Orpheus — Ein Mann und (s)ein Mythos
Ein Essay von Klaus Theweleit
Nicht totzukriegen, dieser Orpheus. Wieder und wieder hebt sich sein abgeschlagenes Haupt aus den
Wellen, strudelt ans Ufer, greift sich ein Instrument [ ein trockenes ], macht den Mund auf und reklamiert,
again and again, für sich die vakante Position des mythischen Mr. O. — des großen Weltzivilisators
durch Großen Gesang.
Seit der italienischen Renaissance wird er — im Unterschied zu seiner Konstruktion in der Antike
— in dieser Position gedacht als Konkurrent, wenn nicht Erbe des Großen Erlösers am Kreuz. Um
das Jahr 1500 herum war die Kunst — waren die Künste — in einigen besonders beglückten Gebieten
Italiens darauf angelegt, die Bedeutung der Religion als Hauptregulatorin des menschlichen Gefühls- und Handlungsapparats zu verringern; oder, wo möglich, sie in dieser Funktion zu ersetzen. Die Künste
sollten — in den Denkgebäuden der avanciertesten Renaissance-Revolutionäre — in Erscheinung treten als säkulares Gegenstück zur Christ-Religion. Erscheinen als die neue Göttlichkeit selber, menschengemacht.
Ihr Programm: Zivilisierung der menschlichen Affekte, Eindämmung der fortdauernden
Dummheit und Gewalttätigkeiten der menschlichen Spezies durch artistische Schönheit — so wie
der antike Sänger Orpheus mit Stimme und Leier das Triebleben sogar wildester Raubtiere zu bändigen
vermocht hatte. Die Künste gesetzt anstelle des herrschenden unwürdigen Angewiesenseins auf
die Erlösungs- und Heilsversprechen opportunistischer Kirchenhäupter, deren gnädige Entschuldungsgeneigtheit zudem käuflich war; also zu teuer.
Für ein paar Jahre — in diesen besonders beglückten Gebieten Italiens — hatte dies »Programm«
sogar eine gewisse Geltung; einige Jahrzehnte, die sich auf weniger als ein Jahrhundert addieren. Schon um das Jahr 1600 herum aber gilt nur noch wenig davon. Es hat die Reformation und die Gegenreformation gegeben; kirchliche Macht, welcher Seite immer, ist neu erstarkt. Der Naturwissenschaftler und Philosoph Giordano Bruno ist in diesem Jahr verbrannt worden als sogenannter Ketzer — weil er die heliozentrischen Lehren des Nikolaus Kopernikus öffentlich in Florenz propagiert hat. Das katholische Spanien hat sich den südlichen Teil der Amerikas einverleibt. Das anglikanische England ist auf dem Sprung, dies mit dem nördlichen Teil zu tun. Der Künstler Orpheus ist — wie wir gleich sehen werden — zu Teilen in das Gewand eines Kolonisators geschlüpft. Zu seinen vielen mythischen Fähigkeiten gehört ja auch das Erbauen von Städten durch »Gesang und Leierspiel«. Die Weltmeere sind mathematisiert in Karten und Koordinatensystemen. Die notwendige Vorarbeit zur Kolonisierung haben die Renaissancemaler und Architekten in ihrer Zentralperspektivierung der Welt geliefert. Das raumdurchquerende Fluchtpunkt-Ich steht praktisch im Mittelpunkt aller zeitgemäßen Unternehmungen. Die Maler stehen zusätzlich vor einem neuen Problem: Das gesamte Personal der antiken Mythen haben sie auf Geheiß ihrer Fürsten — ihrer nun weitgehend entmachteten Machthaber — durchgemalt; sich dabei viele Freizügigkeiten erlaubt und malerische Erfindungen zuhauf gemacht. Auch an zentralperspektivischen Clous ist nichts mehr hinzuzufügen. Das Malen als erfinderische Kunst hat sich ein wenig [ oder auch ganz erheblich ] ausgemalt. Auch erscheinen viele der phantastischen Bilder der Renaissancemaler den erneut herrschenden christlichen Kontrollaugen unerträglich. In nicht geringer Anzahl werden sie übermalt.
Im »Italien 1600« laufen solche Entwicklungen auf ein spezielles Kunstmedium zu: die Musik.
Die Malerei ist out, die Architekten bauen für Kriege, die Philosophen tuscheln in Klausur, die Wissenschaftler tüfteln im Geheimen, die Meerbeschiffer entdecken und erobern Kontinente. Die Figur des »Weltzivilisators Orpheus 1600« sieht sich zurückgeworfen auf ihr »eigentliches« Medium: das Spiel
der Leier, den Gesang. Einmal, weil man Texte mit Musik nur schwer versteht und damit relativ leicht
Scheiterhaufen umschifft. Zweitens aber, weil sich umwälzende Verschiebungen in den Körpern der
Bewohner der entfaltetsten Gebiete ereignet haben. Konkret: Der Vorgang, den die Kirche nicht unter
Kontrolle hat — den keine Kirche, welche auch immer, unter Kontrolle haben kann — sind die psychophysischen Folgen der Auffassung der Welt unter den Gesetzen der mathematischen Zentralperspektive.
Diese hat sich nicht nur bei den Künstlern, sondern in ihrer beständig betriebenen Ausbreitung
zwischen 1400 und 1600 in allen Lebensbereichen bei der Mehrheit zumindest der städtischen mitteleuropäischen Bevölkerungen durchgesetzt als die sozusagen »natürliche« Art des Sehens.
Das zentralperspektivisch blickende Auge setzt sich in den Mittelpunkt seiner [ Blick ]Welt.
Mathematisch-psychologisch entsteht hier die Grundlage des »modernen Ich« der am Horizont aufscheinenden bürgerlichen Gesellschaften. Für die späten Renaissancestädte gilt, dass die verbindlichen feudalen Regeln des Zusammenlebens zunehmend durch Verhaltensweisen der aufkommenden Bürgerlichkeit ersetzt werden; das sind an erster Stelle neu entstehende Gefühlsbeziehungen innerhalb der Sippen und Familienverbände. Zur Darstellung, Inszenierung und Behandlung solcher menschlicher Innenräume war und ist gegenständliche Malerei nur begrenzt in der Lage; romanhafte Erzählungen mit bürgerlichem Personal sind noch kaum entfaltet. Direkten Zugang zur Affektwelt hat allein die Musik.
Hier wachsen der Musik neue Aufgabenfelder zu. Zu deren Bearbeitung muss allerdings eine
Musik her, die sich erneuert . Die Musik wird zu einem historisch neuen Ausdrucksmedium. Der bis
zu diesem Zeitpunkt dominante kirchliche fünfstimmige Chorgesang à la Palestrina wird ersetzt. Er hat
ersetzt werden müssen, da seine artistische Struktur von den Körpern der Lebenden, die sich in ihr angesprochen, erkennen und versammeln sollen, nicht mehr geteilt wird. Die neue Musik muss, zwangsläufig, »individueller« sein. Sie wird es zuerst in Kompositionen aus Florenz und Mantua. Heraus aus dem Chor löst sich die Einzelstimme: Es entsteht [ als Vorform der »Arie« ] der akkord- und bassbegleitete Sologesang. Also das, was bis heute unsere — die »westliche« Musiktradition — wesentlich bestimmt.
Die erste umfassende Ausprägung dieses Prinzips liefert eine Arbeit von Claudio Monteverdi;
heute verbucht als erste »komplette Oper« der Musikgeschichte. Name: Orfeo. Das Weltzivilisierungsprogramm jedoch, das Monteverdi seinen Orfeo vorführen läßt, hat von Anfang an seinen Haken. Einen Haken, den Monteverdi bewundernswert klar erkannt hat und auf der Bühne auch vorführen lässt. Er betrifft die Frau des Sängers, jene Eurydike, die in den Hades entschwunden ist und die er gerne zurück unter den Lebenden hätte — kraft seines Gesangs. In der Entfaltung dieses neuen Sologesangs — höchst eindrucksvoll — gelingt es dem neuen Orpheus, die Geister und Türhüter der Unterwelt zu überzeugen, ihn dort einzulassen. Dies allerdings nur mit Hilfe einer weiblichen Figur, die Monteverdi und sein Librettist Striggio La Mus ica nennen. Sie bedeutet dem Charon im passenden Moment, doch bitte die Augen zu schließen und einzuschlafen. Mit dem bekannten Ende: O. bekommt seine E. zurück, dreht sich zu früh nach ihrem Schatten um und verliert sie wieder.
Dies führt Monteverdi uns — d. h. seinem Mantuaner Hofpublikum 1607 — allerdings so vor, dass klar wird, es geht primär gar nicht um »die Frau«. Sein mythischer [ und hier nun aktuell werdender] Sänger und Weltzivilisator Orfeo demonstriert vielmehr, dass ein anderes Liebesobjekt im Kern seines Begehrens glüht: die Liebe zu seinem Instrument, seiner Leier; prächtig entfaltet im neuen Medium
akkordbegleiteten Sologesangs. Hingerissen von sich selbst und seiner Kunst verleiht Orfeo
ihr das Prädikat mi a cetra omnipotente. Die allmächtige Leier, mit deren Hilfe es gelang, die tote Geliebte Euridice vom Hades zurück zu bekommen. Die Leier, das Aufers tehungs ins trument, empfängt so Orfeos Huldigungsgesang. In diesem Allmachtsgefühl sich in den Sangesrausch steigernd, kann er die Schritte der hinter ihm gehenden Frau nicht hören. Ihm kommen Zweifel, ob nicht der hinterhältige Pluto ihn täusche: Unter Berufung auf den s tärkeren Got t Amor dreht er sich um, gegen das Verbot, und sie entschwindet. Als Sternbild am Himmel bleibe sie ihm erhalten; dorthin seien nun seine Gesänge gerichtet, seine geliebte Leier fest im Arm. Diese Blickrichtung weist ihm kein Geringerer als Apoll [ = der Fürst des Hofs ]. Auch für das Strahlen der Augen der Geliebten, das nun fehlende, wird ihm Ersatz: Die strahlenden Augen seines Publikums sollen es ersetzen.
Soweit die Bühne. Als besonderen Dreh fügt »La Historica 1607« die Tatsache hinzu, dass
Monteverdi gleichzeitig seine Ehefrau an den Hades verliert, die Sänger in Claudia de Cattaneis. Sie
stirbt, als der Orfeo auf die Bühne geht. Die nächstfolgende Frau in seinem Haushalt, erneut eine
Sängerin [ und potentielle Ehefrau ], rafft ein schneller Tod dahin. Ein [ irdisches ] Liebesglück mit den
singenden Euridices ist dem Komponisten des Orfeo nicht gegeben. Das ist umso tragischer, als dies
der historische Moment ist, in dem singende Frauen sich erstmals auf Bühnen präsentieren dürfen.
Ihr Sopran — begeistert aufgenommen — ersetzt die Stimmen der bis dahin obligatorischen Kastraten.
Singen also dürfen sie; sollen sie — auf Wunsch und Geheiß ihrer avancierten Arbeitgeber: der weltumstürzenden Renaissancefürsten. Kommen sie aber in die Nähe einer singenden Liebenden, nach der der komponierende Orpheus-Impersonator [ in diesem Falle Monteverdi ] gegenliebend sich verzehren würde, rafft ein merkwürdiger Tod sie dahin [ keine »Schlangenbisse«! ].
»Liebe« zwischen dem historisch erstmals möglichen Produktionspaar Komponist / Sängerin, die damit
eine gelingende weltliche Orpheus-Eurydike-Verbindung wäre; nämlich eine gemeinsam kunstproduzierende, die ohne Tod auskommt, darf nicht sein. Diese Konstellation produziert seither mit einiger Regelmäßigkeit den Sänger Orpheus als Mit-Mörder seiner Frau. Die Position »Eurydike« als ebenbürtige Co-Produzent in, als Sängerin und Geliebte im Realen wird für beide durchgestrichen. Zugestanden wird ihm die seriale Frau: wechselnde Sängerinnen [ hochklassig ] nach den Bedingungen seiner jeweils neuen Produktion [ = Auftragsarbeit für irgendeine Sorte Macht-Mensch, Fürst, Kulturminister, Wirtschaftsboss, kommunaler Bürgermeister etc. ] In Mantua, später Venedig, produziert Monteverdi unentwegt Opern [ keine neue Heirat ]; das Raffinement seiner Kompositionen zugeschnitten auf die Stimmen der Reihe wechselnder Sänger innen. Er wird »einsame Spitze« unter den Lebenden; der absolute Orpheus des historischen Moments.
Dies bringt ihm einen zugestandenen gesellschaftlichen Platz in der Nähe des »Fürsten« [ = des
jeweiligen Machthabers ]; er bekommt Zugang zu den Möglichkeiten der avanciertesten technischen
Medien, die er selbstverständlich nutzt; er wird [ enthusiastisch ] besprochen in dessen Publikationsmedien. Er darf [ soll ] ab und zu tafeln an der Tafel des Macht- oder Geldhabers [ manchmal bekommt er dessen Frau ausgeliehen für ein paar Nächte kometenhafter Eskapaden, die ihn selbstverständlich gebührend inspirieren ]; er steigt und steigt; steigert unaufhörlich seine Produktion. Einige der größten Werke der Welt-Kompositions-Orphisterei verdanken sich solchen unergründlichen Verfahrensregeln, die ich dennoch, als würde ich sie kennen, »die orpheische Kunstproduktion« nenne. »Eurydike« darf und muss singen; sie hat aber keine Stimme — kein ebenbürtiges Leben — in diesem System.
So viel zu Orpheus Typ eins: kleiner Angestellter höfischer Macht mit der Aufgabe großartiger
Entfesselung musikalischer Betörung zur Stimulierung und Neuordnung der Affekte einer ganz
bestimmten weiblichen Klientel — Orpheus-Kuppler. Orpheus Typ zwei ist am 24. Februar 1607 unterwegs in Richtung New World: John Smith, militärischer Rang Captain, an Bord der Susan Constant, Flaggschiff der drei englischen Segler, die im April 1607 im von ihnen so getauften »Virginia« die erste englische Siedlung in America errichten. Die Kolonisierungsarbeit seiner Abenteurertruppe wird bald mit der Orpheus-Plakette geadelt — von Orpheus drei, dem »Mann am Themse-Ufer«, Francis Bacon, Wissenschaftler und Philosoph.
Denn ebenfalls im Jahr 1607 wurde Bacon von höheren Wesen mitgeteilt, die aktuelle »Inkarnation Orpheus« zu sein. Diesen — der nach dem Tod seiner Geliebten Eurydike schwor, keine Frauen mehr zu lieben — hatten erzürnte Mänaden auf der Insel Lesbos zerstückelt. Der Kopf war in den Fluss geflogen. Orpheus’ Gesang zum Schweigen bringen konnten sie damit nicht. Er treibt weiter. Die Ufer tönen. Im Frühjahr 1607 treibt er gerade die Themse runter. Der am Ufer meditierende Bacon fischt den Kopf heraus und setzt ihn sich auf. 1609 macht er es öffentlich: Seine philosophischen Gesänge sollen verstanden werden als Wegweiser in die glückliche Zukunft der britannischen Lande. Die Arbeit der englischen Kolonisten in Virginia erhält von ihm die Goldmedaille praktische Orpheusarbeit des historischen Moments: die Zivilisierung wilder Landstriche, Tiere und Menschen drüben in Virginia.
Orpheus in America und seine Kolonisten überleben den ersten Winter in Virginia nur mit Hilfe einheimischer »Indians«. Sie liefern Nahrungsmittel. Bei deren Überbringung tut sich ein junges Mädchen hervor, Pocahontas, »daughter of a chief«, 12 Jahre alt. Sie wird später christlich-anglikanisch getauft werden, einen englischen Kolonisten heiraten, einen Sohn gebären, mit der family London besuchen, Queen Anne treffen und dort 1617 sterben [ an englischem Schlangenbiss: vergiftet ]. Orpheus John Smith wird nach ihrem Tod behaupten, sie habe ihm das Leben gerettet, 1607. In den literarischen Gesängen von Virginia leben die beiden fort als Liebespaar [ als Orpheus und seine indianische Euridice]; Liebespaar, das sie nie waren. Orpheus Smith, nach England zurückgekehrt, Autor mehrerer Bücher über seine Virginian Travels, avanciert derart zum ersten amerikanischen Schriftsteller. Orpheus Bacon in London steigt auf zum »Kanzler« des Königs. Und Pocahontas, tote Euridice — im Jahr 1917, 300 Jahre nach ihrem Tod, von einem amerikanischen Sänger befördert zur »Mother of Us All« — lebt weiter in den Grundfesten von Virginia, des ersten Staats der werdenden USA. Ihre Statue ist zu besichtigen am Ausgang der Themse bei Gravesend sowie am Ufer des James River in Virginia auf dem Gelände des »Museum of Jamestown«. Ihr Bildnis in Öl hängt im Capitol.
Diesen Beitrag findet ihr auch in »Staatsoper – Das Magazin No. 4«