Wenn sich eine Tür dir schließt, öffnet sich irgendwo eine andere…
Kajsa Niehusen hat die gestrige Premiere von »Footfalls / Neither« besucht und ihre Eindrücke zu Katie Mitchells Inszenierung für uns in ihrer Rezension zusammengefasst.
WEDER – Samuel Beckett
hin und her in Schatten von innerem zu äußerem Schatten
von undurchdringlichem Selbst zu undurchdringlichem Unselbst
durch Weder
wie zwischen zwei lichten Zufluchten, deren Türen sobald
nähergekommen sacht schließen, sobald abgewandt
sacht wieder öffnen
vor und zurück gelockt und abgewiesen
achtlos des Wegs, gerichtet auf den einen Schimmer
oder den anderen
ungehörter Tritte einziger Laut
bis endlich still für immer, fern für immer
vom Selbst und vom Anderen
dann kein Laut
dann schwaches Licht unabhängig auf jenem unbeachteten
Weder
Unaussprechliches Heim
Die Inszenierung Katie Mitchells an der Staatsoper, die am Sonntagabend im Schiller Theater Premiere feierte, bleibt jedem einzelnen Wort, jedem Atemzug dieses Gedichts von Samuel Beckett treu. Bühnenbild (Vicki Mortimer) und Licht (Jon Clark) und die Musik Morton Feldmans (gespielt von der Staatskapelle Berlin unter der Leitung Francois Xavier Roths) kreieren eine fast schaurige Atmosphäre und einen Thriller-artigen Spannungsbogen.
Der Abend beginnt mit einem weiteren Stück Samuel Becketts, »Footfalls – Schritte«, welches das Gedicht gewissermaßen umschlingt. »Footfalls – Schritte« dient als Einstieg in das »Neither – Weder«, beschreibt die Ausgangssituation, in der sich die Protagonistin May befindet.
Immerzu läuft May (gespielt von Julia Wieninger) wie mechanisch und vornübergebeugt auf und ab. Blaugrau wie der Morgen leuchtet zunächst die Bühne. Schnell wird deutlich, dass die ungefähr 40-Jährige May seit ihrer Jugend nicht mehr aus war. Stattdessen spricht sie mit ihrer Mutter, die mit einer roboterartigen, abgehackten Stimme aus dem Off antwortet. Wir bekommen sie nie zu sehen. Offenbar ist die Mutter ein Pflegefall (gewesen) – ob sie noch immer lebt oder nur in Mays Erinnerung weiterspricht, wird nicht klar. Das andauernde Auf- und Abschreiten Mays auf den immerselben Spuren erinnert an den Hospitalismus, den oft Tiere in Gefangenschaft zeigen. Nur scheint May eine Gefangene ihrer selbst.
Nahtlos gehen die beiden Stücke »Footfalls« und »Neither« ineinander über, als sich plötzlich die Wand hinter May hebt und ein weiterer Raum, genau wie der, in dem sie sich befindet, sichtbar wird: Lang, viele Schritte ermöglichend, aber auch schmal, kein Ausweichen vom immer selben Tritt erlaubend. An jedem Ende eine weiße Holztür. Immer weiter und weiter öffnet sich der Bühnenraum, fast bis ins Unendliche, immer dunkler werdend.
Mays Innerstes wird nun zur Guckkastenbühne. Auf jeder der neun Ebenen schreitet eine weitere Frau umher, ähnlich gekleidet wie May, ihre Bewegungen imitierend. Gleichzeitig agieren die Frauen aber auch unabhängig voneinander, schreiten mal voran, gehen rückwärts, bleiben stehen – und werden sich nicht einig. Das Leid vervielfacht sich, denn keine schafft es, durch die sich immer wieder öffnenden Türen zu treten in das gleißende Licht, das aus dem Raum hinter den Türen scheint.
May ist nun stumm; an ihrer Statt singt die Frau, die ihr am nächsten steht, das Gedicht »Neither«, vertont von Morton Feldman. Die klagende Stimme (Sopran: Laura Aikin) korrespondiert mit der Musik, die zunächst eher flehend, im Verlaufe des Stücks dann immer drängender wird. Auch May und ihre Persönlichkeiten drängen immer mehr nach Außen. Doch es scheint kein Ausbruch möglich aus dem inneren Gefägnis. Das Grauen vor der Außenwelt hindert sie daran, ihr Gefägnis zu verlassen, und das Grauen vor dem Alleinsein bringt sie bald um. Mehrmals fassen sich May und ihre verschiedenen Persönlichkeiten an den Kopf, doch die Selbstbeschuldigung kann nicht mehr gegen die Selbstbehinderung helfen, es ist zu spät. In den letzten Minuten tritt ein undefinierbares Gefühl von Erschöpfung ein – und die Hin- und Hergerissenheit wandelt sich schließlich in ein langsames Sterben.
Wenn sich eine Tür dir schließt, öffnet sich irgendwo eine andere: Dieses Sprichwort wird hier ad absurdum geführt. Es mag vielleicht ein Fünkchen Wahrheit darin sein, doch kann es nur Wirklichkeit werden, wenn man es schafft, eben jene Türen selber aufzustoßen.
Dieses existentialistische Dilemma ist universell. Zu einem gewissen Grade kann sich jeder Mensch mit dieser Schwierigkeit, mit sich selbst einig zu werden, identifizieren. Mit der Suche nach seinem Platz im Leben. Katie Mitchell ist es in dieser Inszenierung des Beckettschen/Feldmanschen Werks gelungen, dieses Dilemma in seiner Vielschichtigkeit herauszuarbeiten, und dabei Raum für Interpretation zu lassen.