Babylon – Die Stadt und ihr Mythos

Am 9. März feiert Jörg Widmanns Oper »Babylon« in einer überarbeiteten Berlin Fassung Premiere an der Staatsoper Unter den den Linden. Der Komponist stellt die multikulturelle Gesellschaft der vorantiken Hochkultur-Metropole ins Zentrum seiner Oper. Dramaturg Roman Reeger beleuchtet den Mythos Babylon.

Bis heute verbindet sich der Name der Stadt Babylon, die für fast zwei Jahrtausende die Vormachtstellung im südlichen Teil des Zweistromlandes beanspruchte, mit mythischen Erzählungen und Legenden. Die biblische Allegorie der »Hure Babylon«, die sich vermutlich konkret auf das römische Weltreich bezog, wurde zur vielgestaltigen Metapher für das Sündhafte und den systematischen Verfall moralischer Wertkategorien. Ihr großer Reiz ist hierbei zugleich vergänglich: die Hure Babylon, die soeben noch in prächtigster Schönheit erschien, wird im nächsten Moment in bitterste Armut, Nacktheit und Einsamkeit gestürzt sein, heißt es sinngemäß in der Offenbarung des Johannes (17-19). Folgerichtig erscheint auch die Erzählung des »Turmbaus zu Babel« als Zeichen menschlicher Hybris, die von Gott mit der »Sprachverwirrung« bestraft wird (Genesis 11).
Konsequent setzt sich die jüdisch-christliche Erzählung vom Mythos Babylon in der Moderne fort. In seinem Roman »Berlin Alexanderplatz« beschreibt Alfred Döblin, wie der Protagonist Franz Biberkopf den Verlockungen der Berliner Unterwelt der 1920er Jahre verfällt (»Die große Hure, die Hure Babylon, die da am Wasser sitzt«). Im selben Jahrzehnt entwarf Fritz Lang in seinem monumentalen Film »Metropolis« das modern-dystopische Bild einer zukünftigen Großstadt und assoziierte es mit dem Tanz der Hure Babylon. Nicht zuletzt wurde das »System Babylon«, das Musiker wie Bob Marley anprangerten, zu einem Synonym des westlichen Gesellschaftsmodells, das für Ausbeutung, Unterdrückung und einen zentralistischen Herrschaftsanspruch steht, und Zeitungen schreiben von »babylonischen Zuständen«, wenn über Entwicklungen des urbanen Zusammenlebens vor dem Hintergrund globaler Migrationsbewegungen berichtet wird.
Wenngleich Babylon somit nie aus dem Bewusstsein verschwunden ist, blieb es 2000 Jahre lang verborgen. Jenseits der biblischen Erzählungen, stellten die Beschreibungen der griechischen Autoren Berossos (um 300 v. Chr.) und Herodot (490-420 v. Chr.) lange die maßgeblichen Quellen über die babylonische Kultur und Gesellschaft dar. Herodot beschrieb sie als »schönste Stadt von allen, die wir kennen« und lieferte in seinen »Historien« detaillierte Informationen über das Zusammenleben in der Stadt während ihrer Blütezeit. Dass Herodot selbst nie in Babylon war, erklärt womöglich, dass sich viele Berichte später als ungenau bzw. falsch herausstellten – so behauptete er zum Beispiel, dass sich jede einheimische Frau mindestens einmal in den Tempel der Aphrodite setzen müsse, um Geschlechtsverkehr mit einem fremden Mann zu haben.
Im 19. Jahrhundert begannen die systematischen Ausgrabungen französischer, englischer und deutscher Gesellschaften in Nord- und Südmesopotamien, die das Bild Babylons abermals veränderten. 1899 gelang es dem Architekten und Archäologen Robert Koldewey, der für die Deutsche Orientgesellschaft (DOG) arbeitete, die Fundamente Babylons freizulegen: u. a. die Zikkurat Marduks (Vorbild des Babel-Turms), den Palast Nebukadnezars und die gewaltigen Mauern der Stadt. Außerdem wurden tausende Keilschrifttafeln gefunden, die neue Erkenntnisse über das Leben in Babylon brachten.
Etwa 90 Kilometer südlich von Bagdad gelegen, existierte Babylon spätestens ab der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. Die Ausgrabungen zeigen eine Stadtarchitektur von bemerkenswerten Ausmaßen. Der in der Mitte verlaufende Fluss Euphrat trennte die Stadt in zwei Teile. Am östlichen Ufer, in der Stadtmitte befand sich der wohl eindrucksvollste Bau: die Zikkurrat, ein sich in sieben Stufen erhebender Turm, der dem Stadtgott Marduk geweiht war und die Verbindung von Himmel und Erde repräsentierte, weshalb er den Namen »Etemenanki« erhielt, was in sumerischer Sprache »Haus der Fundamente von Himmel und Erde« bedeutet. Auf einer Grundfläche von 90 X 90 Meter soll seine Höhe 91 Meter betragen haben. Von hier führte die 900 Meter lange und 20 bis 24 Meter breite »Prozessionsstraße« nördlich an den Königspalästen vorbei in Richtung des 12 Meter hohen Ischtartors, das heute im Berliner Pergamonmuseum zu sehen ist, und endet am außerhalb der Stadt gelegenen Neujahrsfesthaus. Die Bevölkerung setzte sich in der spätbabylonischen Zeit aus verschiedensten Ethnien und Kulturen zusammen, die mehr oder weniger friedlich koexistierten. Babylonier, Ägypter, Aramäer, Juden, Ionier, Anatolier und Phönizier, später auch Perser und Griechen, bildeten die multikulturelle und -religiöse Stadtgesellschaft. Die offizielle Religion spielte in Babylon vermutlich eine nur sehr geringe Rolle, so konnten alle Gruppen ihrer jeweiligen religiösen Praxis nachgehen. Die genaue Einwohnerzahl lässt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit rekonstruieren. Ausgehend von den äußeren Stadtmauern, die eine Fläche von 350 Hektar umfasst, ergibt sich mit einer Einwohnerzahl von 50 000 bis 80 000 eine Größenordnung, die im Verhältnis den größten Weltstädten in der heutigen Zeit entspricht.

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