften des damals von ihm geleiteten Royal Opera House Covent Garden London. Mit Marilyn Horne verfügte er dabei über eine enorm agil und virtuos agierende Sängerin der Hauptpartie, ihr zur Seite standen mit Pilar Lorengar und Helen Donath zwei weitere Sängerinnen von Format, die mit lyrischer Emphase ebenso aufwarten konnten wie mit dramatischen Impulsen. Sir Georg wählte prinzipiell die originale Wiener Fassung von 1762, reicherte sie aber durch eine Barvourarie aus der Pariser Version von 1774 an, um La Horne Gelegenheit zu geben, ihre immensen stimmlichen und gestalterischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Das Klangbild dieser Aufnahme ist erstaunlich transparent, die Tempi mal recht getragen (was bei den großen Trauerszene ja auch durchaus angebracht ist), mal jedoch auch erstaunlich zügig, was das Hören zu einer durchaus angenehmen Angelegenheit macht.

Andere Primadonnen des Mezzofachs haben sich den Orfeo, der ja zweifellos eine große und anspruchsvolle Partie ist, in ähnlicher Weise vorgenommen: Grace Bumbry in den 1960ern unter Vaclav Neumann mit dem Gewandhausorchester Leipzig (diese Aufnahme kursierte vor allem im Osten unserer Republik), Janet Baker mit dem London Philharmonic Orchestra unter Raymond Leppard oder Agnes Baltsa mit dem Philharmonia Orchestra unter Maestro Riccardo Muti. Selbst unter einem entschiedenen Vertreter der sogenannten »historisch informierten Aufführungspraxis« wie René Jacobs singt mit Bernarda Fink eine Solistin mit dunklem Timbre den Orfeo, sehr überzeugend im Übrigen mit dem Freiburger Barockorchester und mit Veronica Cangemi und Maria Christina Kiehr in den beiden kleineren Rollen. 2001 wurde diese Aufnahme getätigt, für mich ein eindeutiger Favorit, zumal das Cover dasselbe Bild ziert wie die neueste Ausgabe unseres schönen Staatsopern-Magazins, das Orphée-et-Eurydice-Gemälde des formidablen Pariser Landschaftsmalers Jean-Baptiste Camille Corot von 1861. Ausgesprochen klangschön musizieren die Freiburger, die Sängerinnen bringen ihre Parts ebenso stilsicher wie ausdrucksvoll, vor allem aber gut artikulierend über die akustische Rampe – und blutleer ist das Ganze auch beileibe nicht.

Und dann gibt es natürlich die Countertenöre, die den Orfeo für sich entdeckt haben. René Jacobs selbst, in seinem – wie er immer so schön sagt – »ersten Leben« als Sänger hat diesem maßgeblichen Protagonisten der Opernwelt Stimme und Profil gegeben, in einer Aufnahme mit La Petite Bande und dem Collegium vocale, geleitet von Sigiswald Kuijken. Die Wiener Fassung in Reinkultur ist hier zu hören, komplett mit allen Balli (einschließlich aller Wiederholungen), jedoch ohne jegliche Zusätze. Das alleine verlohnt schon – und der expressive Gesang des Sängers desgleichen. 1982 war das, ein Jahrzehnt später folgte Derek Lee Ragin mit den beweglich spielenden English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir, sängerisch aus meiner Sicht weit weniger überzeugend. Kurz darauf dann Jochen Kowalski mit dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach unter Hartmut Haenchen, in jüngster Zeit dann ein hochvirtuoser Sänger wie Franco Fagioli. Ein weiter Weg ist es da zurück zum geschätzten Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der gleich zwei Mal – im Übrigen auf Deutsch – den Orpheus für die Schallplatte gesungen hat, in den 50ern unter Ferenc Friscay mit viel Charme und großen lyrischen Bögen, in den 60ern noch einmal unter Karl Richter, mit der wunderbaren Gundula Janowitz als seiner Eurydike, die er aus der Unterwelt zu führen versucht. Wie Rufe einer längst vergangenen, aber durchaus faszinierenden Zeit wirken diese Tondokumente, Zeugnisse ernsthafter Annäherungen an Glucks Meisterwerk darstellend, das im wahrsten Sinne des Wortes Operngeschichte geschrieben hat. Womöglich haben gerade sie dafür gesorgt, dass der Glucksche »Orpheus« den beschwerlichen Weg in die Spielkartenfabrik und auf die Gabentische der Geburtstagskinder gefunden hat. Ich gebe es aber zu, damals eher Mühe und Ehrgeiz darauf verwendet zu haben, beim Quartett den Weber und den Wagner komplettiert zu bekommen als den Gluck. Den nahm man eben so mal mit, wenn sich gerade nichts anderes ergab. Da hat man ihm schon ein wenig unrecht getan – und das soll sich auch ändern, versprochen.

Beim nächsten Spiel gewiss.

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