Von Birmingham nach Düsseldorf ‒ and back to Old England

The Dream of Gerontius

Anmerkungen zur Aufführungsgeschichte von Elgars »The Dream of Gerontius« von Detlef Giese

England ist Oratorienland, ganz ohne Zweifel. Kein anderes musikalisches Genre besaß (und besitzt) dort eine vergleichbare Popularität ‒ was für den Kontinent die Oper und die Sinfonie ist, sind für die britische Musikkultur großbesetzte, gemeinschaftsbildende Oratorienwerke mit Chor, Solisten und Orchester. Stilbildend waren hierbei vor allem die Händelschen Oratorien, in erster Linie »Der Messias (Messiah)«, der im mittleren und späten 19. Jahrhundert in schier gigantomanischen Aufführungen präsentiert wurde. So erklang im Londoner Crystal Palace regelmäßig Händels Ausnahmewerk mit Hunderten von Musikern im Orchester und gar Tausenden von Sängerinnen und Sängern im Chor, vor einer begeisterten Zuhörerschaft, die in die Zehntausende ging und die sich der erhabenen Wirkung der Musik nicht entziehen konnten und wollten. Ein Jahrhundert nach seinem Tod hatte George Frideric Handel endgültig den Status eines englischen Nationalkomponisten erlangt.

Eine ähnliche, wenngleich auch quantitativ nicht ganz so überwältigende Resonanz fanden auch die großen Oratorien von Joseph Haydn und Felix Mendelssohn Bartholdy. Insbesondere »Die Schöpfung (The Creation)« und »Elias (Elijah)« zogen das britische Publikum an, während die oratorischen Werke Bachs ‒ vornehmlich die beiden hoch bedeutsamen Passionen ‒ erst nach und nach (und weit weniger breitenwirksam) auf der Insel Fuß fassen konnten. Stattdessen waren es Komponisten wie Louis Spohr, Antonín Dvořák, Charles Gounod oder Camille Saint-Saëns, die in Großbritannien auf besonderes Interesse stießen, bezeichnenderweise alle aus dem Ausland stammend. Mit ihren inhaltlich wie kompositorisch oft sehr ambitionierten, klanglich opulenten und schon deshalb wirkungsvollen Oratorien nahmen sie große Teile des Publikums für sich ein und galten als legitime Fortführer der durch Händel, Haydn und Mendelssohn gestifteten Tradition.

Die Orte, an denen die Hörerschaft mit diesen und anderen Werken in Berührung kam, waren in der Regel nicht Theater und Konzertsäle, sondern eigens dafür ins Leben gerufene Musikfeste. Ausgehend von den Händel-Gedächtnisfeiern, deren Ursprünge im späten 18. Jahrhundert liegen, hatten sich mehrere prominente Festivals etabliert, u. a. in Birmingham und Leeds, aber auch das berühmte Three Choir Festival, das in jährlichem Wechsel in Gloucester, Worcester und Hereford stattfand. Eine nachgerade »oratorienhungrige« Gesellschaft wartete darauf, anlässlich dieser Musikfeste ältere wie neue Werke präsentiert zu bekommen. Während der Viktorianischen Zeit, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden in diesen Zusammenhängen eine Unmenge an oratorischen Werken produziert und zur Aufführung gebracht ‒ die weitaus meisten von ihnen erklangen nur während einer Saison und fielen dann der Vergessenheit anheim. Nur vergleichsweise wenigen Stücke, vorzugsweise Stoffe aus dem Alten Testament behandelnd, war eine Akzeptanz über den Tag hinaus beschieden.

Obwohl das Diktum von Großbritannien als dem vermeintlichen »Land ohne Musik« speziell auf das 19. Jahrhundert gemünzt war, in dem es in der Tat kaum einen Komponisten von wirklich internationalem Rang gab, so wäre doch die Annahme verkehrt, dass einheimische Künstler nicht präsent gewesen sind. Für zahlreiche Werke, gerade auf dem Feld des Oratoriums bzw. der Chormusik, zeichnen sie verantwortlich; die populären, prinzipiell über die über ganz England verteilten Musikfeste boten ihnen ein Podium. Gleichwohl haben nur einige britische Komponisten vor Edward Elgar überregionale Bedeutung erlangen können; zu ihnen zählen etwa Alexander Campbell Mackenzie (1847-1935), Charles Villiers Stanford (1852-1924) oder Charles Hubert Parry (1848-1918). Sie verkörpern gleichsam die erste Generation jener erstaunlichen »English Musical Renaissance«, die dann in den Jahren nach 1900 vollends zum Durchbruch kommen sollte. Nur um ein Weniges älter als Elgar hatten sie alle ihre künstlerisch-akademische Ausbildung in Mitteleuropa erhalten, vornehmlich an deutschen Konservatorien: Mit Werken wie »The Rose of Sharon« (Mackenzie), »Eden« (Stanford) sowie »Judith« und »Job« (Parry) bereicherten sie die englische Oratorientradition im späten 19. Jahrhundert auf je spezielle und niveauvolle Weise.

Dennoch markiert Elgars »The Dream of Gerontius« einen gewissen Neubeginn. Sowohl thematisch ‒ im Verzicht auf ein biblisches Sujet ‒ als auch ästhetisch sind hier spürbar neue Wege beschritten worden. Auftraggeber war das renommierte Birmingham Festival, ein zentraler Ort der Oratorienkultur und -pflege. Für das Jahr 1900 sollte er ein großes Chorwerk beisteuern, wobei Elgars Wahl auf die Vertonung von Kardinal Newmans »Gerontius«-Text fiel, der ihm bereits seit einiger Zeit bekannt war. Die umfängliche Komposition wurde zwar rechtzeitig fertig, jedoch war die Einstudierungs- und Probenphase offenbar zu knapp bemessen, um sämtliche der keineswegs geringen aufführungstechnischen Schwierigkeiten zu meistern. Die Neuerungen kompositorischer wie klanglicher Art bedeuteten eine enorme Herausforderung, ja Überforderung für alle Beteiligten in Chor und Orchester, so dass dem Werk ein Erfolg versagt blieb – die offensichtlichen Mängel in der Darbietung ließen Elgars als »Sacred Cantata« angekündigtes Opus in nicht allzu günstigem Licht erscheinen. Auch gehörte der Komponist zu dieser Zeit noch nicht zum musikalischen »Establishment«, zum Kreis der allgemein anerkannten Künstler, denen schon aufgrund ihrer Prominenz erhöhte Aufmerksamkeit und Wertschätzung sicher waren.

Dass »The Dream of Gerontius« jedoch noch innerhalb des ersten Jahrzehnts nach der Uraufführung am 3. Oktober 1900 in der Town Hall Birmingham zum beliebtesten englischsprachigen Oratorium ‒ gleich nach Händels »Messiah« ‒ avancierte, ist einer besonderen, nicht unbedingt erwartbaren Entwicklung zu danken. Julius Buths (1851-1920), der Direktor des seit den Zeiten Mendelssohns sehr öffentlichkeitswirksamen Niederrheinischen Musikfestes, einer der Protegées von Richard Strauss, zeigte sich von Elgars Werk überaus angetan, so dass er sich dazu entschloss, es in Düsseldorf zur Aufführung zu bringen. Am 19. Dezember 1901 erklang es unter Buths‘ Leitung (er selbst hatte die deutsche Übersetzung des gesungenen Textes angefertigt), unter Anwesenheit des Komponisten. Er wurde zum Zeugen eines glänzenden Erfolges, der einem Triumph gleichkam. Für das Jahr darauf wurde sofort eine Reprise angesetzt, die ein ebenso begeistertes Echo fand.

Die außergewöhnliche Resonanz auf dem Kontinent strahlte wiederum nach Großbritannien aus: »The Dream of Gerontius« stieß fortan auf enormes Interesse und führte zu mehreren Nachfolgeaufträgen für Elgar, der 1903 und 1906 mit »The Apostles« und »The Kingdom« zwei weitere groß dimensionierte oratorische Werke für das Birmingham Festival komponierte. Eine Komposition mit dem Titel »The Last Judgement«, die diese Serie eigentlich beschließen sollte, gedieh indes über Entwürfe nicht hinaus.

Obschon es sich sowohl bei »The Apostles« als auch bei »The Kingdom« um zwei qualitativ hervorragende Oratorien handelt ‒ und zwar durchaus im europäischen Maßstab ‒ blieb doch »The Dream of Gerontius« das eigentliche »Aushängeschild« für Elgar und das moderne englische Oratorium. Die zunächst noch existierenden Widerstände gegen das Werk von Seiten der anglikanischen Staatskirche, die Newmans Text und Elgars Vertonung als zu katholisch und als nicht unbedingt kompatibel mit den religiösen Lehren der Mehrheitsgesellschaft empfanden, wichen bald einer nahezu flächendeckenden Zustimmung. Beim Three Choir Festival, das alle drei Jahre auch in Elgars Heimatstadt Worcester zu Gast war, erfreute sich der »Gerontius« einer beispiellosen Beliebtheit, ebenso bei den anderen großen englischen Musikfesten sowie in der Metropole London. Bedeutende Dirigenten nahmen sich des Werkes an und führten es auf neue Höhenflüge. Und Elgar selbst, nunmehr Sir Edward, zeichnete es für die Schallplatte auf: 1917 in Ausschnitten, in Gänze dann 1927 im Zuge von Aufführungen in der Londoner Royal Albert Hall und beim Chorfestival in Hereford. Zu dieser Zeit hatte »The Dream of Gerontius« ‒ über den besagten Umweg via Deutschland ‒ längst jenen herausgehobenen Status innerhalb der englischen Musik gewonnen, den das Werk bis heute unangefochten besitzt.

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