»Ganz neuer Wein in uralten Schläuchen«

Auf einen Kaffee mit der Dramaturgie - Die Kunst der Fuge

Der Konzertmeister Stephan Mai im Gespräch mit den Dramaturgen Detlef Giese und Roman Reeger über Bachs Kunst der Fuge

Seit zwölf Jahren arbeitet ihr nun mit »Preußens Hofmusik« und seitdem hat Johann Sebastian Bachs Die Kunst der Fuge eigentlich immer konsequent eine Rolle gespielt. Warum gerade dieses sehr besondere Werk?
Das ist eine gute Frage, die viel mit der Gründung des Ensembles zu tun hat. Das erste Konzert haben wir zusammen mit dem berühmten Bass Kwangchul Youn gestaltet, den ich als Titurel in Parsifal erlebt habe. Ich wurde damals von meinem Kollegen Harald Winkler, der die Konzertreihe »Barocke Kammermusik« geleitet hat, gebeten, dass wir zusammen mit Kwangchul Bachs Kantate Ich habe genug musizieren. Ich habe mich natürlich sehr geehrt gefühlt und gleichzeitig überlegt, was programmatisch dazu passen könnte. Schnell kam dann die Idee, dass wir an den letzten unvollendeten Contrapunct aus Bachs Kunst der Fuge ebenjene Kantate Ich habe genug anschließen und zwar als nahtlosen Übergang.

»Ich bin seit meiner Kindheit tief beeindruckt von diesem Werk.«

Diese Kombination erscheint natürlich einleuchtend. Denn lange hielt sich ja das Gerücht, dass der alte Bach über diesem letzten Contrapunct »verstorben« sei, wie es sein Sohn Carl Philipp Emanuel auf einem Autograph vermerkt hat …
Ja, man könnte sagen, dass Carl Philipp Emanuel Bach hier einen Marketing-Trick angewendet hat, damit sich die Sammlung besser verkaufen lies. Die Absatzzahlen der gedruckten Ausgabe waren ja zunächst extrem niedrig. Da viele mit der Kunst der Fuge mehr verbinden, als nur gute Fugenkomposition und ich seit meiner Kindheit tief beeindruckt von diesem Werk bin, haben wir die Tradition beibehalten, in jedem Jahr Ausschnitte hieraus mit anderen Stücken in Verbindung zu setzen.

Und nun wagt ihr euch zum ersten Mal an eine Gesamtaufführung …
Man mag da durchaus seine Zweifel haben, da das Werk ganz bestimmt nicht für eine zyklische Aufführung konzipiert wurde. Für uns ist es aber dennoch ein Zyklus. Und spätestens beim Spielen stellt man fest: Es funktioniert! Es entsteht eine unheimliche Atmosphäre auf dem Weg vom ersten Contrapunctus bis zum unvollendeten letzten …

Habt ihr auch wieder vor, an diesen letzten Contrapunctus ein anderes Stück anzuschließen, wie z. B. die Choralbearbeitung Vor deinen Thron tret’ ich hiermit, von der ja lange behauptet wurde, dass Bach sie selbst als Schluss für seine Fugensammlung vorgesehen hatte?
Nein, wir wollen tatsächlich mit dem letzten unvollendeten Contrapunctus schließen. Ich halte es für wichtig, dass der Zuhörer nicht aus jener fast »meditativen Stimmung«, welche sich im besten Falle beim Durchhören des Werks einstellt, herausgerissen wird.

Der gesamte Zyklus steht ja in einer Tonart und häufig sind die aufeinanderfolgenden Stücke auf sehr ähnliche Art und Weise gestaltet. Dramaturgische Überlegungen scheinen für Bach keine Rolle gespielt zu haben. Handelt es sich bei der Kunst der Fuge um ein reines Demonstrationsstück?
Da ist auf jeden Fall was dran. Aber über die vielen Jahre der Beschäftigung mit diesem Werk stelle ich auf eine spezifische Art und Weise doch eine Dramaturgie fest. Bei uns verstärken sich diese Tendenzen zusätzlich durch die Instrumentierung.

Lange ist darüber diskutiert worden, für welche Besetzung Bach Die Kunst der Fuge geschrieben hat, da er bewusst einen abstrakten Tonsatz gewählt hat, der nicht sofort erkennen lässt, ob es sich um Musik für Tasteninstrumente oder für ein Streicherensemble handelt …
Bei vielen der Stücke merkt man schnell, dass Bach ein Tasteninstrument im Sinn hatte, etwa eine Orgel. Jedoch gibt es auch Stücke, welche für Tastenspieler technisch nur schwer zu bewältigen sind, da sie z. B. eine übergroße Spannweite der Hände erfordern. Solche technischen Schwierigkeiten erzwingen zugleich häufig bestimmte langsame Tempi, wenn den Tonsatz unverändert spielen will. Dies kommt der Musik wie ich finde jedoch sehr zugute, da das »Brot doch am besten schmeckt, wenn man es auch langsam kaut.«

Ihr habt durchaus interessante, zum Teil auch ungewöhnliche Instrumentierungen gewählt …
Das stimmt, u. a. haben wir manche Contrapuncti mit vier Klarinetten instrumentiert. Es gibt aber natürlich auch Tasten- und Streichinstrumente.

»Es geht darum, dem Zeitalter Bachs nachzuspüren.«

Wie habt ihr die Auswahl vorgenommen?
Zum Teil sind das natürlich dramaturgische Überlegungen, aber vielfach gibt es auch Zwänge. Nur auf einem Streichquartett lässt sich die Kunst der Fuge eigentlich nicht darstellen, es sei denn man nimmt viele Anpassungen und Umlegungen vor, da manche Stimmführungen in den Mittelstimmen tiefer reichen als das tiefe G auf der Violine. Grundsätzlich schwebte uns vor, mit den verschiedenen Instrumentengruppen dem Klang einer barocken Orgel zu entsprechen. Es geht nicht darum, eine möglichst bunte Mischung zu bieten, sondern dem Zeitalter Bachs nachzuspüren. Der Streicherklang ist der Grundklang, dazu kommen die Doppelrohrblattinstrumente. Der Soloklarinettist der Staatskapelle, Matthias Glander, hat mich schließlich davon überzeugt, auch ein Klarinettenquartett als selbstständige Formation, als Register zu integrieren. Hierdurch entstehen eigenwillige Klangmischungen, die interessante Aspekte von Bachs Zyklus zum Vorschein bringen. An manchen Stellen assoziiert man beispielsweise einen richtiggehenden Jazzklang.

Wie hat sich dein eignes Verständnis von Bachs Kunst der Fuge über die Jahre gewandelt?
Hm, als junger Mensch neigt man schnell dazu von bestimmten Passagen ergriffen zu sein, z. B. bei dem berühmten Namenszitat B-A-C-H im letzten Contrapunctus, das trifft einen einfach. Über die Jahre und mit zunehmender Beschäftigung versachlicht sich die Einstellung gegenüber dem Werk, was nicht bedeutet, dass einen manche Stellen immer noch ergreifen oder einen auch emotional direkt ins Herz treffen. Ich bemerke aber, dass sich das Verständnis nun mehr auf das große Ganze verlagert. Das meine ich auch kulturell, etwa wenn man sich überlegt, dass Bach in den 1740er Jahren, als er die Kunst der Fuge schrieb, Immanuel Kant in Königsberg sein epochales Denken zu entwickeln beginnt. Die gesamte geistige Entwicklung dieser Zeit ist höchst interessant. Ich glaube auch, dass Bach mehr war als der naive Protestant, als der er manchmal dargestellt wird. Es gibt gerade in der Kunst der Fuge Stellen, welche an Arnold Schönberg erinnern.

Der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler hat die These von Bach als dem Wegbereiter aufgestellt. Auch wenn er gewissermaßen auf alte Formen des 17. Jahrhunderts zurückgreift und somit eine musikalische Tradition zu ihrem Abschluss führt, fungiert er gleichsam als Türenöffner für zukünftige musikalische Epoche.
Ja genau. Man könnte sagen, dass Bach hier ganz neuen Wein in uralten Schläuchen liefert. Bach hat sich immer irgendwo auch nach dem Aufbruch gesehnt. Er muss die Zeichen der Zeit und die vielen sich anbahnenden Veränderungen, welche sich nicht abschließend nur mit dem Begriff »Aufklärung« beschreiben lassen, gespürt haben.

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