Oper und Regie – Gespräch im Intendantenzimmer

Im Intendantenzimmer des Schiller Theaters trafen sich Jürgen Flimm und die Regisseure Eva-Maria Höckmayr, Hans Neuenfels, Isabel Ostermann, Philipp Stölzl, Michael Thalheimer mit dem Journalisten Arnt Cobbers zum Gespräch. 

Jürgen Flimm und Hans Neuenfels - Gespräch Regie-Runde
Jürgen Flimm und Hans Neuenfels

COBBERS: Herr Flimm, was macht aus Ihrer Sicht einen guten Opernregisseur aus? Was muss er haben, damit Sie ihn einladen, an der Staatsoper zu inszenieren?

FLIMM: Das allerwichtigste ist, dass er die musikalischen Parameter begreift, ohne das geht es nicht. Und dann muss er die Geschichte verstehen. Es gibt auch Stücke, deren Geschichte man nicht versteht wie den Trovatore, aber daraus hat Philipp Stölzl hier an der Staatsoper trotzdem eine hochinteressante, besondere und lustige Aufführung gemacht. Die musikalischen Parameter sind wie ein Zaun, den man nicht überschreiten kann. Aber innerhalb dieses Gevierts kann man loslegen. Wenn man die Tempi, die dynamischen Vorschriften und all das akzeptiert und nicht damit hadert – mit Mozart ist nicht zu hadern, mit Verdi auch nicht –, dann kann es ein sehr schöner Aufenthalt auf der Opernbühne sein. Wenn ein Abend eine tolle Geschichte hat und tolle Bilder und einen ergreift, dann ist er gut.

COBBERS: Muss ein guter Abend auch einen neuen Ansatz zeigen, ganz neue Blickwinkel eröffnen, wie es die Kritiker immer fordern?
FLIMM: Da hat Hans Neuenfels mit seinen 40 Inszenierungen schon alles abgeräumt. Ich habe ja noch den Aida-Skandal in Frankfurt miterlebt, das war die Sternstunde, da ging es los mit dem sogenannten Regietheater. Die Aida als Putzfrau – das war gar nicht blöd, Hans Neuenfels hat das Stück nur genau gelesen. Heute würde sich wahrscheinlich kein Mensch mehr darüber aufregen, oder?

NEUENFELS: Zumindest nicht in dem Maße, wie es damals der Fall war. Die Regie beschränkte sich auf die Bebilderung musikalischer Vorgänge. Die Sänger interpretierten größtenteils das, was sie einstudiert hatten, und kopierten sich dementsprechend. Es gab selten eine Intention in einer Inszenierung. Es gab schon einige Versuche, aber das war noch nicht ins Bewusstsein des Operngeschehens eingedrungen. In den Fachzeitschriften wie der Opernwelt  kamen die gar nicht vor, das wurde beiläufig und unangenehm berührt erwähnt.

HÖCKMAYR: Ich denke aber, es ist noch nicht alles abgeräumt. Jeder findet seinen eigenen Zugang und räumt im besten Fall das Stück für sich selbst ab. Natürlich gibt es viele Deutungen, die so nicht mehr möglich sind. Ganz viele Opern haben solch eine Vielfalt, dass man da immer wieder etwas findet. Man muss für sich selbst versuchen, etwas Neues zu finden. Man darf nicht kopieren.

»Kunstwerke warten darauf, ständig neu entschlüsselt zu werden. Das wohnt dem Kunstwerk inne, deshalb geht es ohne Regietheater gar nicht.«

NEUENFELS: Ich bin ganz Ihrer Meinung. Kunstwerke warten darauf, ständig neu entschlüsselt zu werden. Das wohnt dem Kunstwerk inne, deshalb geht es ohne Regietheater gar nicht. Auch ein scheinbar festgeschriebenes Stück wie die Carmen  wandelt sich – weil der Blick auf die Frau sich gewandelt hat und sich weiter wandelt. Jede Zeit tut das ihrige dazu, und das macht auch die Größe des Kunstwerks aus. Es verlangt nach Interpretation, nach einer Haltung. Ohne Interpretation bleibt ein Opernabend ein unerfüllter Abend. Jeder Komponist, jeder Dichter muss freigelegt werden. Es liegt in seinem Wesen, dass er anders gedacht und gespürt und gearbeitet hat und immer gegen die Gesellschaft ist, weil jede Dichtung und jede Musik erstmal gegen jede Gesellschaft ist. Auch Inszenierungen sind zeitgebunden. Manches hält länger, manches ist befristet, und das hängt auch von den Sängerinnen und Sängern ab, die früher viel austauschbarer waren. Es bleibt genug zu tun für Regisseure.

OSTERMANN: Ein Werk wird erst dadurch lebendig, dass ein Regisseur, ein Dirigent mit seinem Team das Material aus der Schublade herausholt und für sich neu interpretiert, und das kann er nur so, wie er es in dem Moment kann, in seiner Zeit, in seinem Lebensabschnitt, und das muss authentisch gemacht sein und ist dann auch nie objektiv. Erst dann gibt es Reibungsflächen für jeden einzelnen Zuschauer und hoffentlich einen lebendigen Abend.

COBBERS: Reicht es Ihnen, wenn die Leute aus der Oper kommen und sagen, da habe ich einen interessanten, schönen Abend erlebt?

THALHEIMER: Da sträuben sich mir die Nackenhaare. Interessant finde ich ganz furchtbar. Jede Aufführung eröffnet einen Diskurs, in den man eintreten möchte mit dem Publikum. Man sucht die Auseinandersetzung, man möchte etwas auslösen.

STÖLZL: Es ist einfach viel zu viel Arbeit, nur um den Leuten zwei oder drei Stunden weniger langweilig zu gestalten. Oper funktioniert auf so vielen Ebenen. Musik hat zunächst eine emotionale Wahrheit, die kann schon von der einen Sängerbesetzung zur anderen völlig unterschiedlich sein. Ob sich die Chemie an einem Abend entzündet oder nicht, hängt auch vom Publikum ab. Wenn die oberen Ränge mit jungen Leuten besetzt sind, die das Werk neu entdecken, dann ist eine ganz andere Energie im Saal als bei einem klassisch bürgerlichen Publikum. So geht es mir ja auch: Ich komme nicht von der Oper, ich habe keine 20 Figaros  gesehen, ich entdecke die Stücke immer wieder neu für mich. In Bayreuth wird der Ring  anders rezipiert, als wenn das Publikum ein Stück nicht kennt und die Musik ganz anders in die Venen gespritzt bekommt. Das ist das Tolle: Bei jedem Menschen, der in der Vorstellung sitzt, passiert etwas anderes.

COBBERS: Ist Ihnen die Erwartungshaltung des Publikums wichtig?

THALHEIMER: Für mich spielt die keine Rolle, das ist der unbekannte Faktor X. Ich habe vier Opern inszeniert, ich entdecke die Stücke für mich neu. Ich lese viele alte Kritiken, um zu sehen, was für Ansätze gab es schon, wann wurde es wie interpretiert. Aus der Zeit heraus verändert sich ja auch ein Werk, weil unser Blick sich verändert. Das untersuche ich anhand von Rezensionen, aber selten durch den eigenen Opernbesuch oder DVDs.

FLIMM: Ich möchte immer, dass das Publikum die Aufführung genauso empfindet, wie ich sie empfinde. Ich möchte, dass die Leute genauso begeistert sind, wie ich begeistert bin, dass sie genauso weinen, wie ich weine, und genauso lachen, wie ich lache. Das wünsche ich mir. Wenn ich das Stück erzähle, sollen sie sagen: Ja, genauso muss es sein! Das geht vielen Regisseuren so. Ich weiß, dass Peter Zadek immer verstört war, wenn es dem Publikum nicht gefallen hat. Dass Zadek oder Neuenfels sich gefreut hätten über Buhs, das ist Quatsch! Mit den Zuschauern zusammenzukommen, ist eine ganz tolle Sache. Wieviele Leute haben inzwischen den Film Der Medicus  gesehen?

STÖLZL: Vier Millionen. Da hat man auch das Gefühl, dass man eins ist mit dem Publikum.

Michael Thalheimer und Philipp Stölzl - Gespräch Regie-Runde
Michael Thalheimer und Philipp Stölzl

FLIMM: Bei der Frage, was wir machen mit dem Stück und wie weit wir gehen mit der Interpretation – und Hans Neuenfels ist ja auf bewundernswerte Weise immer weiter gegangen –, da kommt man schnell zur Frage: Wie weit folgt uns der Dirigent? Jossi Wieler meinte mal: Der natürliche Feind des Regisseurs sei der Dirigent. In der Auseinandersetzung haben wir Regisseure manchmal das Nachsehen. Natürlich ist die Regie das Haupttransportmittel für eine Oper, alles andere ist Konzert. Aber man muss sich wundern, dass manche Dirigenten sehr wenig Verständnis haben für strukturelle Überlegungen und was man machen müsste, um weiter zu kommen in der Interpretation.

STÖLZL: Was mich total beschäftigt, seit ich Oper mache: Ich habe noch nie Probleme gehabt mit einem Dirigenten, es war immer eine schöne Zusammenarbeit. Aber immer nur bis zu dem Moment, wo du beginnst, über die Musik selbst nachzudenken. Ich bin ein großer Bewunderer von Michael Thalheimers Arbeit. Ich liebe es, wie er mit dem Material umgeht. Er verdichtet die Orestie  zu eineinhalb Stunden, und ich nehme aus diesem Konzentrat wahnsinnig viel mit. Aber wenn du in der Oper sagst: Lass uns den Abend kürzer machen, da wirst du gesteinigt. Die letzte Fassung des Komponisten ist sakrosankt. Selbst wenn man weiß, dass der Komponist kurz vor einer Wiederaufnahme noch für eine Sängerin eine Arie hinzukomponiert oder irgendwo gekürzt hat. Wenn man sich die Aufführungsgeschichten anschaut, war das oft ein »work-in-progress«, bis das Stück auf die Bühne kam. Auf dem Weg zur Premiere will man einfach mit dem Material arbeiten: Hier versteht man etwas nicht, da würde man gern eine Figur verdichten. Dass die Musik nicht als etwas Lebendiges begriffen wird, sondern als der Koran, das ist mir unverständlich. Beim Film schneidet man bis zum Schluss immer wieder um und versucht zu rhythmisieren. Auch im Musical wird viel am musikalischen Material herumprobiert, damit man einen Abend hinbekommt, der einen tollen Bogen hat. Aber als Opernregisseur steht man vor einer kafkaesken Mauer.

NEUENFELS: Ich habe vor kurzem Oedipe  von Enescu inszeniert. Ich hatte von vornherein angekündigt: Den vierten Akt inszeniere ich nicht, weil ich die christliche Unterwanderung des griechischen Mythos nicht mitmachen will. Wir haben anderthalb Stunden ohne Pause gespielt, sozusagen Oedipus I   bis zur Blendung. Die Zeit  hat geradezu hysterisch reagiert, das sei eine unglaubliche Arroganz einem Kunstwerk gegenüber. Dabei habe ich nichts verändert, nur den letzten Akt gestrichen, weil es so viel logischer ist. Das war einfach der Versuch, das Stück in einen anderen Rhythmus und in eine andere Härteform zu bringen. Der Dirigent hat das von vornherein mitgetragen. Aber ich habe viele Dirigenten gehabt, die ich erst mit Gewalt von ihrer Meinung abbringen konnte. Ich habe mich aber auch in Tempi eingemischt, muss ich gestehen. Einmal hat ein Dirigent die Tempi so langsam gewählt, dass die Sänger verreckt sind, da habe ich mit ihm gesprochen. Und beim GMD kam dann an, ich hätte den Dirigenten grundsätzlich angegriffen.

FLIMM: Für Dirigenten ist die Musik eine unglaubliche Burg der Sicherheit. Die Musik gehört ihnen.

NEUENFELS: Sie sind die Abendspielleiter, das ist der Witz. Als Regisseur übergibst du das Werk letzten Endes dem Dirigenten. Die Einsätze kommen von ihm, er ist der unmittelbare Verwalter, damit es überhaupt läuft. Deshalb ist man ihm völlig ausgeliefert.

FLIMM: Als ich mal gesagt habe: Komm, das Ballett schmeißen wir raus, das hat er nur geschrieben, weil er nach Paris wollte, das ist dramaturgisch völlig überflüssig, da hat der berühmte italienische Dirigent geantwortet: Aber er hat es doch geschrieben! Und dann muss ich noch eine Geschichte erzählen. Da hatte der Dirigent gesagt: Dieser gesprochene Monolog ist zu lang, der muss weg. Und der Regisseur hatte geantwortet: Nein, das geht nicht, der Monolog ist dramaturgisch wichtig, weil man sonst eine spätere Szene nicht versteht. Da war der Dirigent still. Als dann der Regisseur weg war, hat der Dirigent vorschnell den Einsatz gegeben, und damit war der Monolog gestrichen.

THALHEIMER: Ich hatte noch nie einen ernsthaften Streit mit einem Dirigenten. Aber Hans Neuenfels hat ja auch viel mehr Opern inszeniert und auch noch in einer ganz anderen Zeit als ich. Was ich ablehne, sind diese Machtspiele. Ich sage immer: Wir müssen nicht. Wir wollen. Ich bereite gerade mit Kent Nagano in Hamburg Les Troyens  von Berlioz vor, und wir wissen beide, dass es zu lang ist. Da haben wir uns den Komponisten Pascal Dusapin aus Paris geholt, der uns hilft, das Stück von fünfeinhalb auf zwei Stunden zu kürzen. Aber seien wir ehrlich: In jeder Oper gibt es Passagen, da ist das Libretto hanebüchen, die Geschichte retardiert, eine Szene ist komplett überflüssig, man hat keine Lust, das zu inszenieren, aber man muss es eben machen, weil es ein Tabu ist, diese Szene zu streichen. Das ist das Gefängnis Oper. Im Schauspiel kann ich machen, was ich will. Aber die Freiheit wird ja manchmal zum Gefängnis, und das Gefängnis zur Freiheit. Genau die Szene, mit der ich wochenlang in der Vorbereitung gehadert habe, wird mitunter zu einer der besten, wahrscheinlich weil man so sehr kämpft mit sich und der Welt, dass es dann plötzlich gelingt und man es nicht mehr missen will. Aber das sind die glücklichen Ausnahmen. Ein Satz wie: Bei mir wird nicht gestrichen!, ist ein Schutz, ein Anker. Und eine Ausrede, falls eine Umbesetzung wegen Krankheit kommt. Auch im Orchester wechselt ja die Besetzung immer wieder. Da herrscht zu viel Sicherheitsdenken.

STÖLZL: Das kann man in den Aufführungen von Michael Thalheimer lernen: Wenn du vorne etwas weglässt, kommst du im dritten Akt mit einer anderen Energie an. In der Fokussierung steckt eine Wahrheit, eine größere Erkenntnis. Wenn du fünf Stunden Oper abgesessen hast, bist du nicht mehr sonderlich aufmerksam, sondern wie bei Wagner in einer Art Delirium.

COBBERS: Klassische Musiker inklusive Dirigenten sind von ihrer Ausbildung her rein nachschöpferisch, sie interpretieren, was andere geschrieben haben. Wenn Sie als Regisseure anfangen zu streichen und umzubauen, stellen Sie sich auf Augenhöhe mit dem Autor – und damit im Grunde auf die Ebene über dem Dirigenten.

HÖCKMAYR: Dabei empfinde ich mich zumindest in der Oper absolut als nachschöpferisch. Da gibt es den Grundbau. Man hat die Möglichkeit, in diesem Gebäude herumzulaufen und Dinge zu verändern, aber man hat eine ganz klare Struktur. Natürlich würde ich manchmal gern streichen oder die Musik aufbrechen für einen Dialog oder eine Arie umstellen, aber sobald man irgendetwas aus wirklich bewussten Überlegungen heraus anstoßen will, gibt es das Missverständnis, man würde den Komponisten nicht ernst nehmen, man würde sich zum Schöpfer aufschwingen, man würde das Stück oder die Musik nicht respektieren.

»Es gibt eine Werktreue ohne Texttreue. Und es gibt einen Respekt durch Respektlosigkeit.«

THALHEIMER: Wir reden ja nicht von Geschmack oder willkürlichen Änderungen eines Werkes. Dass man überhaupt dazu kommt, etwas umstellen oder streichen oder eine Fermate ausdehnen zu wollen, das hat mit einer Auseinandersetzung inhaltlicher Art zu tun, das kommt aus einem Respekt vor dem Werk. Und nicht, weil ich mich auf Augenhöhe mit dem Komponisten oder dem Dichter stelle. Gar nicht. Das Werk bleibt das Werk. Übrigens ist das Werk auch durch mich als Regisseur unzerstörbar. Jeder kann nach der Inszenierung die Partitur oder das Textbuch wieder herausholen. Es geht nur um eine Interpretation. Ich sage: Es gibt eine Werktreue ohne Texttreue. Und es gibt einen Respekt durch Respektlosigkeit. Ich kann nur respektlos sein, indem ich erstmal Respekt habe. Sonst bin ich einfach nur dumm.

FLIMM: Mich interessiert: Wie weit darf die Interpretation gehen? Ist es wie mit der Satire: Der Regisseur darf alles?

STÖLZL: Solange es im Dienste der Sache ist, ist alles erlaubt, denke ich. Die Frage ist: Wie machst du ein Werk emotional kraftvoll für ein heutiges Publikum. Nehmen wir eine Verdi-Oper: Da ist eine Arie, die den Kern hervorholt und dich emotional richtig packt, und dann sagt die Tradition, jetzt kommt die Stretta, da zeigt der Sänger, was er stimmlich kann, und zu Verdis Zeiten war das vermutlich sogar eine Mitklatschnummer. Aber wenn das Publikum dieses Italienisch-Feurige gar nicht rezipiert – warum dann nicht wegstreichen? Du willst doch eigentlich da auf dem letzten Ton von höchster emotionaler Dichte ausatmen. Auch im Fliegenden Holländer  geht es mir so: Es gibt das wunderbare Duett zwischen Senta und dem Holländer, und im Stretta-Teil zerstörst du alles, was da musikalisch fein gewebt war an Ewigkeit und Unbedingtheit. Mein Instinkt wäre: Weg damit!

COBBERS: Was ist denn das Werk?

STÖLZL: Der Glutkern.

THALHEIMER: Die wichtigste Frage ist: Warum? Nicht: Was hat man da und wie soll man das erzählen? Sondern: Warum, aus welcher Intention heraus ist das Werk entstanden? Das ist ja oft nicht aus einem Glücksgefühl heraus entstanden, sondern aus einem Schmerz, einer Depression heraus. Das kann man sehr gut nachempfinden, und dann ist man dem Dichter, dem Komponisten sehr nah. Da bin ich beim Glutkern, um bei dem Wort zu bleiben, und bleibe den Intentionen des Komponisten oder des Dichters sehr treu. Aber nicht jeder Note oder jedem Wort oder jeder Szene.

FLIMM: Hans Neuenfels hat man früher immer vorgeworfen, er würde die Stücke verhunzen, sie seien nicht mehr wiederzuerkennen. Warum hast du es denn damals anders gemacht?

NEUENFELS: Aus den gleichen Gründen wie heute. Man muss schon auf die physische Zeit Rücksicht nehmen, die so eine Oper dauert. Dann kommen Überlegungen hinzu, wie ich sie zum Beispiel beim Oedipe hatte. Da geht es um eine Haltung. Ich lehne es ab, einen griechischen Mythos christlich zersetzt zu inszenieren. Bis zu dieser Stelle finde ich das Stück fabelhaft, darum wollte ich es inszenieren. Aber dann hat Enescu etwas eingeholt, was ich schlecht finde und was ich nicht vertreten kann. Die Presse hat den Dirigenten übrigens sehr vermöbelt, aber er hat sich verantwortlich gezeigt und wirklich Haltung bewiesen. Leider ist es auch oft so, dass viele Dirigenten in der Vorbereitung gar nicht so weit in das Stück eindringen, dass man wirklich mit ihnen diskutieren kann. Die benutzen den Notentext als Schutz, damit sie innerhalb dieses festen Gerüstes nicht angreifbar sind. Ich habe mal Meyerbeers Le prophete  inszeniert. Das hat nicht die Qualität für dreieinhalb Stunden, aber da muss man sich als Dirigent eben einen Monat hinsetzen und eine Fassung machen. Dazu hatte der Dirigent weder Lust noch Zeit. Deswegen schützte er sich. Man hat einen Besitz, man hat etwas gelernt.

THALHEIMER: Das halte ich mitunter für respektloser: Ich besitze die Musik.

NEUENFELS: Natürlich. Werktreue kann man auch als anderes Wort für Faulheit verstehen. Es ist leichter, ein Stück einfach durch zu inszenieren.

FLIMM: Eine andere Frage, die mich umtreibt, ist: Geht man in der Oper mit Regisseurinnen anders um als mit uns Männern?

HÖCKMAYR: Ich würde sagen ja. Das hängt stark von den Häusern ab. Es gibt Abteilungen, da wird man als Frau anders betrachtet, die brauchen eine Zeit, bis sie merken: Ich bin ganz normal. Bei Sängern gibt es das kaum. Solch eine Rarität sind Regisseurinnen ja auch nicht mehr. Man erwartet von einer Frau aber eine andere Art zu arbeiten, das merke ich manchmal. Man erwartet unterschwellig mehr Verständnis.

Eva-Maria Höckmayr - Gespräch Regie-Runde Staatsoper Berlin
Eva-Maria Höckmayr

OSTERMANN: Ruth Berghaus, die uns an der Eisler-Hochschule unterrichtet hat, hat sehr viel Wert darauf gelegt, wie man sich auf der Probe gibt, wie man die Haare trägt, wie man auftritt und sich bewegt. Ich denke heute aber, es kommt darauf an, wie man den Leuten begegnet und wie gut man das Stück kennt. Man ist, wie man ist. Ich hoffe nicht, dass ich als Frau im Betrieb anders behandelt werde.

STÖLZL: In den Berufen, in denen es um Autorität, Druck, Führen usw. geht, tun sich Männer oft leichter, weil sie eher als Autorität wahrgenommen werden und weil es ihnen vom Charakter her einfacher fällt. Aber ein weiblicher Blick auf die Oper und eine Figur ist immer ein anderer als ein männlicher. Deshalb ist es sehr schade, dass es so wenige weibliche Erzählweisen gibt. Es ist auch verrückt, wie wenige tolle Frauenfiguren es gibt.

THALHEIMER: Die großen Frauenrollen sind alle Passionsgeschichten. Das sind natürlich große Herausforderungen für Schauspielerinnen und Sängerinnen. Aber die Frau definiert sich über das Opfer, und wir nehmen Anteil an ihrem Leiden. Damit hört es auf.

COBBERS: Womit wir beim Repertoire wären. Das ist im Schauspiel ja wesentlich größer als in der Oper.

»Das ist ein riesiges Thema: Ersetzt das Regietheater die Gegenwart?«

FLIMM: Aber das Repertoire ist viel interessanter, als wir es machen. Rimsky-Korsakows Zarenbraut  war eine tolle Aufführung, wieso kennt man das Stück nicht? Leider ist die Beschäftigung mit den Schrekers und Korngolds vorbei. Die Klassiker der Moderne wie Nono werden auch nicht mehr gemacht. Ich finde die Spielpläne jämmerlich. Es kommen immer dieselben alten Stücke, und wir Regisseure müssen sie aufpolieren. Das Regietheater muss die Gegenwart ersetzen, weil wir viel zu wenige Stücke von heute haben. Das ist ein riesiges Thema: Ersetzt das Regietheater die Gegenwart? Ich glaube, dass es das nicht kann. Das ist Talmi.

NEUENFELS: Und die Wie-Frage führt zur Verkrampfung, sie wird zur Marketing-Frage, zur Amok-Leerlauf-Frage. Wenn ich nur noch versuche, ein Stück durch die Interpretation heranzuholen, stellt sich automatisch Leerlauf ein. Wenn es nur noch ums Wie geht, ist schon ein Vakuum da. Da kommt nicht mehr die Impulsivität, die du brauchst.

FLIMM: Wir haben irgendwann die Geschichtlichkeit entdeckt. Alle spielten plötzlich Händel. Und alle hörten Bach. Dabei funktioniert eine Kantate von Bach eigentlich nur innerhalb des christlichen Überbaus. Aber da wir den gar nicht mehr kennen, ist das nur noch Folklore. Alle rennen in ein berühmtes Restaurant in Berlin, weil da der Fisch exakt so zubereitet wird wie auf einer bestimmten südjapanischen Insel. Das ist doch Unsinn, weil niemand von den Gästen jemals auf dieser Insel war. Wir graben wie die Archäologen immer neue Stücke aus, aber keiner macht zeitgenössische Opern. Der Regisseur und im Konzert auch der Dirigent ersetzen die Gegenwart: Wie viele Beethoven Sinfonien gibt es auf CD? Das ist doch absurd. Das Repertoire kann auch ein Klotz am Bein sein.

STÖLZL: Als Filmer wundere ich mich über die Opernhäuser. Mit ihrer unglaublichen Planungssicherheit könnten sie soviel an aktuellen Themen entwickeln. Es gibt so unfassbar viele wichtige Themen um uns herum, die in der Oper stattfinden müssten. Aber nicht im Repertoire, indem ich überlege: Wie kann ich aus der Tosca  ein Stück über die Globalisierung machen? Sondern es müsste umgekehrt sein: Wir machen was über die Globalisierung, und dann braucht man halt drei Jahre, bis man ein Libretto hat, und braucht nochmal fünf Jahre, bis ein Komponist etwas geschrieben hat. Das müsste passieren!

FLIMM: Und das geht. Nixon in China  von John Adams oder Dead Man Walking  von Jake Heggie sind genau solche Stücke. Die funktionieren.

HÖCKMAYR: Aber vielleicht ist die Oper wirklich nicht geeignet für das tagespolitische Geschehen. In einem Apparat mit zweijährigem Vorlauf auf aktuelle Geschehnisse zu reagieren, ist schwer.

OSTERMANN: Das stimmt, die großen Operntanker haben immer noch ein großes Problem mit Regisseuren, die prozessual arbeiten. Jemand, der ohne täglichen Plan arbeitet und guckt, was passiert, ist für solch ein Haus ein Schock.

THALHEIMER: Ich bin ja nicht gerade berühmt für Uraufführungen. Da geht es um das Werk an sich. Im Repertoire stellt sich die Frage, wie man heute und wie der Regisseur mit dem Stück umgeht. Da ist die Interpretation für alle im Publikum spürbarer, und ich liebe dieses kollektive Bewusstsein fürs Repertoire. Was bleibt denn wirklich von den 300 Uraufführungen, die es Jahr für Jahr im Schauspiel gibt? Nichts. Wenn ich mich mit intelligenten Menschen acht Wochen in einem verdunkelten Raum treffen und die Zeit mit Proben verbringen möchte, dann muss das Stück Substanz haben.

NEUENFELS: Ich habe gerade erst in Wien Quartett  von Heiner Müller inszeniert. Ich fand das immer ein sehr intelligentes Stück. Aber während der Proben fand ich vieles plötzlich flach. Das war fast bedrückend, dass mir ein zeitgenössisches Stück so alt und überholt vorkam. Ein Stück muss unglaublich viel Kraft haben, um zu bestehen. Ein Dichter oder ein Komponist muss die Kraft zum Konflikt haben, der auf der Bühne stattfinden muss. Schubert und Schumann waren große Liederkomponisten und große Sinfoniker, aber ihre Form der Konfliktlösung war eine andere. Man muss willens und in der Lage sein, Welt zu verkraften und solche Stücke zu schreiben, und davon gibt es nicht viele Leute.

HÖCKMAYR: Ich möchte aber noch einmal eine Lanze fürs Repertoire brechen. Und dass Bach nur noch Folklore sei, kann ich gar nicht nachvollziehen. Das ist ja wie eine Absage. Ich finde es faszinierend, dass man Musik aus einer ganz anderen Zeitschicht hört und gleichzeitig spürt, dass die Emotionen dieselben geblieben sind. Das finde ich so toll, darauf möchte ich nicht verzichten.

COBBERS: Noch eine Frage zum Schluss: Was macht aus Ihrer Sicht ein gutes Opernhaus aus? Sie alle arbeiten ja zum wiederholten Male hier an der Staatsoper. Steht dahinter auch der Wunsch nach einer Heimat?

THALHEIMER: Immer. Ich werde erst meine fünfte Oper inszenieren, aber schon die dritte hier an der Staatsoper. Diese Kontinuität spüre ich, wenn ich das Haus betrete, das gibt mir Vertrauen, und das macht für mich ein gutes Haus aus. Dass nicht nur der nächste Erfolg zählt, sondern dass ein Haus, ein Intendant mir als Mensch und als Künstler ein Vertrauen entgegenbringt und meine Entwicklung mitträgt. Das genieße ich sehr.

Philipp Stölzl  und Isabel Ostermann - Gespräch Regie-Runde Staatsoper Berlin
Philipp Stölzl und Isabel Ostermann

OSTERMANN: Das ist auch für den Nachwuchs sehr wichtig: einen Intendanten zu haben, der an einen glaubt und einen erstmal eine Reihe von Stücken in Ruhe erarbeiten lässt. Wenn man den ersten größeren Erfolg hat und die nächste Produktion dann nicht so gelobt wird, kann man schnell wieder weg vom Fenster sein. Wenn man aber jemanden hat, der einen kontinuierlich fördert, auch wenn mal etwas nicht so toll ist, dann kann man erst bestehen.

NEUENFELS: Wenn man nicht jemanden hat, der einen auffängt, ist man erledigt. Die wenigsten Intendanten verstehen, dass man mit hoher Besessenheit eine missglückte Inszenierung machen kann und die nächste glückt auf wunderbare Weise. Sie pflegen ihre Künstler nicht mehr. Deshalb erinnere ich mich mit Freuden an die Zeiten in Frankfurt zurück, wo man soundsoviele schlechte Inszenierungen machen konnte, um schließlich eine gute zu machen. Da steht man auch unter Druck, Druck ist immer da. Aber es ist nicht dieser hechelnde Druck, der verkrampft und unmutig macht.

FLIMM: Ich finde auch, Kontinuität ist enorm wichtig für ein Opernhaus oder ein Theater. Und deshalb freue ich mich, dass Ihr alle in dieser oder der nächsten Spielzeit wieder hier arbeitet.

 

Dieses Interview findet ihr auch in der neuen Saisonvorschau 2014/2015.

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