»Keine Luft zum Atmen«

Die Luft hier: Scharfgeschliffen - Foto: © david baltzer / bildbuehne.de

Die Premiere von Matthias Hermanns »Die Luft hier: Scharfgeschliffen« in der Inszenierung von Hans-Werner Kroesinger eröffnet heute das sechste INFEKTION! Festival für Neues Musiktheater. Gemeinsam mit der Dramaturgin Regine Dura erarbeitete Kroesinger, der in Berlin u. a. bereits durch Produktionen am Deutschen Theater, Berliner Ensemble, HAU Hebbel am Ufer und am Maxim Gorki Theater bekannt ist, nun erstmals eine Inszenierung für die Staatsoper.

Regine Dura hat die Zusammensetzung der dokumentarischen Produktion skizziert.

Der Titel der Komposition von Matthias Hermann ist einem Gedicht Ossip Mandelstams entlehnt, »Venedigs Leben«, das dieser 1920 schreibt; Verse, durchdrungen von Bildern des Todes. »Die Wahrheit: Dunkelheit« heißt es gegen Ende. »Die Luft hier: Scharfgeschliffen« ist aber auch zu verstehen als metaphorische Beschreibung des Gefangenseins. Keine Luft zum Atmen, diese Erfahrung ist den Figuren des Werkes gemeinsam. Ossip Mandelstam (»Der Dichter«), Salman Rushdie und Fahimeh Farsaie, Ulrike Meinhof (»Die Gefangene«) – ein Dichter, ein Schriftsteller und eine Autorin, eine Journalistin. Im Fokus des Musiktheaterstückes stehen Menschen, die sich schreibend zur Welt verhalten: Durch ihre Kritik oder den Widerstand gegen die jeweiligen politischen Verhältnisse, in denen sie leben, geraten sie in Situationen politisch begründeten Gefangenseins. Meinhof endet in der Isolationshaft, Mandelstam in der Verbannung und der Welt der Gulags, Rushdie ist in den Untergrund abgetaucht, um der gegen ihn ausgesprochenen Fatwa zu entgehen.

Die Luft hier: Scharfgeschliffen - Foto: © david baltzer / bildbuehne.de
Die Luft hier: Scharfgeschliffen – Foto: © david baltzer / bildbuehne.de

Ausgangspunkt des Werkes sind die »Briefe aus dem ‚Toten Trakt‘« von Ulrike Meinhof aus den Jahren 1972 und 1973. Es sind an ihre Anwälte gerichtete Notate, in denen sie minutiös die zunehmende Zerstörung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit als Folge der Isolationshaft in Köln-Ossendorf beschreibt. »Die Luft hier: Scharfgeschliffen« beginnt und endet mit Auszügen aus ihren Briefen. Mit 4 von insgesamt 7 Szenen bilden sie das Rückgrat des Werkes. Matthias Hermann verwebt Ulrike Meinhofs Selbstdiagnose ihres physischen und psychischen Verfalls im »Toten Trakt« mit Gedichten und Prosafragmenten des russischen Dichters Ossip Mandelstam. Sie erzählen von seiner Erfahrung als ein in einem totalitären System Lebender, von seiner Auflehnung gegen Willkür und Gewalt der Stalinistischen Politik der grossen Säuberung und seinem Widerstand gegen die Gleichschaltung der Literatur.

In »Die Luft hier: Scharfgeschliffen« wird Ossip Mandelstam exemplarisch zu DER DICHTER und Ulrike Meinhof zu DIE GEFANGENE. Ossip Mandelstam (»Der Dichter«) wird in seinen Szenen die magische Figur des DSCHINN hinzugesellt, ein fantastisches Wesen, das nie fassbar wird; in seinen plötzlichen Ausbrüchen liegt eine Kraft der Veränderung, Störung und Utopie zugleich. Während DER DICHTER mit seinem Schreiben Widerstand leistet, bewegt sich der DSCHINN in einer Welt von Klängen, die nicht angebunden ist an konkrete Erfahrung. In den Szenen DER GEFANGENEN tauchen drei Frauen auf. Während DIE GEFANGENE, dem Terror des Raums ausgesetzt, Raumklänge zu imitieren beginnt, werden diese drei zu Gegenspielern, zum Macht ausübenden Echo. Sie verunsichern, destabilisieren und attackieren DIE GEFANGENE mit Lauten.

»Die Luft hier: Scharfgeschliffen« entsteht 1993/94 für die Opernschule der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Die Uraufführung am Kammertheater der Oper Stuttgart findet 1994 statt, in einer Zeit großer politischer Umbrüche. Die Mauer ist gefallen, der Kalte Krieg geht zu Ende, die bipolare Weltordnung zerbricht. Im auseinanderfallenden Jugoslawien mündet der Zusammenbruch alter Strukturen in einen aggressiven Nationalismus und die damit einhergehende Gewaltpolitik in einer Reihe von Kriegen, u. a. den Bosnienkrieg (1992–1995) und einen Genozid (Srebrenica 1995). Mitten in Europa entstehen wieder Lager, in denen Menschen wegen ihrer Herkunft, Religion, ihrer Zugehörigkeit gefoltert und ermordet werden. Nachbarn werden zu Aggressoren. Ehemals Gemeinsames wird geleugnet. Auch diese damals aktuellen politischen Ereignisse finden ihren Niederschlag. In der zentralen 4. Szene treten DREI FRAUEN auf. In ihre jeweiligen Sprachen zurückfallend singen sie Zeilen aus Kinderliedern. Wo Zugehörigkeiten und Bezugssysteme zerbrechen, greift man auf ferne, identitätsstiftende Gewissheiten zurück.

Die Luft hier: Scharfgeschliffen - Foto: © david baltzer / bildbuehne.de
Die Luft hier: Scharfgeschliffen – Foto: © david baltzer / bildbuehne.de

Die Luft hier schlägt einen fragmentarischen Bogen durch Gewaltsysteme des 20. Jahrhunderts – vom Totalitarismus Stalins über den Zerfall Jugoslawiens in nationalistische Politiken der ethnischen Säuberung, über die Fatwa Ajatollah Khomeinis gegen Salman Rushdies »Satanische Verse« – und landet mit Ulrike Meinhof und ihren Berichten über die »Weiße Folter« der Isolationshaft in den verkrusteten autoritären Strukturen der Nachkriegs-Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre.

Der Tod ist in »Die Luft hier: Scharfgeschliffen« gegenwärtige Bedrohung: Ossip Mandelstam stirbt im Lager an Entkräftung, Ulrike Meinhof, die die Isolationshaft als ‚Weiße Folter‘ erfährt und an den körperlichen und psychischen Folgeerscheinungen leidet, wird erhängt aufgefunden.

 

Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmheft zu »Die Luft hier: Scharfgeschliffen«

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