»… einfach wunderbar gedichtet und komponiert«
René Jacobs, den seit vielen Jahren eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit mit der Staatsoper verbindet, bringt gemeinsam mit der Regisseurin Eva-Maria Höckmayr Georg Philipp Telemanns »Emma und Eginhard« zur Berliner Erstaufführung. Im Gespräch mit Dramaturg Detlef Giese spricht er über die Arbeit mit dieser selten gespielten Barockoper.
Lieber René, die Musik Georg Philipp Telemanns begleitet Dich ja schon einige Jahrzehnte. Wie bist Du eigentlich mit Werken dieses Komponisten in Berührung gekommen?
Zum ersten Mal sind mir Kompositionen von Telemann als Sänger begegnet. Einige seiner zahlreichen geistlichen Kantaten, die für einen Countertenor sehr viel gute Musik bereithalten, habe ich auch aufgenommen. Eine Reihe von Arien aus »Emma und Eginhard« lernte ich dann kennen, als ich mich mit dem »Getreuen Music-Meister« beschäftigt habe, einer losen Sammlung von Vokal- und Instrumentalstücken, die Telemann 1728/29 für eine Zeitschrift mit diesem Titel zusammengestellt hat. »Emma und Eginhard« war gerade komponiert worden und somit ein ganz frisches Werk. Besonders beeindruckt haben mich hierbei Eginhards Arie »Vergiss dich selbst, mein schönster Engel« sowie das Duett »Ich folge dir bis zur Welt Ende«. Zu dieser Zeit habe ich mich noch nicht sonderlich für Telemanns Opernwerke interessiert, eher für diejenigen Händels. Zwei von Telemanns künstlerisch hochstehenden Opern habe ich dann später an der Berliner Staatsoper Unter den Linden dirigiert: »Orpheus oder die wunderbare Beständigkeit der Liebe« 1994 sowie »Der geduldige Sokrates« 2007. Ich bin sehr froh, dass diese Arbeit nun mit der Produktion von »Emma und Eginhard« im Schiller Theater eine Fortsetzung findet.
Den Beginn der mittlerweile über zwei Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin, einem Deiner »Hausensemble«, markiert 1989 eine Aufnahme von Telemann-Kantaten und -oden. Welche Erinnerungen hast Du daran?
Es war eine andere Zeit damals, ohne Zweifel. Die Akademie für Alte Musik, mit der ich ja oft und sehr gerne Projekte verwirkliche, hatte sich als »Early Music«-Ensemble erst wenige Jahre zuvor gebildet. Musikerinnen und Musiker aus verschiedenen Berliner Orchestern fanden sich nach Dienstschluss zusammen, um sich der sogenannten »historisch informierten Musikpraxis« zu widmen. Sie spielten 1989 – immerhin noch vor dem Fall der Berliner Mauer – auf keinen wirklich guten Instrumenten, auch bei weitem noch nicht so professionell wie heute, aber es war eine außergewöhnliche Begeisterung spürbar. 1992 haben wir dann mit Bachs Messe in h-Moll das erste größere Werk gemeinsam erarbeitet und aufgenommen. Telemanns Musik rückte dann mit der Aufnahmen von »Orpheus« in den 1990er Jahren und der »Brockes-Passion«, einem seiner wohl besten Werke, das wir 2008 eingespielt haben, wieder in den Mittelpunkt.
Wenn man mit wenigen Worten die besonderen Qualitäten von Telemanns Musik beschreiben sollte: Was wären aus Deiner Sicht die wesentlichen Charakteristika?
An Telemann klebt unausrottbar das Etikett »Vielschreiber«. Es stimmt zwar, dass er unglaublich viel komponiert hat, aber es ist auch viel Gutes darunter. Gegenüber Bach und Händel tritt er immer in den Hintergrund. Ich sehe da eine gewisse Parallele zu Haydn, der im Vergleich zu Mozart auch unterrepräsentiert ist. Dabei hätte Telemann durchaus ein großes Festival verdient, bei dem zumindest eine Ahnung von seinem Gesamtwerk vermittelt werden könnte. Vor allem betrifft das auch seine Opern, die leider nur sehr selten gespielt werden, wie ohnehin die deutsche Barockoper insgesamt eine viel größere Beachtung als bisher finden sollte. Die häufig sehr bühnenwirksamen Werke von Keiser oder Telemann zeichnen sich nämlich durch eine besondere Reichhaltigkeit der musikalischen Formen und Klangfarben aus und lassen sich kaum auf einen Stil festlegen. Telemann etwa hat sowohl Elemente aus der italienischen wie der französischen Oper in seine Stücke integriert. Zudem gelang es ihm, die Musik seiner Zeit wesentlich zu prägen, indem er entscheidende Wendungen mit vollzog, so etwa auch gegen Ende seines Lebens den Umschwung zum frühklassischen Stil. Dass ein Komponist über einen derart langen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten an der Spitze der Musikentwicklung stand, ohne jemals »altmodisch« zu werden, ist schon erstaunlich.
Mit Telemanns Opern beschäftigst Du Dich bereits eine ganze Weile, zum dritten Mal bereits an der Staatsoper. Nach den schon erwähnten Stücken »Orpheus« und »Der geduldige Sokrates« kommt nun »Emma und Eginhard«. Was ist das Reizvolle, gerade dieses Stück auf die Bühne zu bringen?
»Emma und Eginhard« ist eine Oper, die sowohl im Blick auf den Text wie auf die Musik auf höchstem Niveau steht. Die kompositorische Qualität ist wirklich hervorragend, viele Teile der Partitur reichen an Bach heran. Es muss zwar spekulativ bleiben, aber ich glaube, wenn Bach damals in Hamburg gewesen wäre – er hatte ja Pläne, als Organist dorthin zu wechseln –, dann hätte er womöglich auch Opern komponiert. Vielleicht wäre er dann auch näher an Telemann als an Händel gewesen. Händels Opern sind gewissermaßen immer für das große Publikum geschrieben und entsprechen im Großen und Ganzen auch dessen Erwartungshaltung. Telemann scheint mir da mutiger zu sein, indem er nicht unbedingt publikumskonform vorgeht. Seine Librettisten und er halten den Besuchern der Aufführungen immer wieder den Spiegel vor und lassen – wenn auch in begrenztem Maße und manchmal versteckt – Gesellschaftskritik in ihre Werke einfließen.
Nach dem Urteil des Musikforschers Helmuth Christian Wolff stellt »Emma und Eginhard« einen der Höhepunkte der Hamburger Barockoper dar. Teilst Du diese Meinung?
Zweifellos kennt Wolff eine größere Zahl an Werken als ich, zumal er noch Gelegenheit hatte, umfangreiche Materialien einzusehen, die dann im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen bzw. vernichtet worden sind. Ich glaube ihm aber gern. Das Sujet von »Emma und Eginhard« ist sehr poetisch, z. B. die legendäre Szene im Schnee. Viele Arien sind bei aller melodischen Schönheit sehr virtuos gehalten und stellen hohe Ansprüche an die Sängerinnen und Sänger. Darüber hinaus ist auch die Gestaltung der meisten Rezitative ungewöhnlich gut, da sie sehr expressiv gehalten sind. Ausgewählt haben wir das Werk auch deshalb, weil Telemann auffällig viele verschiedene Klangfarben mit einbezieht, vor allem in den Bläserstimmen. So verlangt er etwa für eine Arie einen sehr beweglichen Corno da caccia-Part. Ein sehr besonderes Instrument ist auch die Flauto d’amore (bzw. Flauto traverso grosso, die unser Flötist Christoph Huntgeburth eigens neu konstruiert und gebaut hat – so wie es die Pioniere der historischen Aufführungspraxis in den 1960er und 1970er Jahren getan haben.
Die Musik von »Emma und Eginhard« ist ja stilistisch wie satztechnisch ausgesprochen vielfältig und zudem von einem großen Ausdrucksreichtum geprägt. Welche Stücke aus der umfangreichen Partitur findest Du besonders gelungen?
In vielen Stücken demonstriert Telemann seine Fähigkeit, »gelehrt« zu komponieren. Die Tradition des deutschen Kontrapunkts, der ja in erster Linie mit den Namen Bach verbunden wird, hat sich auch Telemann zueigen gemacht: In »Emma und Eginhard« zeigt er uns, dass eine Fuge durchaus auch »dramatisch« sein kann, wenn sie im richtigen Kontext erscheint. Höhepunkte der Partitur sind für mich etwa die »Wellen-Arie« der Hildegard (»Meine Tränen werden Wellen«), aber auch das »Liebes-ABC«, das in unserer Aufführung von den beiden Titelgestalten gemeinsam gesungen wird: Es ist einfach wunderbar gedichtet und komponiert. Die Arien von Emma sind eigentlich alle ganz phantastisch, jede auf ihre eigene Art. Oft sind es bestimmte Begriffe, die eindrucksvoll musikalisch aufscheinen, wie etwa das »im Garn bestrickte Reh« (in der Arie »Je mehr, dass ich mich widersetze«), der »Irrstern meiner Sinnen« oder »meiner Jugend frische Nelken« in den großen Arien des zweiten und dritten Aktes. Aber auch die Wut- und Rachearie von Carolus »Glühende Zangen« und einige der Duette sind hervorragend geschrieben – immer im Dienst des Ausdrucks und der dramatischen Handlung.
Es waren ja einige Eingriffe, vor allem Kürzungen, vonnöten, um das Werk überhaupt auf eine für heutige Gewohnheiten annehmbare Spieldauer zu bringen. Welche Kriterien waren hier maßgeblich?
»Emma und Eginhard« ist ja bewusst als eine »Festoper« konzipiert worden, zum 50-jährigen Bestehen des Hamburger Opernhauses am Gänsemarkt. Telemann hatte in Kooperation mit seinem Librettisten Wend offenbar vor, ein wirklich großes, ambitioniertes Werk zu schaffen, mit vielen Personen, vielen musikalischen Nummern (insgesamt sind fast 50 Arien und Duette in der ungekürzten Fassung enthalten) und einem großen Abwechslungsreichtum. Wir standen vor dem Problem, anstelle der Gliederung in drei Akte mit zwei Pausen einen Abend zu kreieren, der mit lediglich einer Pause auskommt und einen gewissen Zeitrahmen – maximal drei Stunden haben wir uns als Ziel gesetzt – nicht überschreitet. Beinahe jede Rolle war deshalb von Kürzungen betroffen, viel gute Musik musste dadurch notgedrungen wegfallen. Zum Teil haben wir Arien verknappt, aber auch vollständige Nummern oder sogar einzelne Szenen sind gestrichen worden, immer in enger Abstimmung mit der Regisseurin Eva-Maria Höckmayr und ihrem Team.
Was wünschst Du Dir von dieser Produktion im Schiller Theater? Wäre damit womöglich ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Rehabilitierung des so häufig als »Vielschreiber« geschmähten Telemann getan?
Mit der »Orpheus«-Inszenierung und der nachfolgenden Aufnahme hat sich ja schon Einiges getan: Sie wurden zum Auslöser für eine immer intensiver werdende Beschäftigung mit Telemanns Opern. In Hamburg und Stuttgart gab es beispielsweise Produktionen, außerdem an einigen kleineren und mittleren Häusern. Zumeist jedoch mit den Opernorchestern vor Ort und nicht wie bei uns mit einem Spezialensemble auf alten Instrumenten, das einen besonderen »Sound« mitbringt und ohne viel Erklärungen fühlt, wie es das Rhetorische dieser Musik umsetzen muss. Ich hoffe sehr, dass unsere Aufführung von »Emma und Eginhard« dazu beitragen wird, den Opernkomponisten Telemann weiter zu entdecken. Persönlich möchte ich noch einige Telemann-Projekte verwirklichen, so u. a. das Passionsoratorium Der Tod Jesu (auf den gleichen Text, den 1755 auch Carl Heinrich Graun in seinem damals sehr populären Werk vertont hat) oder die Kantate »Ino« – und vielleicht auch noch die eine oder andere Oper.
Zum Schluss noch ein interessantes Detail: Der historische Einhard, der Eginhard unserer Oper, war nicht nur eine einflussreiche Person am Hofe Karls des Großen, sondern auch Abt von St. Bavo in Gent, Deiner Heimatstadt. Ist das nicht ein schönes Zusammentreffen?
Ich habe es ja schon immer geahnt! (lacht) Aber im Ernst: Ich freue mich, dass ich jetzt darum weiß, auch wenn die Kirche, in der ich als Sängerknabe aktiv war, nicht dieselbe ist, die Einhard/Eginhard gekannt hat. Auch den berühmten Genter Altar aus dem 15. Jahrhundert gab es damals noch nicht. Obwohl er Eginhard, dem Feingeist, ganz sicher gefallen hätte …
Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zu »Emma und Eginhard«