Liebe und Chaos

Am 25. Oktober wird LOVE, YOU SON OF A BITCH, eine Musiktheaterperformance von Letizia Renzini mit Musik von Alessandro und Domenico Scarlatti, im Alten Orchesterprobensaal uraufgeführt. Hier findet Ihr ein Interview mit der Regisseurin.

Was sind für dich die Hauptthemen von LOVE, YOU SON OF A BITCH?
Die drei Hauptaspekte für mich sind die Liebe, ob erfüllt oder nur ersehnt, ihr Scheitern und ihre zeitliche Begrenztheit sowie die Flexibilität des Einzelnen im Spannungsfeld heutiger sozialer Beziehungen. Deshalb habe ich mich entschlossen, das Stück in einem Fitnessstudio anzusiedeln, einem Ort der Selbstoptimierung, wo unsere Bemühungen um unseren Körper kondensieren. Gleichzeitig geht es hier auch um Konkurrenz: Wer schafft die größte Leistung, wer steigert seine Attraktivität, seinen Marktwert? Alle stehen in unserem Raum unter Beobachtung der anderen, auch des Publikums, das wie bei einem Tribunal um die Fläche herum angeordnet ist. Beobachtet wird nicht nur die sportliche Leistung, sondern auch die »emotionale«: Denn auch mit den Gefühlen der anderen messen und vergleichen wir uns ständig.

Ich würde die Stückentwicklung als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bezeichnen.

Wie kam es zu dem Titel?
Ausgangspunkt unserer Stückentwicklung waren die Kammerkantaten von Alessandro Scarlatti. Als ich seine Werke auf der Suche nach geeigneten Stücken durchforstet habe, wollte ich mich nicht so sehr auf Scarlattis große, »offizielle« Werke wie seine Opern oder Oratorien konzentrieren – auch wenn ein paar Arien daraus in der endgültigen Auswahl gelandet sind. Ich habe nach Stücken gesucht, in denen sich Scarlatti künstlerisch frei entfalten konnte, frei von Beschränkungen seiner Auftraggeber wie der Kirche oder adligen Mäzenen, mit denen alle damaligen Künstler umgehen mussten. Dann fand ich heraus, dass sich von Scarlatti einige volkstümliche Lieder und Kantaten erhalten haben. Wahrscheinlich gab es noch viel mehr, aber die wenigsten hat er unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. Darunter ist auch die Kantate »Ammore, brutto figlio de pottana« in neapolitanischem Dialekt, deren Titel wir schließlich auch als Titel unserer Stückentwicklung gewählt haben. Diese Kantate wie auch die übrigen ausgewählten Stücke sind erstaunlich heutig. Ich würde die Stückentwicklung als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bezeichnen.

Zeit in eine Beziehung zu investieren, Blumen zu kaufen, ins Restaurant zu gehen, einfach füreinander Zeit zu haben, tritt heute in Konkurrenz mit der Karriere, beruflichem Druck, flexiblen Arbeitszeiten. Das alles unter einen Hut zu bekommen, ist heute vielleicht schwieriger als jemals zuvor.

Worin besteht die Aktualität von »Ammore, brutto figlio de pottana« konkret?
Die Kantate gibt einen Einblick in den Alltag im damaligen Neapel, der sich auf der Ebene der Gefühle nicht von unserem heutigen unterscheidet: Der Ich-Erzähler dieses Stücks, einst ein erfolgreicher Gemüseverkäufer auf dem Markt, wird durch seine unerwiderte Liebe in völliges Chaos gestürzt. Die Liebe krempelt sein Leben um und lässt seine ganze Existenz scheitern. Dass er in seiner großen Abrechnung die Liebe als »Hurensohn« bezeichnet, können viele von uns heute, zumindest temporär, ebenfalls unterschreiben. Zeit in eine Beziehung zu investieren, Blumen zu kaufen, ins Restaurant zu gehen, einfach füreinander Zeit zu haben, tritt heute in Konkurrenz mit der Karriere, beruflichem Druck, flexiblen Arbeitszeiten. Das alles unter einen Hut zu bekommen, ist heute vielleicht schwieriger als jemals zuvor.

Wie in einer Kriminalgeschichte enthüllt sich im Laufe des Abends ein Geheimnis: ein Mord, der sich in dem Fitnessstudio ereignet hat. Doch wer der Schuldige ist, steht auch nach einem befreienden Saunagang und dem finalen Triumph der Sinne nicht fest – vielleicht waren es auch alle.

Wie hast du, von dieser Kantate abgesehen, die übrigen Stücke ausgewählt?
Ich habe einfach alles quergehört. Mir geht es in der Stückentwicklung auch um eine Auseinandersetzung mit der Form in der Barockmusik. Bei der Auswahl der Stücke hatte ich unsere Musikerinnen und Musiker im Kopf, etwa wie sie mit einer kleineren Besetzung klingen würden. Die Stücke sollten also gewisse Freiheiten bieten. Und natürlich gab es inhaltliche Aspekte, schließlich wollte ich aus den Stücken, ihren Themen und den Kontexten, aus denen sie stammen, eine Art Meta-Handlung entwickeln. Wie in einer Kriminalgeschichte enthüllt sich im Laufe des Abends ein Geheimnis: ein Mord, der sich in dem Fitnessstudio ereignet hat. Doch wer der Schuldige ist, steht auch nach einem befreienden Saunagang und dem finalen Triumph der Sinne nicht fest – vielleicht waren es auch alle.

Wie erarbeitest du eine solche Meta-Handlung mit dem Team?
Ich arbeite immer im Kollektiv, was für mich bedeutet, dass ich – mit den Künstlerinnen und Künstlern und ihren Qualitäten im Hinterkopf – einen Ansatz, eine Interpretation erarbeite und vorgebe. Dann erweitern und entwickeln wir alle die tatsächliche Form dieser Interpretation, bis wir gemeinsam an ein Ziel gelangen. Dabei sieht das Endergebnis immer ganz anders aus als die Ursprungsidee. Es hängt sehr vom Team ab: Mit Marina Giovannini, die die Musik in Bewegung überführt, arbeite ich schon seit langer Zeit zusammen, für uns ist dieser Ansatz selbstverständlich, auch mit der Sängerin Lore Binon und der Cellistin Okkyung Lee habe ich schon mehrere Projekte erarbeitet.

Bei der Instrumentalbesetzung handelt es sich zwar um ein Ensemble aus Barockinstrumenten, aber nicht die, für die Scarlatti die ausgewählten Stücke geschrieben hat …
Ja, ich habe unser Ensemble gebeten, alle Stücke neu zu arrangieren. Ich hatte einige Ideen dafür, aber unsere Musikerinnen und Musiker haben auch unabhängig davon wunderbare Lösungen gefunden. Ihre unterschiedlichen Hintergründe haben dabei geholfen: Drei von ihnen – Thomas Baeté, Luise Enzian und Franziska Fleischanderl – kommen genuin von der Barockmusik und sind sehr offen, sich auf Neues einzulassen; Okkyung Lee ist dagegen Expertin für zeitgenössische Improvisation. Alle vereint ihre Qualitäten als Performer und so sind sie durchgehend szenisch präsent.

Der Fokus auf Klangfarben trifft sich gut mit Scarlatti, der in seinen Werken häufig spezielle Klangfarben oder -effekte eingesetzt hat. Die elektronischen Sounds unterstreichen das. Musik und Sounds gehen Hand in Hand

In welchem Verhältnis stehen Giuseppe Ielasis elektronische Kompositionen zu Scarlattis Musik?
Was ich bei ihm und seinen Arbeiten sehr schätze, ist sein offenes Ohr und seine Aufmerksamkeit auch für kleinste musikalische Details. Er ist kein Sounddesigner, sondern ein Sound-Komponist. Seine Grundlage sind sowohl musikalische Klänge als auch Geräusche – wozwischen auch ich keine Trennlinie ziehe. Der Fokus auf Klangfarben trifft sich gut mit Scarlatti, der in seinen Werken häufig spezielle Klangfarben oder -effekte eingesetzt hat. Die elektronischen Sounds unterstreichen das. Musik und Sounds gehen Hand in Hand – auch weil Giuseppe keine synthetischen Sounds einsetzt, sondern nur solche, die er von den Instrumenten unserer Musikerinnen und Musiker aufgenommen und bearbeitet hat.

Mir geht es darum, eine Brücke zu bilden zu anderen, neuen Formen des Musikhörens: Musik, Sound, Live-Performance, Körper, Gesten und Bewegung – alle zusammen sind musikalische Elemente, die ich miteinander verknüpfe.

Du hast für LOVE, YOU SON OF A BITCH nicht nur Konzept und Regie erarbeitet, sondern auch Video und die Ausstattung übernommen. Entwickelst du das nacheinander oder hast du von Anfang an ein Gesamtbild im Kopf?
Ich denke tatsächlich von Anfang an multidisziplinär. Irgendwann kommt der schwierige Punkt, an dem man diesen Ansatz verlassen und die Ebenen getrennt weiterentwickeln muss. In meinen ersten Projekten habe ich alle Ebenen allein gestaltet: Sounds, Video, Bewegung – ich habe diesen Hintergrund als Multimedia-Künstlerin. Bei Kollaborationen in größeren Projekten ist das nicht so einfach, da muss man die anderen von den eigenen Ideen überzeugen. Und dann kommt der Moment, wo ich die Gesamtvision, die ich im Kopf habe, in ihre Einzelteile aufspalten muss und anschließend während der Proben mit den Ideen der anderen wieder zusammenbaue. Also schließlich eine Arbeit im Kollektiv.

Wie kommen die unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen zusammen?
Mir geht es darum, eine Brücke zu bilden zu anderen, neuen Formen des Musikhörens: Musik, Sound, Live-Performance, Körper, Gesten und Bewegung – alle zusammen sind musikalische Elemente, die ich miteinander verknüpfe. So wird zum Beispiel der Körper selbst zum Klangerzeuger, das Musizieren in freien Formen erforscht die fließenden Grenzen von Performance, Schauspiel und Tanz.

 

Das Gespräch führten Jana Beckmann und Benjamin Wäntig.

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