Alban Berg – Chronik eines Lebens III
Anlässlich des 130. Geburtstages von Alban Berg widmet sich Dramaturg Roman Reeger in einer vierteiligen Chronik dem Leben und Werk des Komponisten. Der dritte Teil reicht von der Fertigstellung der Drei Orchesterstücke op. 6 bis zur Uraufführung seiner Oper »Wozzeck« an der Staatsoper Unter den Linden im Jahr 1925.
Zum 40. Geburtstag seines Lehrers Arnold Schönberg, der auch nach dem Weggang aus Wien und Umzug nach Berlin weiterhin zu seinen wichtigstenVertrauenspersonen zählte, übersendete Alban Berg ihm die soeben fertiggestellte Partitur der Drei Orchesterstücke op. 6, die er mit der Widmung versehen hatte: »Meinem Lehrer und Freunde Arnold Schönberg in unermeßlicher Dankbarkeit und Liebe«. Auch wenn sich das Verhältnis Bergs zu Schönberg und auch zu Webern im Wesentlichen nicht verändert, sondern vielleicht sogar auf gewisse Art und Weise durch die räumliche Trennung intensivierte, so hatte sich die Welt um sie herum während in jener Zeit, in der Berg seine Drei Orchesterstücke komponierte, bald grundlegend verändert. Dabei wurde der Ausbruch des I. Weltkriegs sowohl von Schönberg als auch von Berg und Webern durchaus positiv aufgenommen. Man betrachtete ihn nicht nur als historische Notwendigkeit, sondern versprach sich in Wien eine ebenso eine fast karthatische Wirkung in Bezug auf die eingeschlafene Welt der k. u. k. – Monarchie. Viele von Bergs Zeitgenossen, unter ihnen Webern, meldeten sich bald freiwillig und auch Berg betrachtete seine Mitwirkung an dem Krieg als patriotische Pflicht.
So schildert er in einem Brief an Schönberg vom 24. August 1914: »Vielleicht werde ich bald einberufen! Im I. und II. Aufgebot befinde ich mich nicht, aber so wie die Dinge stehen, könnte es bald zum III. kommen, wobei ich wahrscheinlich zu Bureauzwecken verwendet werden würde. Man spricht auch viel von Nachassentierungen. Da könnte mir wohl auch körperliche Arbeit erwachen (z. Bsp. bei den bei Wien an der Donau begonnenen Befestigungsbauten). Jedenfalls würde ich sowas gerne tun, denn es ist für mich beschämend bei diesen ungeheuren Ereignissen nur als Zuschauer zu fungieren.« Aufgrund seiner Asthmaerkrankung rechnete Berg fest damit, keinen Dienst an der Front ableisten zu müssen und ohnehin sorgte er sich fast mehr um eine mögliche Einberufung Schönbergs, wie er in einem weiteren Brief nur wenige Tage später bemerkte: »Ich glaube, was die [Einberufung zum Militärdienst] betrifft, können Sie, lieber Schönberg, einstweilen ohne Sorge sein!« Bergs Zuversicht speiste sich aus der systematischen Wehrerfassung, die zunächst die Männer, die bereits ihren Wehrdienst abgeleistet hatten und dann die jüngeren »ungedienten« im Alter von 21-37, zu denen er selbst gehörte, berücksichtigte.
Tatsächlich wurde Berg am 27. November des ersten Kriegsjahres zur Musterung geladen und, wie er es erwartet hatte, für »untauglich« befunden, was ihn dennoch enttäuschte und deprimierte: »So bin ich ausgeschaltet und zum Zusehn verurteilt. Das macht diese Zeit noch schwerer und unerträglicher.« Bald kamen Berg Zweifel am raschen Erfolg des Krieges, über dessen Fortgang er widersprüchliche Berichte hörte und las. Immer wieder zeigte er sich schockiert, angesichts der hohen Opferzahlen, von denen bei den Gefechten in Serbien berichtet wurde. Bei einer Nachmusterung, die offiziell aufgrund des Kriegseintritts Italiens veranlasst wurde, wurde er schließlich für »geeignet« befunden. Schönberg versuchte den Freund zu ermuntern: »Ich hatte geglaubt, dass Sie nicht behalten werden. Aber trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass der Krieg zu Ende ist, ehe Sie dran kommen. Ja ich glaube sogar, dass Webern nicht mehr ins Feld kommt. […] Ich bin ganz überzeugt, dass der Krieg in 3-4 Monaten zu Ende ist!« Berg kam zunächst als »Einjähriger« in das erste Landwehrregiment, wo er vor allem »Konzeptionsarbeit« zu leisten hatte. Als Offiziersanwärter für kurze Zeit nach Bruck an der Leitha versetzt, erlitt er dort einen Zusammenbruch und wurde mit einem Hinweis auf Nichterfüllung der notwendigen »physischen« und »moralischen Voraussetzungen« zurück nach Wien geschickt, wo er bis zum Ende des Krieges Wach- und Hilfsdienste ableisten musste.
Die Abneigung, die Berg hieraufhin in Bezug auf die Kriegsereignisse und auf das Soldatendasein entwickelte, floss direkt in seine erste große Oper »Wozzeck« ein, mit deren Konzeption er bereits 1914 begonnen hatte. Auslöser war die österreichische Erstaufführung von Georg Büchners Dramenfragment »Woyzeck« an den Wiener Kammerspielen. Der berühmte Schauspieler Albert Steinrück spielte die Titelrolle und erntete in ganz Österreich größtes Lob seitens der Kritiker. Berg faszinierte die Figur des Franz Woyzeck, einem geknechteten Soldaten, der zugleich als Versuchsperson perfider medizinischer Experimente herhalten muss und zum Mörder seiner Freundin Marie wird, und fasste unmittelbar den Entschluss, »ihn in Musik zu setzen«. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Komponistenkarriere, begann Berg, der ein besonderes Gespür für Dramatik besaß, das Musiktheater als den eigentlichen Quell seines Schaffens, als höchste Form, die es anzustreben galt, zu betrachten. Entscheidend waren für ihn nicht nur die neuen Opern Schrekers und Strauss’, sondern ebenso die Stücke Strindbergs, dessen Realismus seine ästhetische Vorstellung maßgeblich beeinflusste. Bereits 1912 hatte Schönberg, der Bergs dramatisches Talent ebenso vermutete, seinem Schüler geraten, »etwas für das Theater zu schreiben«; doch Berg zögerte und wartete auf den »richtigen« Text.
Einen solchen schien er mit Büchners Dramenfragment gefunden zu haben. Von den mehr oder weniger unzusammenhängenden 27 Szenen strich Berg beinahe die Hälft und gestaltete eine streng-symmetrische Form, die aus 5 Szenen mit je 3 Akten bestand und zugleich einer stringenten Dramaturgie nach aristotelischem Prinzip folgte. Der Text wurde auch für die musikalische Gestaltung zum maßgeblichen Faktor. Jede musikalische Geste orientiert sich auf unterschiedliche Art und Weise am Text und gestaltet ihn auf genauste aus. Indem sich die Musik rückhaltlos im Text versenkte, wie es Adorno einmal beschrieb, erreichte sie einen neuen Grad an Automie, die sich jedoch auch in der Wahl musikalischer Formmodelle fortschrieb. Während der Jahre 1914 bis 1917 musste er die Arbeit an »Wozzeck« unterbrechen, was jedoch nicht nur an den äußeren Umständen des Krieges, sondern ebenso einem zentralen Formproblem geschuldet war. Bereits Schönberg, der sich anfangs skeptisch gegenüber Bergs Plan der »Wozzeck«-Komposition zeigte, begriff die Problematik: Wie sollte es gelingen, eine abendfüllende Oper weitestgehend atonal zu komponieren? Berg begegnete diesem Formproblem, indem er jeder Szene ein anderes musikalisches Formmodell zugrunde legte und somit größere Zusammenhänge schaffen konnte. So stehen im ersten Akt fünf Charakterstücke, von denen z. B. die erste Szene (Wozzeck rasiert den Hauptmann) einen Suitensatz bildet. Hierauf folgen eine Rhapsodie über drei Akkorde (und Jägerlied), ein Militärmarsch, eine Passacaglia sowie ein Rondo. Der zweite Akt bildet eine Sinfonie in fünf Sätzen, der dritte Akt hingegen besteht aus fünf Inventionen (über ein Thema, einen Ton, einen Rhythmus, einen Sechsklang und eine Achtelbewegung). Auch in Bezug auf Leitmotivik, Harmonik und vor allem die Instrumentierung (»Zu lernen ist am Wozzeck vorab, was Ausinstrumentieren heißt.«, schrieb Adorno) beschreitet Berg neue Wege, die sich als richtungweisend für das Musiktheater im 20. Jahrhundert erweisen sollten. Mit seinem »Wozzeck« schuf Berg nicht nur sein persönliches, sondern vielleicht das große Meisterstück des 20. Jahrhunderts, in welchem unterschiedlichste Stile und ein gewaltiges Spektrum musikalischer Ausdrucksmittel zusammenführte.
Das musikalische Material des »Wozzeck« speist sich aus Skizzen, die zu großen Teilen bereits während seiner Lernzeit bei Schönberg entstanden. Im Frühjahr 1922 war die Komposition weitestgehend abgeschlossen. Euphorisch schrieb Berg an Schönberg: »Die letzten Tage in Wien waren recht anstrengend. Aber nun existieren 2 gleichlautende, wunderbar eingebundene Partituren.« Große Schwierigkeiten indes bestanden in Bezug auf die Uraufführung des Werkes. Zunächst fand sich kein Theater, welches die Uraufführung dieser als aufwendig und schwierig geltende Oper produzieren wollte. Da auch die Verlage zunächst zögerten, »Wozzeck« herauszugeben, half abermals Alma Mahler, indem sie die erste Veröffentlichung finanzierte. Aus Dankbarkeit sollte Berg ihr das Werk später widmen. Durch die Vermittlung Emil Hertzkas, dem Direktor des Wiener Musikverlages Universal Edition, wurde Erich Kleiber, der gerade zum Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden in Berlin berufen wurde, auf das Werk aufmerksam und war bald entschlossen, die Uraufführung an seinem Haus stattfinden zu lassen. Aufgrund von Verzögerungen in der Herstellung des Materials und des großen Widerstandes, der sich hinter den Kulissen gegen das Stück formierte, verschob sich die Premiere mehrmals. Kleiber gelang es jedoch schließlich, die Solisten, das Orchester und den Chor für die neue Komposition zu begeistern und als Berg selbst zwei Wochen vor der Premiere nach Berlin reiste, machte er die »für einen Wiener ziemlich überraschende Entdeckung, daß keiner der Mitwirkenden über Unaufführbarkeit, Unsangbarkeit und dergleichen lamentierte.« Bei der Premiere am 14. Dezember 1925 blieb der im Vorfeld erwartete Skandal aus. Zwar herrschten kontroverse Meinungen über die Neuartigkeit der Musik und über den Komponisten vor, doch insgesamt trug die erste Serie des »Wozzeck« zum bald darauf wachsenden Ruhm des Werkes bei und Berg hatte sich als Musikdramatiker neu erfunden.