»CARMEN«, EIN MYTHOS?

Kreativ war die Moderne in Wissenschaften, Künsten und Techniken; dagegen hat sie – im Vergleich mit ihren vielfältigen Versuchen, alte Mythen wiederzubeleben – nur wenige neue Mythen hervorgebracht. Zu diesen neuen Mythen gehört CARMEN, eine Erzählung, die den Vergleich mit antiken und mittelalterlichen Stoffen – von Orpheus und Eurydike bis Tristan und Isolde – ebenso wenig zu scheuen braucht wie den Vergleich mit Faust oder Don Juan.

Dabei fällt es gar nicht leicht, die mythischen Motive der CARMEN auf den ersten Blick zu erkennen. Die Rahmenhandlung der Novelle Mérimées – sie wurde ursprünglich publiziert in der »Revue des Deux Mondes« vom 1. Oktober 1845 – drängt den Erzähler als Wissenschaftler und Reiseschriftsteller in den Vordergrund. Einleitend figuriert er als Geograph und Übersetzer, als Historiker und Archäologe, im Schlusskapitel als Sprachforscher und Ethnologe. (Das Schlusskapitel hatte Mérimée erst für die Buchausgabe von 1847 hinzugefügt, angeblich um die Vorwürfe des Amoralismus zu widerlegen.) Doch gegen alle Spuren einer bunten »espagnolade«, gegen exotische Folklore und Zigeuner-Klischees, behauptet sich die Erzählung des Don José aus Navarra, im Zentrum der Novelle. Sie schildert die Unausweichlichkeit und Ausweglosigkeit einer Beziehung zwischen zwei Charakteren, die einander weder vermeiden noch überwinden können.

Erst die Oper Bizets lässt Don José tendenziell als Schwächling – und CARMEN als dämonische Kokotte – erscheinen. Mérimées Geschichte erinnert dagegen in ihrer Geradlinigkeit und ihrem Tempo an eine antike Tragödie (und eigentlich nicht an das Libretto für eine »opéra comique«). Die beiden Personen stoßen buchstäblich aufeinander; die Blüte, die CARMEN dem Wachoffizier bei ihrer ersten Begegnung ins Gesicht wirft, trifft ihn – wie eine Kugel – zwischen den Augen. Aus dem Wechselspiel zwischen Zufällen und den unbedingten Imperativen des Begehrens bildet sich das Schicksal: vorhersehbar durch Orakelsprüche, aber nicht korrigierbar – kein heroisches Fatum der Liebe oder der Natur (wie Nietzsche behauptete), sondern ein Fatum der Herkunft.

Aus dem Fatum der Herkunft, der Genealogie, schlugen die griechischen Tragödien ihr Feuer. Die Abstammung – die Bindung an die Regeln der Verwandtschaft, des Inzestverbots, der Blutrache, der Totenbestattung – zwingt Ödipus zu Blendung und Verbannung, zwingt Orest zum Muttermord, zwingt Antigone zum tödlichen Widerstand gegen das Gesetz Kreons. Dem Schicksal der Genealogie beugen sich selbst die Götter. So ähnlich verhält sich auch CARMEN, zumindest in der Novelle. Sie duldet keine Einschränkung ihrer Freiheit – der Freiheit zu gehen, wann sie will, und der Freiheit zu lieben, wen sie will –, doch sie akzeptiert das vaterrechtliche Stammesgesetz, das ihrem Mann, dem »Rom«, erlaubt, sie zu töten, wenn sie ihm untreu ist: »Als mein Rom hast du das Recht, deine Romi zu töten, aber CARMEN wird immer frei sein. Als Calli wurde sie geboren, als Calli wird sie sterben.« [125]

Als »Calli«, als Zigeunerin, warnt sie ihren baskischen Liebhaber schon bald, er möge sich hüten vor ihrer Liebe. Und sie spricht nicht von jener Dynamik des Begehrens, die in Novelle wie Oper mit dem vulgärpsychologischen Bild von der Katze illustriert wird, die nur kommt, wenn sie nicht gerufen wird, sondern rekurriert neuerlich auf das Gesetz. »Weißt du, mein Sohn, ich glaube, ich liebe dich ein bißchen. Aber das wird nicht halten. Hund und Wolf halten es nicht lange miteinander aus. Vielleicht, wenn du zum Zigeunerrecht (»loi d’Egypte«) wechselst – vielleicht würde ich dann gern deine Romi. Aber das sind Dummheiten, daraus wird nichts.« [77]

CARMEN bleibt ihrer Herkunft treu – nicht ihren Liebhabern und Ehemännern. Sie nimmt das Fatum ihrer Tötung an, so wie sie ihre Orakelsprüche annimmt, vergleichbar den antiken Helden der Mythologie, die den Tod akzeptierten, ohne ihn zu wünschen. (Selbst Sokrates verweigerte bekanntlich die Flucht, weil er die Stimme der Polis für wichtiger hielt als die innere Stimme seines »Daimon«.) CARMENS Tod erinnert darum eher an das einsam-trotzige Sterben der Antigone im Felsengrab, als an den Liebestod der Isolde: an einen Tod, der nicht – »per amorem fati« – gewünscht oder anerkannt, sondern einfach erreicht wird, wie das Ziel eines Weges.

Text von Thomas Macho
aus „Carmenvariationen“

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