Ich will erzählen

Staatsoper Berlin - Claus Guth - Foto: Monika Rittershaus

Claus Guth zählt seit langem zu den international arriviertesten Opernregisseuren. An der Staatsoper im Schiller Theater inszeniert er in dieser Spielzeit Benjamin Brittens »The Turn of the Screw«. Wir sprachen mit ihm über seine Liebe zu Mozart, narrative Energien, den Unterschied zwischen Einfällen und Ideen sowie die Frage, was eigentlich Realität ist.

Lieber Claus Guth, es fällt auf, dass Sie Mozarts Dramma giocoso »Così fan tutte« binnen fünf Jahren drei Mal inszeniert haben, zuletzt an der Mailander Scala. Besitzen Sie eine besondere Affinität zu diesem Stück?
In gewisser Weise, ja. Die beiden anderen Da Ponte-Opern, »Le Nozze di Figaro« und »Don Giovanni«, sind sofort eingeschlagen, beide Salzburger Arbeiten waren auf dem Punkt, da habe ich meine Tür gefunden. Mit meiner »Così fan tutte« von 2009 war ich hingegen leicht unzufrieden, mir hing das zu sehr an Äußerlichkeiten, ich drang nicht richtig zum Kern vor. Als die Idee aufkam, noch einmal alle drei Opern en bloc aufzuführen, habe ich Markus Hinterhäuser gebeten, die »Così« revidieren zu dürfen. Ich habe dann eine völlig neue Regie gemacht, so eine Art choreographisches Experiment im Don Alfonso-Labor, gewissermaßen eine Operation am offenen Herzen. Und das Verrückte war: Es war wieder nicht ganz so, wie ich es erhofft hatte. Beim ersten Mal war ich dem Spielerischen zu sehr auf den Leim gegangen, beim zweiten Mal dem Theorielastigen. Deswegen stand der Entschluss fest: Nie wieder dieses Stück! Dann aber bot Daniel Barenboim mir mit Engelszungen an, das Stück in Mailand zu inszenieren. Da konnte ich einfach nicht widerstehen.

Und, wie ist es Ihrer Ansicht nach geworden?
Nun, ich habe die beiden vorherigen Inszenierungen miteinander vermischt: das Abstrakte und das Verspielte. Mit Letzterem habe ich begonnen, um am Schluss die Schraube weiterzudrehen; indem ich im zweiten Teil ganz entschieden darauf hinweise, dass die beiden Paare sich erkennen. Das Finale II geriet so zu einem Wutausbruch, in dessen Verlauf die Enttäuschung der Frauen über das abgeschmackte Spiel der Männer in aller Schärfe hervortritt. Das hatte, wie ich finde, ganz schön viel Power.

D’accord. Bleibt die grundsätzliche Frage, wie es ist, wenn man ein Stück mehrfach inszeniert. Wird es einem vertrauter? Oder vergrößert sich im Gegenteil das Rätsel, weil sich, je näher man einem Gegenstand oder einem Menschen kommt, der Blick auf das Objekt der Begierde desto mehr verengt und man nurmehr Ausschnitte des Ganzen sieht?
Eigentlich kann ich diese Frage nicht abschließend beantworten, denn ich hatte mit mir selbst einen Deal ausgehandelt: jedes Stück nur einmal. Mozarts »Così« ist diesbezüglich eine merkwürdige Ausnahme. Und es ist wirklich so: Der Salat im Kopf wächst eher, als dass es sich stärker sortieren würde. Und insbesondere dieses Stück macht mich wahnsinnig.

Warum?
Weil ich es nicht geknackt kriege, weil ich immer wieder dagegen anrenne. Und es ist erstaunlich, an wie vielen verschiedenen Stellen ich abpralle. Aber ich gebe mich damit zufrieden, dass ich sehr nahe herangekommen bin. Und damit ist es auch gut.

Sie sind ziemlich lange im Geschäft, Sie können viel und haben damit das Privileg, aussuchen zu dürfen. Schauen Sie jetzt nur noch nach neuen Stücken, oder streben Sie mehr nach ästhetisch-theatraler Vervollkommnung? Und: Worin liegt noch die Herausforderung?
Ich nehme die Energie schon daraus, dass ich immer wieder aufs Neue versuche, mir ein Stück »vor die Flinte zu holen«, von dem ich denke: Das kann ich eigentlich nicht oder: Das ist mir zu schwierig, zu fremd. Ein zweiter Weg sieht dergestalt aus, dass ich mir permanent Widerstände suche, um mich selbst aus jedwedem Anflug von Routine wieder herauszuschubsen. Und ein dritter, dass ich, wie im letzten Jahr, bewusst nur Projekte mache, wie eine »Fliegender Holländer«-Überschreibung: »SehnSuchtMEER« und »Lazarus« [Schubert / Ives] in Wien, wie »AscheMOND oder The Fairy Queen« im Schiller Theater. In allen drei Fällen habe ich die Regisseurs-Rolle anders, neu definiert: Ich reagiere dabei nicht nur auf ein existierendes Werk, sondern schlüpfe vielmehr in die Autorenrolle und versuche, direkt zu erzählen. Dieses Modell bildet in meiner Zukunftsplanung eine wichtige Komponente. Ich möchte mindestens ein Projekt pro Spielzeit realisieren: als eine Art theatralische Forschung, bei der ich mit erzählerischen und musikalischen Formen experimentiere. Und einen Teil der dabei gewonnenen Erkenntnisse nehme ich dann mit, wenn ich einen so genannten »Klassiker« inszeniere.

Das klingt fast so, als wäre Ihnen dieser Prozess einer Transgression hin zu einer freien Autorenschaft wichtig, um nicht als Regisseur zu ermüden.
Ja, das Bedürfnis danach habe ich. Denn manchmal kommt mir das Regietheater, in dem ich ja leidenschaftlich tätig bin [schmunzelt] , schon absurd vor in seiner Routiniertheit und beinahe reflexhaften Art der Reaktion, die doch erstaunliche Konstanten aufweist. Das Forschen ist sozusagen meine Antwort darauf: dass es eine Verpflichtung gibt, sich auf die Suche nach Alternativen zu begeben. In dieser neugefundenen Rolle kann man sich eher an seinem eigenen Anspruch messen, wenn man fragt: Wie gut hat eigentlich der Regisseur den Autor umgesetzt? Ein fast schizophrener Akt. Da juckt mich einiges, und da durchstreift auch mich manchmal, wenn ich eine klassische Oper ansehe, die Ahnung, dass der Schluss eines bestimmten Aktes eigentlich Quatsch ist oder die Musik ungenügend. Mir fällt es in solchen Momenten schwer, den herkömmlichen Werkbegriff zu akzeptieren, den wir uns nicht trauen anzutasten. Und das irritiert mich zunehmend.

Aber geht es nicht auch in der Oper wesentlich darum, Geschichten zu erzählen, in einem ebenso magischen wie hermetischen Raum? In einem Raum, darin der Sultan sprich: das Publikum, sitzt, und die Oper ihn als Scheherazade mit einer schönen oder traurigen, jedenfalls spannenden Geschichte nach der anderen einwickelt? Ist es womöglich nicht sogar genau das, was die bürgerliche Kunstform Oper am Leben erhält?
Ich bin da ganz Ihrer Meinung. Und genau das ist, was ich dem Publikum in letzter Zeit verstärkt »zumute«. Ich versuche, es extrem narrativ an die Hand zu nehmen, aber nicht kleinteilig, in einer Arie oder in einem Ensemble, sondern dieses Publikum als Ganzes über eine ganz andere Erzähllinie zu erreichen, die frei schwebt, teilweise enge Berührungen hat und sich dann doch wieder sehr weit weg bewegt. Mit einem Wort: Ich will erzählen, aber eben nicht unbedingt die Geschichte, die im Opernführer abgedruckt ist.

Lassen Sie sich dabei stärker vom Text oder von der Musik inspirieren?
Ganz klar von der Musik. Ich fälle sogar meine Entscheidung, ob ich ein Stück mache oder nicht, immer — und das fast körperlich — anhand der Musik: Entweder sie berührt mich, oder sie berührt mich nicht.

Am Anfang steht also gleichsam die aristotelische Erschütterung?
Wenn Sie so wollen, ja. Zunächst blende ich aus, was da gerade jemand mit gesungenen Worten zum Ausdruck bringt. Die Musik an sich muss mich berühren und interessieren.

»Ich fälle meine Entscheidung, ob ich ein Stück mache oder nicht, immer – und das fast körperlich – anhand der Musik: Entweder sie berührt mich, oder sie berührt mich nicht.«

Der Regisseur Michael Thalheimer hat einmal den bedenkenswerten Satz gesagt, er hasse Regieeinfälle. Stimmen Sie ihm zu?
Sagen wir es mal so: Es genügt nicht, eine Oper in ein modernes Ambiente zu verfrachten, ohne eine weitreichende Vision dahinter zu haben, oder wenn Regieeinfälle etwas sind, um nur punktuell eine Situation zu knacken. Derlei Mogelpackungen gibt es leider sehr häufig, das ist simuliertes, abgestandenes Operntheater. Wenn ich aber, um ein Beispiel zu nennen, im »Don Giovanni« die Behauptung aufstelle, dass er im ersten Aufeinandertreffen mit dem Vater Donna Annas tödlich verwundet wird und sich daraus alles Weitere anders definiert …

… dann ist das eine These zum Stück, eine Idee: Don Giovanni stirbt: definitiv, unausweichlich. Was aber die Ideen an sich betrifft: Haben Sie manchmal das Gefühl, sich zu wiederholen?
Eine Zeitlang trugen dergleichen Beurteilungen schon fast das Gepräge des Skurrilen. Da hieß es dann im Bezug auf meinen Bühnenbildner Christian Schmidt und mich zunächst: Die machen ja immer ein Treppenhaus, dann: Die machen immer Drehbühnen, und schließlich: Die machen immer gespiegelte Räume oder arbeiten immer mit Doubles und Masken … Das ist im Ganzen schon ein erstaunliches Repertoire des ewig Gleichen.

Wie wichtig ist Ihnen die öffentliche Meinung?
Eine schwierige Frage. Ich bin da gerade an einem Wendepunkt. Bislang habe ich mich immer der Kritik geöffnet und jede Zeitung gelesen. Es gibt ja auch intelligente Menschen, die schreiben, und was solche Menschen schreiben, gibt mir zu denken, es regt mich an. Im Moment ist es aber eher so, dass ich beschlossen habe, mich mehr schützen zu müssen, da die Wiederholung gewisser Vorwürfe und Reaktionsweisen nicht mehr produktiv und konstruktiv sind.

Es bleibt ja das Theater selbst. Peter Konwitschny hat einmal gesagt, Theater sei der letzte Ort der Realität. Dialektisch gesehen, ein wunderbarer Satz, oder?
Ursprünglich wollte ich als Regisseur zum Film. Ich habe zwei Anläufe an der Filmhochschule gemacht, leider vergeblich. Dann, nach einigen Umwegen, kam ich zur Oper. Gleichwohl ist es manchmal so, dass ich spüre, wie sehr ich Teil dieses inzestuösen Systems bin, und in solchen Augenblicken weht mich der Gedanke an, dass ich eigentlich lieber Film machen möchte. Wenn ich dann vor mir selber rechtfertige, dass ich Oper und nicht Film mache, dann ist es schon immer wieder ein Faszinosum, dass ich in dieser direkten Überprüfung mit dem Zuschauer eine Welt kreiere, die ihre völlig eigenen Gesetzmäßigkeiten hat; solche, die ich erfinden kann. Und dann liebe ich es schon sehr, dass ich diese Welt kreieren kann, eine Welt übrigens, in die ich während der Proben relativ früh mir nahestehende Menschen einlade, die zuschauen und mir einfach nur sagen, was sie sehen. Und auf diese Eindrücke reagiere ich oft im Inszenieren. Das Spiel mit der Realität, die man erfindet, ist im Film völlig anders. Im Film kann ich am Ende, wenn ich die gedrehten Puzzlestücke aneinandergeklebt habe, nichts mehr machen, dann ist es zu spät.

Es gibt noch einen Unterschied zur Realität des Theaters. Beim Theater müssen, wenn es stattfindet, im Gegensatz zur virtuellmedialisierten Bilderwelt alle da sein, müssen mit dem Auto oder mit der U-Bahn hinfahren. Sich topisch auseinandersetzen.
Ich habe manchmal den Verdacht, dass ich bei der Oper gelandet bin, weil ich als Jugendlicher in Frankfurt in Inszenierungen von Ruth Berghaus und Hans Neuenfels hineingeriet. Ich habe seinerzeit nicht viel verstanden, aber es hat mich fasziniert. Es war unfassbar, was da schon während, aber mehr noch am Ende der Premiere im Publikum los war. Da sind extreme Emotionen aufgeplatzt, und diese erregte Reaktion hat mich fast mehr ergriffen als die Oper selbst. Entweder lasse ich mich mitreißen oder ich rege mich auf. Aber ich spüre etwas. Ich will einen Austausch. Und das ist schon erstaunlich, wie heftig das sein kann.

Ein Beispiel, bitte.
Gerne: Nach meinem »Tannhäuser« in Wien fegte ein Buh-Orkan über mich weg, den ich in dieser Massivität auch noch nicht erlebt hatte. Dann kamen die Kritiken, und sie waren teils euphorisch, teils extrem hart. Ein Rezensent schlug vor, Claus Guth endlich mal eine Psychoanalyse zu schenken, damit er das Publikum in Ruhe lässt.

Der Wiener Schmäh ist unerreicht.
Trotzdem hat die Reaktion des Publikums mich nicht schockiert, im Gegenteil: Das Ganze kam aus einer Liebe zur Kunstform Oper.

Aber Anarchisten sind bittschön nicht gestattet.
Das ist egal. Entscheidend war das Level an Emotionalität. Das hat mich berührt.

Dann sind wir mal gespannt, wie es in Berlin sein wird, wo Sie im Schiller Theater erstmals Brittens »The Turn of the Screw« inszenieren. Die Fragestellung des Stückes scheint ja hochgradig aktuell: Was ist eigentlich real?
Das ist das Thema, ja. Wobei Henry James dieser Fragestellung wesentlich nähergekommen ist als Benjamin Britten. In der Erzählung von Henry James, auf der die Oper basiert, ist ein vollkommener Schwebezustand erreicht: Wir können nicht mehr unterscheiden, ob die Protagonistin unheimlichen Vorgängen auf die Spur kommt oder alles nur eine bizarre Erfindung ihrer Phantasie ist. Diesen Schwebezustand möchte ich für den Zuschauer auch in Brittens Oper erreichen.

Die Stimmen der Geister können Sie nicht eliminieren.
Nein. Aber ich muss ja nicht unbedingt einen singenden Sänger auf der Bühne sehen. Wie auch immer, ich hadere mit dem Stück, da es das, was ich oft erst zu einer Oper erfinde, mir schon auf dem Serviertablett entgegenbringt. Gleichviel: Es ist ein Meisterwerk. Und viele Menschen sind der Meinung, ich sei als Experte für Abgründigkeit und Kindheit genau der richtige Mann für dieses Stück.

Sind Sie es denn nicht?
Ich hoffe, doch. Aber es ist eine lange, schwierige Reise.

Diesen Beitrag findet ihr auch in Staatsoper – Das Magazin No. 1. Das Gespräch führte Jürgen Otten. 

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