Im Innersten des tiefsten Schweigens

Lohengrin - Foto: Thomas M. Jauk

Über die Einzigartigkeit von Salvatore Sciarrinos Musiktheater — ein Text von Jan Verheyen

Die Konstellation ist überschaubar, intim, beinahe alltäglich: eine Frau, ein Mann. Doch schon ihre Namen — Il Malaspina und La Malaspina — deuten auf verhängnisvolle Verquickung. Liebende waren sie einmal, sind es nun nicht mehr. Ein anderer hat sich zwischen sie gedrängt und, indem er die Frau verführte, das straff gespannte Beziehungsband zertrennt. Die Folgen dieses Treuebruchs sind fatal. Der Mann, dem der Schwur heilig war, fühlt sich verraten, er sinnt auf Rache. Die Frau ahnt das, von Anbeginn an; ahnt, dass sie aus dem Paradies vertrieben worden ist, dass sie Venus ist, die Mars begegnet. Und sie singt sich diese Ahnung von der Seele. Aus der Ferne erklingt ihre Stimme, gänzlich unbegleitet, wie eine Fata morgana, aber auch wie einzige große Frage. Um sie herum Trugbilder, Visionen, das Dunkel. Nur Nyx, die mächtige Göttin der Nacht, wohnt darin. Aus ihren Augen scheint Verachtung zu blitzen.

Bereits im Prolog von Salvatore Sciarrinos zweiaktigem Musiktheater »Luci mie traditrici« [ Meine trügerischen Augen ], für den der Komponist eine Renaissance-Elegie bearbeitete, wird deutlich, worum es geht: um die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit von Liebe. Liebe ist nicht einmal mehr eine Möglichkeit. Eros hat abgedankt, an seiner Stelle thront Thanatos. Von der Rose, Symbol des Paradieses, sieht man keine Blätter, man sieht nur noch ihre spitzzackigen Dornen: tödliche Blume. Und so klingt die Musik in ihrem konzis-aphoristischen, staccatohaften Bruitismus: wie eine Folge von Nadelstichen, die unaufhörlich und ganz gezielt auf unsere Nervenbahnen prasseln. War Musik jemals Seelenzauber, so ist sie dies nurmehr in ihrer absoluten Negation. Willkommen im Inferno.

Es scheint dies der bevorzugte Ort für die Protagonisten in Sciarrinos Musiktheaterwerken, die Dante’sche Kammer des Schreckens, aus der es kein Entweichen gibt; selbst das Purgatorio scheint Lichtjahre entfernt, vom Himmel nicht einmal die Utopie. Und sie alle, deren Existenz auf dem Spiel steht, gleichen einander in ihrem erbarmunglosen Scheitern: La Malaspina und Il Malaspina in »Luci mie traditrici«, Elsa in »Lohengrin«, der König und seine Königin in »Macbeth«, die Mystikerin Maria Maddalena de’ Pazzi in »Infinito nero«, der Mann vom Land in »La porta della legge«, die Obdachlose in »Superflumina«, die Titelgestalten in »Perseo e Andromeda«. Was sie eint, ist der Schmerz der Schönheit, die Schönheit des Schmerzes, beides in einem. Sämtlich sind sie archetypische Dilettanten des Lebens, die ihr Dasein in der symbolischen Ordnung [ Lacan ] fristen, Gefangene im luftleer-geräuschvollen Zwischenreich zwischen Wahnsinn und Realität, in diesem Museum musikalischer Obsessionen. Ja, man möchte noch weiter gehen: Das Seiende zum Tode, hier wird es Gestalt. Und kein Ausweg, nirgends.

Ihr Klangraum ist vor allem ein psychologischer Raum. Und nicht nur für Macbeth und Lady Macbeth gilt, was der Komponist anmerkt, es gilt für alle Werke: Die »Halluzinationen des Traums und der Wirklichkeit« werden zum Leben erweckt. Es entsteht ein Treibhaus verbrecherischer Sehnsüchte, in dessen Klima der kranke Geist der Zerstörten metastasenhaft wuchern kann. Das klingt im Grunde in weiten Teilen wie vertonter Cioran, wie die Verkörperung der verfehlten Schöpfung aus dem Geiste Schopenhauers. Die Kunst, so hat es der Philosoph notiert, verbürge die reine, wahre Erkenntnis vom Wesen der Welt als Wille und Vorstellung. Und dieses Wesen ist Leiden.

Doch nicht nach aristotelischer Erschütterung trachtet Salvatore Sciarrino. Der Sinn steht ihm nach einer Verschärfung des Tragödienbegriffs. Damit finde, so der Komponist, das Theater zu einer erbauenden Funktion zurück, indem es nämlich den Zuschauer die Darstellung dessen betrachten lasse, was am wenigsten rational und zugleich am schrecklichsten sei: das Blutvergießen. »Da steht jemand vor uns, der nicht mehr er selbst ist, sondern zu jemand anderem wird«, sagt Sciarrino. »Das ist doch die Stärke des Theaters. Und deswegen erscheint es mir auch so wichtig, die Dramaturgie, die représentation zu rehabilitieren. Wenn ein Schauspieler sich auf seine Vorstellungskraft verlassen kann, dann braucht er sonst nichts. Dann werden wir unmittelbar woanders hingetragen. Das ist die dionysische Kraft des Theaters. Ohne sie verliert das Theater nicht nur seinen Zauber, es hat auch keinen Sinn. Mein Diskurs über das Theater entsteht aus der Negation der reinen Musik gegenüber der Macht der Vorstellung. Das ist ein Theater, das seine gesamte dramatische Kraft in der Sprache der Musik konzentriert und bei dem man die Interiosierung des Theaters in der Musik erreicht«.

Macbeth - Foto: Hermann und Clärchen Baus
Szene aus Salvatore Sciarrinos »Macbeth« auf der Baustelle Unter den Linden in der Inszenierung von Jürgen Flimm (2014)

Es ist eine Musik, die ohne die Philosophie Neuer Musik auskommt. Sciarrino ist Autodidakt, das verleiht ihm die nötige Freiheit; zugespitzt könnte man sogar sagen: Er ist der Häretiker unter den zeitgenössischen Komponisten. Dem Serialismus steht er ebenso fremd gegenüber wie einer Aleatorik, wie sie etwa bei Cage anzutreffen ist. Gerade in den Zeiten, da das von Adorno postulierte autonome Kunstwerk durch Parameter und Strukturen vom Geist der Wissenschaft durchdrungen wurde und einer positivistischen Kompositionsmethode huldigt, kehrte Sciarrino der ausgerollten und fest justierten Zukunftsbahn den Rücken und begab sich in die Antike. Für die Darmstädter Dogmatiker, denen etwa auch ein Neo-Romantiker wie Wolfgang Rihm als »geschockter Komponist« zu widerstehen suchte, war Sciarrino ein Naiver, ein Outsider, und es war klar, dass seine von Siziliens Kultur inspirierte Weltanschauung der Denkart der Vorsokratiker näher stand als der von Webern und Boulez, die sich auf Hegel und Descartes beriefen. Sentio ergo sum: Das ist der Satz, der anstatt des cartesianischen Cogito ergo sum gesetzt wird — wobei das gar nicht ausdrücklich gegen Descartes gerichtet ist, verstand dieser unter dem Begriff des Denkens doch nicht nur die rationalen, sondern alle selbstbewussten und selbstbezüglichen Operationen des Geistes, auch das selbstbewusste Gefühl. Wie auch immer, Sciarrinos musikalische Denkweise fußt auf seiner archaisch sizilianischen, mittelmediterranen Herkunft, auf Pirandellos Definition der sizilianischen conditio humana [»Jedes Ding ist, solange es dauert, zu seiner Form verurteilt, dazu, so zu sein, wie es ist. Immer muss er so bleiben, dieser Mensch, Zeit seines Lebens.«] Davon erzählt Sciarrinos Musik, erzählt von der Natur »als Klänge der Nacht«. Virulent ist hierbei des Komponisten Sensibilität für die Welt und ihre Geräuschklänge, deren Wurzeln gleichsam in der Ahnungslosigkeit eines magisch begabten Talents liegen, das, ohne sich dessen bewusst zu sein, sein historisches Gedächtnis in der Antike verortet.

Sciarrinos Musiktheater bildet das ab, ästhetisch wie weltanschaulich. »Ich habe«, so Sciarrino selbst, »eine post-technologische Vision der Welt. Ich halte mich an ihren ungewissensten, verschwommensten, unnahbarsten Elementen fest: dem Wind, dem Wasser, dem Stein.« Damit verbunden ist die Kritik Sciarrinos an einer Literarisierung der Klangprozesse: »Zu häufig sucht die Musik ihre Existenzberechtigung in einem szenischen Text. Hierbei vergessen wir, dass die Stärke der Sprache in ihrer Fähigkeit zur Repräsentation besteht: im Erschaffen einfacher Illusionen. Die Magie des Theaters entsteht nicht durch die Kombination der Musik mit dem Sichtbaren. Andererseits wirkt die Mischung mit der Realität häufig ablenkend [wenn eine Gegebenheit des Lebens, sei sie auch noch so klein, unsere Aufmerksamkeit unterbricht]. Selbst im alten Melodrama werden wir nicht so sehr von der Handlung auf der Bühne angezogen. Was uns stattdessen begeistert, ist, dass das Drama der Musik auf eine immer schon rational nicht bestimmbare, doch zugleich unmittelbare Art und Weise innewohnt.«

Dem entsprechend besteht Sciarrinos Musik aus unerhörten klanglichen Strukturen, aus zärtlichen Klangschleifen. Sie kreiert gazehafte Gebilde, durchscheinend und doch geheimnisvoll, fl ießende ätherische Agglomerate, Klangräume voller Leere, jedoch bleiern beschwert. Was daran auffällt: Sciarrino liebt die Flageoletts, er liebt es, höchste Klangregionen zu durchstöbern, mitsamt der vielfältig darin vorhandenen Obertöne. Fast könnte man sagen, es treibe ihn jener »Hunger nach himmlischen Dingen«, wie ihn der griechische Dichter Anaximanes beschrieben hat. Der Zeitgenosse von Pythagoras war es ja auch, der schrieb: »Das Weltall besteht aus Luft und ist zwei mechanischen Phänomen unterworfen: der Verdünnung und der Verdichtung; und das Feuer ist Luft in besonders verdünnter Form.«

Diese Prinzipien verficht Sciarrino in sämtlichen Werken, die er für das Musiktheater komponiert hat. Das Frappierende daran: Seine Autorenschaft ist ihm nicht einmal gewiss, geschweige denn bewusst: »Ich komme wie in eine Trance, wenn ich etwas schreibe, und wenn ich etwas schreibe, und wenn ich zum Ende komme, zum Beispiel bei meinen großen Partituren, dann weiß ich nicht: Wer hat das geschrieben? Ich bin nicht sicher!« Nur eines weiß Salvatore Sciarrino, das ist seine ureigenste weltanschauliche Überzeugung: »Wir müssen spirituell sein!«

Wer den Klangraum der Oper in zwei Akten »Luci mie traditrici« betritt, wer sich in Elsas Wahnwelt [in »Lohengrin«] hinein wagt, wer die drei namenlosen Akte von Macbeth durchlebt, wer das Spiel der Nicht-Berührung in Perseo e Andromeda mitzuspielen bereit ist, wer die kafkaesk-klaustrophische Sphäre von »La porta delle legge« erträgt, wer sich in die einaktige Ekstase in »Infinito nero« oder in das Monodram »Superflumina« versenkt [und alles andere als eine Versenkung ist schlechterdings nicht möglich, wenn man dieser Musik seine Sinne öffnet], der gewinnt rasch eine Ahnung, wie ernst es ihm damit ist, dem Meister der Trugbilder und der Insinuation von Weltschmerz. Spiritualität als Essenz einer Existenz, die sich stetig befragt und die Untiefen des Seins erkundet, das ein Nichts ist, oder, um es mit Nietzsche zu sagen, ein ununterbrochenes Gewesensein. Und doch alles, was wir haben.

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