»Purcell ist so unglaublich originell«

René Jacobs in seinem Pariser Heim beim Partiturstudium: Versenkung und Inspiration

René Jacobs im Gespräch mit Dramaturg Detlef Giese über »King Arthur« und seinen Komponisten

In Deinem »ersten Leben« als Sänger bist Du, lieber René, ja schon recht früh mit der Musik von Henry Purcell in Berührung gekommen. Wann und in welchem Zusammenhang war das?
Das war bei einer Aufführung von The Fairy Queen in den 60er Jahren in meiner Heimatstadt Gent, bei der ich im Chor mitgewirkt habe. Seitdem fasziniert mich Purcell ungemein, da seine Musik so außergewöhnlich reichhaltig ist. Gemeinsam mit der inzwischen leider verstorbenen Sopranistin Judith Nelson und meinen geschätzten musikalischen Mitstreitern vom Concerto vocale, dem Cembalisten William Christie, dem Lautenisten Konrad Junghänel und dem Gambisten Wieland Kuijken, habe ich dann nahezu den gesamten Orpheus Britannicus gesungen. Diese Sammlung von Purcells Songs, in der auch eine ganze Reihe seiner berühmten Stücke enthalten ist, haben wir buchstäblich »geplündert«. Darüber hinaus hat mich Alfred Deller animiert, mich mit Purcell und der englischen Musik zu beschäftigen. Deller war ja der erste Countertenor überhaupt – im Übrigen war er bei der Genter Aufführung von The Fairy Queen als Solist dabei. Dass ich als Sänger einmal in seine Fußstapfen treten sollte, konnte ich damals noch nicht ahnen.

In England ist Purcell so etwas wie ein Nationalheiliger. Auf dem Kontinent ist er jedoch nicht in gleichem Maße anerkannt. Woran könnte das liegen? Ist Purcell wirklich »very british«, womöglich zu sehr für unseren Geschmack?
Die Wirkung von Purcells Musik scheint mir sehr an die Sprache gebunden zu sein. Wir akzeptieren problemlos das Englische im Bereich der Popmusik, wo es im Grunde omnipräsent ist. In der Barockmusik ist das anders, trotz Händel, der offenbar sehr viel »internationaler« ist als Purcell. In England gibt es zudem die große Chortradition, die bei Purcell immer spürbar ist. Und da wir schon von Countertenören gesprochen haben: Es gibt diesen speziellen Klang der englischen Chöre, der nicht zuletzt auch dadurch hervorgerufen wird, dass Männer die Altpartien übernehmen. Solistisch hat dann Alfred Deller dieses Repertoire erkundet, die englischen Lautenlieder der elisabethanischen Zeit etwa, aber auch den King Arthur. Durch seine regelmäßig stattfindenden Sommerkurse in Sénanque, an denen ich mehrfach teilgenommen habe, ist Purcell dann auch in Frankreich populärer geworden. Außerdem haben Musiker wie Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt die Werke von Purcell wieder entdeckt und sie in Konzerten und Aufnahmen einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Das war schon sehr verdienstvoll.

Was genau zeichnet seine Musik aus? Gibt es vielleicht sogar einen speziellen Purcell-Stil?
Purcell ist so unglaublich originell. Es gibt wohl keinen Komponisten der Zeit, der harmonisch so kühn war, der so weit in seiner Klangsprache gegangen ist, und der zugleich so genau auf die Texte geachtet hat, die er vertonte. Purcell selbst hat ja einmal gesagt, dass ein Song nichts Anderes sei als »the exaltation of poetry«, d. h. die Verherrlichung der Poesie. Und so hat er auch komponiert: immer sehr vom Text ausgehend, mit einem sicheren Gespür für die dramatischen Wirkungen, welche in den Worten enthalten sind und die sie offenbaren sollen. Purcell ist ein genuiner ‒ ich möchte sogar sagen ein »genialer« ‒ Theaterkomponist gewesen, immer sehr pointiert und humorvoll, nicht selten sogar mit einer ausgesprochen ironischen Note. Dass Händel ihn bewundert hat, ist offensichtlich und unmittelbar verständlich: Seine Kirchenmusik, aber auch seine Oratorien bezeugen das sehr eindrucksvoll. Hier wie dort gibt es kunstvolle kontrapunktische Passagen, aber auch eine enorm farbige Harmonik, Melodien von überwältigender Schönheit und tänzerische Rhythmen von großer Lebendigkeit.

Gibt es denn auch Vorbilder für Purcell oder ist er ein absolut eigenständiger Komponist?
Beeinflusst wurde er sowohl von der französischen als auch von der italienischen Tradition. Einerseits hat er sich von Charpentier, vor allem aber von Lully anregen lassen ‒ die berühmte »Frost Scene« aus King Arthur mit ihren eigentümlichen Stimmbebungen beispielsweise ist von einer Lully-Oper inspiriert ‒, andererseits von Cavalli und Cesti, mithin von Opernkomponisten der vorangegangenen Generation. Purcells Stil ist aber hochgradig individuell, obwohl man auch den Einfluss seines Lehrers John Blow spürt, der ebenfalls sowohl auf dem Feld der Kirchenmusik als auch auf dem des musikalischen Theaters aktiv war und auf beiden Gebieten Hervorragendes geleistet hat.

»King Arthur« ist das einzige Werk, das von Purcell explizit als »Semi-Opera« bezeichnet wurde. Stimmst Du zu, dass es nicht nur dem Namen nach besonders und einzigartig innerhalb seines Oeuvres ist?
Auch ein Werk wie Dido and Aeneas, obwohl es sich rein formal um eine kleine durchkomponierte Oper handelt, die nach der Uraufführung in einer Mädchenschule immer in Abschnitten zwischen den Akten eines Theaterstückes gespielt wurde, ist dem Prinzip nach ebenfalls ein Stück, in dem Schauspielelemente ungemein wichtig sind. Umso mehr gilt das für die größeren Werke wie The Fairy Queen und eben King Arthur, bei denen es auf eine gute Balance zwischen den Anteilen von Sprech- und Musiktheater ankommt. Wenn man allein die Dramenvorlage betrachtet, kommt man aber zu dem Schluss, dass King Arthur über weit größere dramatische Qualitäten verfügt als The Fairy Queen. Es ist ein wirklich gutes Theaterstück, das allein durch den Text von John Dryden bestehen könnte – obwohl die Musik von Purcell natürlich sehr fehlen würde.

Hast Du ein Lieblingsstück aus dem »King Arthur«, oder auch mehrere davon?
Die schon erwähnte »Frost Scene« ist natürlich ein Höhepunkt. Aber auch den Dialog der beiden Figuren He & She »You say ’tis love« mag ich sehr – er ist gewissermaßen ein Drama im Drama, eine kleine Kantate, bestehend aus einem Rezitativ und kurzen Arien von verschiedenen Formen. Wir haben dieses Stück an einen besonderen Platz gerückt, an den Schluss des ersten Teils, direkt vor der Pause. Und zudem haben wir uns dafür entschieden, dieses Duett mit Sopran und Countertenor statt mit Bass zu besetzen, so wie es im Orpheus Britannicus gedruckt ist. Darüber hinaus ist die Sopran-Arie »Fairest isle« ganz wunderbar, eine große melodische Eingebung Purcells. Eigentlich gibt es im gesamten King Arthur keine schwache Musik: Die große Passacaglia und die Chaconne, zwei typische Purcell’sche Ostinatostücke, sind kompositorisch ebenso hochwertig wie viele der Solo- und Ensemblesätze in den verschiedenen musikalischen Szenen.

Sven-Eric Bechtolf und Julian Crouch haben in ihrer Inszenierung eine Rahmenhandlung kreiert, die bewusst in einer anderen Zeit und einem anderen Ambiente angesiedelt ist. Gefällt Dir eine solche Annäherung an das Stück?
Die Zusammenarbeit hat sich vom ersten Augenblick an sehr positiv gestaltet, sie war immer sehr produktiv und anregend. Inzwischen sind wir bestens aufeinander eingespielt und wissen schon, was der jeweils Andere künstlerisch möchte. Sven hat ja eine Anzahl neuer Texte geschrieben, im Stil von Dryden, sehr kreativ. Ich finde es gut und sinnvoll, dass Drydens Drama erhalten bleibt, aber in eine Rahmenhandlung eingebettet wird, die eine Aktualisierung vornimmt. Wahrscheinlich ist es sehr schwierig, King Arthur komplett historisch bzw. historisierend zu spielen. Insofern bin ich sehr damit einverstanden, was Sven und Julian da gemeinsam konzipiert und entwickelt haben.

Für die Produktion im Schiller Theater ist von Dir auch eigens eine musikalische Fassung erstellt worden, mit zusätzlicher Musik. Kannst Du kurz beschreiben, worum es sich dabei handelt und wie Du vorgegangen bist?
In der Tat haben wir eine ganze Reihe von »Background-Musiken« in die Aufführung integriert. Das geschah in der Absicht, auch in den längeren Sprechdialogen die musikalische Spannung nicht zu verlieren. Diese Idee habe ich auch schon früher verfolgt: bei Mozarts Entführung aus dem Serail und seiner Zauberflöte, mit sehr guten Ergebnissen. Unsere Produktion von King Arthur geht ja von einem prinzipiellen Nebeneinander von Schauspielern und Sängern aus, mit nur wenigen Überschneidungen. Zudem sprechen die Schauspieler deutsch, während die Solisten und der Chor, nicht selten auch mit vereinten Stimmen, den originalen englischen Text singen. Es klafft also etwas auseinander, was von den eingefügten Zwischen- und Hintergrundmusiken wieder aufgefangen und miteinander verbunden werden soll. Ausgewählt haben wir dazu Kammermusik von Purcell: einige seiner Gambenfantasien etwa, aber auch Pavanen und andere Instrumentalsätze, die sicherlich zum Besten gehören, was im späten 17. Jahrhundert in diesen Genres komponiert worden ist. Es handelt sich hierbei zwar um »abstrakte« Musik, die uns aber die Möglichkeit eröffnete, sie gleichsam kontrapunktisch zum gesprochenen Text einzusetzen. Das ist gewissermaßen ein eigener kreativer Beitrag.

Vielen Dank, lieber René, für das Gespräch. Und viel Erfolg für den Berliner »King Arthur«.

 

 

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.




Fotos die auf Instagram mit #staatsoperberlin getagged wurden.