»Beim Lesen […] fing ich sofort an, Musik zu hören und musikalische Konstellationen wahrzunehmen«

2014 brachte der Münchner Komponist Nikolaus Brass mit »Sommertag« sein erstes Musiktheaterwerk zur Uraufführung. Die bedrückende Atmosphäre dieses gleichnamigen Theaterstücks des norwegischen Autors Jon Fosse übersetzt Brass eindringlich in Musik. An der Staatsoper Unter den Linden feiert das Kammermusiktheater nun in der Inszenierung von Eva-Maria Weiss und unter der musikalischen Leitung von Max Renne am 10. Februar Premiere. Der Komponist im Gespräch mit Dramaturg Benjamin Wäntig.

Herr Brass, wie sind Sie zuallererst auf den norwegischen Dramatiker Jon Fosse und sein Stück »Sommertag« gestoßen?

Nikolaus Brass

Als erstes Stück von Jon Fosse habe ich »Traum im Herbst« an den Münchner Kammerspielen gesehen, das wie »Sommertag« ein sehr intimes Kammerstück ist. Auch in der deutschen Übersetzung hat mich Fosses Sprache fasziniert, da sie sehr viel Raum gibt für Stille zwischen den Worten, für die Bedeutung des Gesagten, die aber nicht ausgesprochen wird, sondern die am Gesagten »dranhängt«. Und das eröffnet sogleich einen musikalischen Raum, was ich damals schon als etwas Besonderes wahrgenommen habe. Daher fasste ich den Autor für eine mögliche Vertonung ins Auge. Dann sind aber doch viele Jahre ins Land gegangen, ehe ich mehr oder weniger durch Zufall eine Textsammlung in die Hände bekam, die neben »Traum im Herbst« gleich an erster Stelle »Sommertag« enthielt. Beim Lesen dieses Dramas fing ich sofort an, Musik zu hören und musikalische Konstellationen wahrzunehmen – aufgrund eben der musikalischen Qualität des Fosse-Texts. Gleich nach der ersten Lektüre entstand eine erste, grobe Textfassung für eine Vertonung. Als sich dann später die Möglichkeit bot, ein Werk für die Münchner Biennale für Neues Musiktheater zu schreiben, bin ich auf diesen Entwurf zurückgekommen.

Woran machen Sie die musikalische Qualität der Texte Jon Fosses konkret fest?

Zunächst am Rhythmus: Die Worte klingen manchmal sehr simpel, aber dahinter steht die hohe Kunst, eine Rede zu rhythmisieren und dem Klang der Worte Raum zu geben – ganz abgesehen von aller psychologischen Meisterschaft des Dramatikers, mit der er durch Verknappung Spannung erzeugt. In diesen Kontext fallen auch seine Wiederholungs- und Variationsstrukturen, die genuin musikalische Mittel sind. Fosse hält vieles in der Schwebe, seine sparsame Verwendung von Satzzeichen deutet es an. Was mich vielleicht am meisten angesprochen hat: Es wird ein kurzer Satz gesagt, aber was darin mitschwingt, macht ihn gerade für eine musikalische »Fortsetzung« so geeignet. Bei mir »sprechen« die Sänger etwa durch Vokalisen weiter oder aber die Instrumente greifen Gedanken auf und spinnen sie fort.

Welche Rolle spielen die Instrumente dabei?

Deren Rolle ist eher intuitiv ohne ein enges strukturelles Konzept gewachsen. Beispielsweise habe ich den Kontrabass der Figur der Älteren Frau zugeordnet, was vielleicht nicht sofort naheliegt. Aber in meiner Klangfantasie symbolisiert der Kontrabass aufgrund seiner Tiefe, aber auch seines Obertonspektrums eine Vertikale, die einen enormen Bereich von hell–dunkel oder erdhaft–lichthaft abdeckt. Seine Sonorität habe ich verbunden mit einer Kraft, die ich in der Älteren Frau sehe: Sie verbündet sich – metaphorisch gesprochen – mit ihrer Tiefe, die zu ihr gehört, die aber auch bedrohliche Seiten, nämlich die Gefährdung ihres Mannes Asle hat. Aus dieser Verbündung schöpft sie am Ende die Kraft für einen Neuanfang. Zu Asle gehört das Akkordeon, zu seiner teilweise auch sentimentalen Sehnsucht, fortzukommen, weswegen er immerzu auf den Fjord fährt. Mit der Variante der Hauptfigur, der Jungen Frau, sind die beiden Melodieinstrumente Violine und Klarinette verknüpft. Sie will ja leben, strömen, ist eine lyrische Figur, die aber an etwas festhängt, das sie nicht erklären kann.

An der außerordentlich intimen Verschmelzung von Stimmen und Instrumenten hat ja auch die unterschiedliche rhythmische Organisation ihren Anteil …

Es gibt drei Notationsformen: eine herkömmlich metrische, in der die Taktordnung, die Vertikale eindeutig bestimmt ist. In meiner Vorstellung bricht sich allerdings immer mehr der Affekt in den Figuren Bahn, ja er bringt sie auch aus der Bahn. In diesen Fällen habe ich weite Strecken relational notiert, sodass Tonhöhe, Artikulation und Dynamik genau festgelegt sind, die Dauer aber nur in Annäherungen. Das hat zur Folge, dass Sänger und Musiker sehr gut miteinander agieren und sich spüren müssen – eine Intensivierung des Miteinander, die Raum schafft für eine gewisse Freiheit des Ausdrucks. Die dritte Notationsform besteht darin, die Stimmen einzeln zu notieren und nur über eine Uhr zu synchronisieren. Dabei habe ich 30-Sekunden-Zeitfenster ausnotiert, innerhalb derer sich jede Stimme frei bewegen kann. Damit entsteht eine totale Dissoziation der Zeiten, sodass, wenn die Protagonisten in diese »Zeitstrudel« hineingeworfen werden, jeder für sich in seiner eigenen Erlebniszeit rotiert. Die beiden Szenen, die ich auf die Weise organisiert habe, thematisieren ganz buchstäblich das Ticken der Uhr, nämlich das Warten auf den Verschwundenen. Innerhalb einer solchen Situation geht die Erlebenszeit der Beteiligten ganz durcheinander; meine Notation ist also der Versuch, eine psychologische Situation der Anspannung musikalisch darzustellen. Bei einem Setting wie hier in der Neuen Werkstatt mit der großen Nähe zum Publikum überträgt sich das auch sicher auf die Zuschauerinnen.

Das Interview führte Benjamin Wäntig

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