»Ich träumte, ich war zwölf Jahre alt und ein Virtuose«

Jean Sibelius

Lilli Mittner ist der Entstehung und der Geschichte des Violinkonzerts von Jean Sibelius nachgegangen. Das Violinkonzert könnt ihr am 13. und 14. April beim VI. Abonnementkonzert der Staatskapelle Berlin und Daniel Barenboim hören. Zu Gast ist der Geigenvirtuose Gidon Kremer, der sich als Persönlichkeit einzigartigen Formats etabliert hat – nicht nur als Geiger von hohem internationalen Rang, sondern auch als Künstler besonders ausgeprägter Individualität, der ausgetretene Pfade meidet und neue Richtungen weist.

In der weiten heimatlichen Kiefernlandschaft im Süden Finnlands streifte der zwölfjährige Johan Sibelius oft durch die einsamen Wälder, vorbei an glitzernden Seen und träumte davon, Geigenvirtuose zu werden. Wie Ole Bull oder Joseph Joachim wollte er spielen können und die Welt bereisen. Seine besondere musikalische Begabung hatte sich schon recht früh gezeigt. Von den Eltern wurde sie jedoch eher verkannt als entschieden gefördert. Erst mit fünfzehn Jahren erhielt Sibelius regelmäßigen Unterricht beim Militärkapellmeister seiner Geburtsstadt Hämeenlinna. Bis dahin hatte er bereits beträchtliche Fähigkeiten auf dem Klavier und der Geige erlangt und gemeinsam mit seinen Geschwistern im häuslichen Rahmen die klassische Kammermusik erschlossen. 1885 musste er sich, dem Willen der Eltern folgend, an der Universität in Helsinki für Jura immatrikulieren. Gleichzeitig war er jedoch auch am Musikinstitut eingeschrieben und verfolgte zielstrebig seine Virtuosenkarriere. Zu jener Zeit wählte Sibelius für sich den Künstlernamen Jean. Die Zeitungen berichteten über erste öffentliche Soloauftritte des jungen Talentes und doch war seine Professionalität noch recht unvollkommen als er 1889 zum weiteren Studium nach Berlin ging.

»Er ist der Meister und Bannerträger der jungen finnländischen Tonkunst.«

Das Virtuosendasein schien nicht seiner Bestimmung zu entsprechen. Ein misslungenes Probespiel bei den Wiener Philharmonikern veranlasste Sibelius schließlich, die Laufbahn als Geiger aufzugeben und sich dem Komponieren um so entschiedener zuzuwenden. Hatte er bereits während des Studiums vor allem Lieder und Kammermusik komponiert, entdeckte Sibelius nun zunehmend die Orchestermusik für sich. Schon bald wurde man auf den unbekannten Komponisten aufmerksam. Die Premiere der symphonischen Dichtung Kullervo im April 1892 – nur zwei Jahre nach seinem Misserfolgserlebnis als Geiger – brachte ihm erstmals große Anerkennung. Jene Aufführung in Helsinki gilt heute als die Geburtsstunde der finnischen Musik. Das Bedürfnis nach nationaler Identität war unter der schwedischen Fremdherrschaft so stark gewachsen, dass Kullervo im Grunde schon vor der Uraufführung in Zeitungsberichten zum Sinnbild des Finnischen stilisiert worden war. Als die Auflehnung gegen die um 1900 forcierte Russifizierungswelle auf ihren Höhepunkt gelangte, wurde Sibelius mit seinen sinfonischen Dichtungen über Gestalten und Ereignisse des finnischen Nationalepos Kalevala und der Tondichtung Finlandia zur regelrechten Symbolfigur dieser Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung. Der damals tonangebende Kritiker Karl Flodin schrieb 1903 über den neuen Nationalhelden: »Er hat es wie kein anderer verstanden, in seinen Tonschöpfungen den Grundcharakter der finnländischen Natur und des finnländischen Volksgemüt wiederzugeben. Er ist der eigentliche Schöpfer des ursprünglichen und eigen finnländischen Tones in der Musik. Er ist durch und durch eigentümlich und selbstständig, folgt nur den Bahnen, die sein eigenes Gemüt ihm vorschreibt, und versucht die Grenzen des bisher als musikalisch schön angesehenen zu erweitern. Er ist der Meister und Bannerträger der jungen finnländischen Tonkunst.«

Aber nicht allein mit den politisch motivierten Werken vermochte sich Sibelius im europäischen Musikleben wirksam zu positionieren. Künstlerische Reputation gewann er ebenso durch seine Werke der »absoluten Musik«, wie den Sinfonien und Konzerten. Es verwundert, dass Sibelius trotz der Begeisterung für die Violine nur ein einziges Konzert für dieses Instrument komponiert hat. Dagegen existieren eine Reihe kleinerer Violinstücke z. T. virtuosen Charakters, in denen der Einfluss der populären Komponisten seiner Zeit – darunter Bériot, Viotti und Wieniawski – deutlich wird. Die Komposition eines vollständigen Konzertes stellte jedoch eine besondere Herausforderung dar, bei der es galt, die richtige Balance zwischen sinfonischem und virtuosem Element zu finden. In seinen Sinfonien hatte Sibelius einen äußerst kraftvollen Orchesterklang entwickelt, der nun den klanglich begrenzten Möglichkeiten des Soloinstrumentes begegnete.

»Ich kann nur eins sagen: großartig! – Von der Zukunft des Konzertes bin ich überzeugt.«

Den Anstoß zu dem Violinkonzert hatte vermutlich der Konzertmeister des Sinfonieorchesters in Helsinki Willy Burmester 1902 gegeben. Erst im darauf folgenden Jahr konnte sich Sibelius dem Werk ernsthaft widmen, nachdem er, um der Unruhe des Großstadtlebens zu entfliehen, mit seiner Frau Aino in den nach ihr benannten Landsitz Ainola gezogen war. Burmester, selbst ein begnadeter Virtuose, verfolgte den Entstehungsprozess eifrig und bot sich an, das Konzert in Berlin uraufzuführen. Als ihm Sibelius den Klavierauszug des Werkes zusandte, antwortete der Geiger umgehend in einem Brief: »Ich kann nur eins sagen: großartig! – Von der Zukunft des Konzertes bin ich überzeugt. Nur einmal in meinem Leben habe ich solche enthusiastischen Worte einem Komponisten gegenüber geäußert und das war als Tschaikowsky mir sein Violinkonzert zeigte.«

Sibelius sah in Burmester den idealen Interpreten für sein Werk und so bat er ihn im Herbst 1903, das Stück noch im selben Jahr aus der Taufe zu heben. Mit Blick auf seinen eigenen Terminplan erbat sich Burmester bis März 1904 Zeit, um den Solopart einzustudieren. Sibelius, der sich jedoch wieder einmal am Rande eines finanziellen Desasters befand, hielt starrköpfig am anvisierten Termin im November 1903 fest. Die Enttäuschung Burmesters war groß, als ihn die Nachricht erreichte, dass nicht er, sondern Viktor Nováček, Violinlehrer am Musikinstitut in Helsinki, das Stück schließlich zur Uraufführung bringen würde. Der Konzerttermin wurde jedoch immer wieder verschoben: bis zum 8. Februar 1904. Nur einen Monat später hätte Burmester das Stück mit hoher Wahrscheinlichkeit in Berlin zu einem größeren Erfolg geführt, als es Nováček in Helsinki gelang. Er zeigte sich den virtuosen Anforderungen des Konzerts bei weitem nicht gewachsen. Besonders das bogentechnisch anspruchsvolle Hauptthema des dritten Satzes, so schrieb damals ein Kritiker, »fordert die rechte Hand eines Burmester«.

Der Grund für die geringe Resonanz beim Publikum war jedoch nicht nur die mangelhafte Ausführung des Solo-Parts, sondern auch die Kritik des einflussreichen Karl Flodin. Hatte er Sibelius noch ein Jahr zuvor als »Meister und Bannerträger der jungen finnländischen Tonkunst« bezeichnet, sah er in dem Violinkonzert einen Mangel an Originalität und Motiven mit persönlichem Charakter. Zudem sei es mit virtuosen Elementen geradezu überladen, die in seinen Augen in keiner Weise zu einer überzeugenden Entwicklung der musikalischen Gedanken beitrugen.

Sibelius, seinerseits unzufrieden mit dem Stück, hatte zunächst nicht vor, das Konzert nochmals aufführen zu lassen, geschweige denn zu veröffentlichen. Erst mussten entscheidende Änderungen vorgenommen werden, die sich auffällig deutlich an der Kritik Flodins orientierten. Vor allem im ersten Satz strich Sibelius einige virtuose Solopassagen heraus und legte stattdessen verstärkten Wert auf eine im engeren Sinne sinfonische Arbeit. Indem er die Durchführung vollständig durch eine ausgedehnte Kadenz ersetzte, begegnete er Flodins Einwand, die Violine sei bloßes virtuoses Beiwerk und würde das musikalische Geschehen nicht vorantreiben, gleichsam überdeutlich.

Im Juni 1905 sandte Sibelius seinem Verleger Robert Lienau eine zweite Fassung des Violinkonzertes nach Berlin. Dieser schlug sofort den Solisten Carl Halir und die Staatskapelle unter keinem Geringeren als Richard Strauss für die Premiere im Oktober vor. In Deutschland war die Resonanz auf das Werk gespalten. Der 74-jährige Joseph Joachim hielt es für »scheußlich und langweilig« und forderte seine Stundenten ausdrücklich auf, es nicht zu spielen. Für die Berliner Kritiker bildete es hingegen einen wertvollen Beitrag für das Konzertprogramm. In Finnland trat man der überarbeiteten Fassung nach wie vor kühl gegenüber. Mehrfach wurde behauptet, das Stück sei unspielbar, andere fanden es unverständlich und zu modern. Aus heutiger Sicht stellt Sibelius’ Werk eine weitere Variante des romantischen Violinkonzerts dar. Ohne Zweifel hat Mendelssohns Konzert, obwohl es mehr als 60 Jahre früher komponiert wurde, seine Spuren hinterlassen. So etwa gleich zu Beginn, wenn der Solist ohne Orchestervorspiel vor dem flimmernden Klangteppich der gedämpften Violinen eine eindrucksvolle melodische Linie exponiert. Das die Entwicklung beherrschende solistische Element wiederum scheint durch Tschaikowsky inspiriert. An Max Bruchs Violinkonzert erinnern die dramatischen Rezitative und charakteristischen Doppelgriffe in Sechsten und Oktaven. Trotz dieser Einflüsse lässt die Komposition stets den ganz individuellen Ton des Finnen erkennen.

Da sich solistische Kadenzen und vorantreibende Tutti blockartig abwechseln, kann sich die Violine durch die nach wie vor ungewöhnlich große Zahl an virtuosen Elementen als gleichberechtigter Partner im sinfonischen Dialog behaupten. Den ersten Satz dominiert sie sowohl in expressiver als auch in technischer Hinsicht. Abgesehen von einigen wenigen Phrasen in den Holzbläsern wird das nostalgische Hauptthema im gesamten Stück nicht vom Orchester aufgegriffen, sondern bleibt ganz allein dem Solisten vorbehalten. Weiträumige Passagen melancholischer Stimmung sind auf der klangintensiven G-Saite vorzutragen und bezeugen Sibelius’ Vorliebe für die tiefen Register der Streichinstrumente. Führt die Melodie doch einmal in strahlende Regionen, dann immer vor dem Hintergrund eines dunklen Orchesterklangs.

Der langsame Satz trägt den Charakter einer Romanze. Die Kantilene der Violine wird durch die Holzbläser vorbereitet, die nach ungewöhnlichen chromatischen Terzklängen in entfernte Tonarten hineinführen. Vor dem Hintergrund dunkler Wellenbewegung breitet sich die warme, aber dennoch ernste Melodie aus. Nach einem kontrastierenden Mittelteil mit stark akzentuiertem Thema wird dem Cantabile-Thema noch einmal viel Raum gegeben. Beinahe scheint es als zögere Sibelius, den Satz zu beenden.

»Ich träumte, ich war zwölf Jahre alt und ein Virtuose«

Nach dem ruhigen Adagio steigert sich das Finale zu äußerster Virtuosität. Wie bereits im Kopfsatz sind die schnellen Läufe, gebrochenen Akkorde, parallelen Terzen, Oktaven und Doppelgriffe nicht bloß virtuoses Beiwerk, sondern fungieren als Träger der musikalischen Gedanken. Der Satz besitzt einen ruhelosen, dämonisch treibenden Charakter. Der elektrisierende Rhythmus mit seinen andauernden Paukenschlägen bildet das markanteste und technisch anspruchsvollste Element. Scharf akzentuiert fordert das Hauptmotiv in unbequem hoher Lage eine schwierige Bogentechnik. Zur Interpretation des Allegro giusto meinte Sibelius: »Es muss mit absoluter Beherrschung gespielt werden. Schnell natürlich, aber nicht schneller als es perfekt von oben gespielt werden kann«. Das Bild des »danse macabre« diente dem Komponisten zur Veranschaulichung als der 17-jährige Ferenc von Vescey das Stück 1910 in Berlin aufführte. Es dürfte die brillante Darbietung des jungen Geigers gewesen sein, die Sibelius dazu bewog, ihm das Violinkonzert nachträglich zu widmen. Dabei hatte er während des Entstehungsprozesses wohl weder Vescey, noch Burmester noch irgendeinen anderen Solisten vor Augen gehabt, sondern sich selbst. Als er im reifen Alter von fünfzig Jahren in seinem Tagebuch notierte: »Ich träumte, ich war zwölf Jahre alt und ein Virtuose«, feierte ihn Finnland schon seit langem als Nationalkomponisten. Der Geigenvirtuose Jean Sibelius war hingegen ein Traum geblieben.

Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zum VI. Abonnementkonzert der Staatskapelle Berlin

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