Von den Spielarten des Glücks
Eine Fidelio-Libretto-Auslese von Dramaturg Detlef Giese
Viel lässt sich vom Glück singen und sagen. Dass die Vorstellungen darüber, was dieses Phänomen nun eigentlich ist, bedeutet und beinhaltet, teils deutlich auseinandergehen, liegt in der Natur der Sache. Denn obwohl das Streben nach Glück ein alter, sich immer wieder erneuernder Menschheitstraum ist, uns allen in irgendeiner Weise eingegeben, verbindet Jede und Jeder doch etwas Anderes damit.
Die antiken Philosophen haben sich mit der Frage nach dem Glück ebenso beschäftigt wie die mittelalterlichen und neuzeitlichen Denker. Vielgestaltig, teils auch widersprüchlich sind die Antworten, die sie darauf gefunden haben. Mit entspanntem und doch hellsichtigem Ernst haben Platon & Co. das Glück als erstrebenswerte Begleiterscheinung eines aktiven, tugendhaften Lebens bestimmt — im Sinne einer Harmonie, bei der die Gegensätze zum Ausgleich gebracht sind. »Eudaimonia«, das Glück, das sich als eine Art »heitere Gelassenheit« offenbart, wird zum höchsten Ziel und Zweck, dem sich der Mensch überhaupt annähern kann und zu dessen Erreichen er fähig ist.
Allzu ideal mag das klingen, definiert sich »Glück« bei nicht wenigen doch auch — und vor allem — über das Materielle. Wohlstand, Gewinn und Sicherheit sind zweifellos Triebfedern, die des Menschen Denken und Handeln antreiben. Manch einem scheint dies aber zu profan, allzu diesseitig zu sein — ein wirkliches, obschon oft beschworenes »Wunschlos-Glücklich-Sein« stellt sich hier wohl kaum einmal ein. Anders schon, wenn die sprichwörtliche Magie des Moments ihre Wirkung entfaltet: in der Nähe des / der Geliebten, in der Aura der Natur, im Erleben von Kunst. All das kann eine bezwingende Macht ausüben und tief im Inneren ein Gefühl von Glück erzeugen.
Realen Personen ist das gegeben, aber auch Bühnenfiguren. Die Protagonisten in Beethovens »Fidelio« gehören gewiss dazu, tragen sie ihre Emotionen doch gleichsam auf der Zunge. In den ihnen zugedachten Texten, zumal den gesungenen, artikulieren sie (fast) alle, was sie vom Glück halten und was sie glücklich macht: der zwielichtige Kerkermeister Rocco und seine ehrbare Tochter Marzelline, der gewalttätige Gefängnisgouverneur Pizarro, der hoffnungsfrohe Chor der Gefangenen sowie natürlich Florestan und Leonore, das leidens- wie jubelfähige »hohe Paar« des Dramas.
Wie ein roter Faden zieht sich das Reden vom Glück durch das Werk, auffällig häufig und mit einem erstaunlich breiten gedanklichen Spektrum versehen. Die Liebe ist es, wie kann es anders sein, im Kleinen wie im Großen, jene im selbstgenügsam-stillen Winkel ebenso wie jene von gleichsam weltumspannenden Weite, aber auch Rettung und Freiheit, Gold und Geld, selbst die Rache — durch all das kann ein Gefühl von Glücklichsein hervorgerufen werden. Aus je eigener Perspektive, mit je eigener Motivation, bringen dies die Figuren der Oper eindringlich zum Ausdruck, in Kombination mit ihrer Musik, die man sich bei Gelegenheit wieder einmal hörend vergegenwärtigen sollte. Denn dann wird erst so richtig spürbar, wo Beethovens Sympathien liegen: bei den Liebenden und Leidenden, die mit nimmermüder Hoffnung nicht aufgeben, nach ihrem Glück zu suchen und es letztlich auch erreichen zu wollen, allen offensichtlichen Ängsten und Gefahren zum Trotz. Am Schluss jedoch zieht die Größe des Augenblicks alle überwältigend in ihren Bann — und die Allmacht der Liebe, die mit ihren schier unendlichen Kräften alle Hürden zu überwinden vermag.
Diesen Beitrag findet ihr auch in »Staatsoper — Das Magazin No. 5«