DAS BÖSE, EINE FRAGE DER TRANSPARENZ – ZWISCHEN KONSENSGESELLSCHAFT, ANARCHIE UND PRODUKTIVER UNORDNUNG

Das Böse kennt keinen Trost. Kain erschlägt seinen Bruder Abel und begeht damit den ersten Mord in der Geschichte der Menschheit. Die Empfindung von Neid, Ungleichheit und Ungerechtigkeit als Ursprung unmoralischen Handelns und Selbstjustiz ist das Thema unserer nächsten Premiere: IL PRIMO OMICIDIO. »Woher kommt das Böse?« und »Ist unsere Gesellschaft am Ende der Empathie angelangt?«, diese und weitere Fragen stellt Dramaturgin Jana Beckmann.

»Die gesamte Geschichte ist ein einziges Verbrechen.« (Jean Baudrillard)

Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Hass, Vernichtung und Vergeltung überdauern die Jahrhunderte, allein die Kontexte scheinen zu variieren. Das Böse zeigt sich in der Geschichte von Kain und Abel als Verfeindung zwischen den Menschen aus Neid. Kain empfindet die Zurückweisung Gottes als Ungerechtigkeit und greift zur Selbstjustiz. Brutal erschlägt er seinen Bruder Abel. Es ist der erste Mord der Menschheit. Mit der Tötung von Abel erhalten Gewalt und Verbrechen Einzug in die Welt. In ihrer Fortschreibung ist die Tat ein Verbrechen an der Menschheit.

Der Mensch ist kein von Natur aus böses, sondern vor allem ein freies Wesen, das über ein Erkenntnisvermögen verfügt, welches ihm ermöglicht, Situationen zu verstehen, zu bewerten und einzuordnen.

Im Paradies existiert keine Vorstellung von Gut und Böse. Konfrontiert mit der Zivilisation ist Kain auf sich selbst gestellt. Die Erfahrung der Existenz von Gut und Böse ist zwar eine Selbsterfahrung in der Begegnung mit anderen, dennoch liegt die Unterscheidung dessen, was Gut und was Böse ist, zunächst im eigenen Ermessen. Kain handelt nach dem Prinzip: Gut ist, was dem eigenen Wohlergehen sowie der Empfindung von Gerechtigkeit und Freiheit entspricht. Wenn jeder Mensch des Menschen Wolf ist, bedarf es einer Ordnung, welche die Gewalt der individuellen Selbstbehauptung kontrolliert. Wenn allerdings die unterschiedlichen Interessen der Einzelnen als Interesse aller betrachtet werden, sichert dies zwar das Bedürfnis nach Selbsterhaltung, unterschätzt wird aber, dass der Mensch den Sinn seiner Existenz auch in der Selbstverwirklichung sieht. Hier zeigt sich die Wunde, welche die Jahrhunderte verbindet: Der Mensch ist kein von Natur aus böses, sondern vor allem ein freies Wesen, das über ein Erkenntnisvermögen verfügt, welches ihm ermöglicht, Situationen zu verstehen, zu bewerten und einzuordnen. Im urmenschlichen Streben nach Anerkennung vergleicht sich der Mensch mit anderen. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung bringt den Wunsch hervor, sich zu unterscheiden, sich abzugrenzen und zu behaupten. Je mehr Anerkennung und Zuspruch er durch andere erfährt, desto größer der Freiheitsspielraum, Einfluss zu nehmen, gesehen und gehört zu werden.

Die Angst vor dem Kommenden prägt den Diskurs.

Zur unermüdlichen Wanderschaft verdammt weiß Kain, dass das Leben endlich und die Zukunft ungewiss ist. Ein solcher Zustand des Unbekannten und Spekulativen wird als Gefahr wahrgenommen. Auch gegenwärtig beherrscht Angst die Gesellschaft, weil sie unbeständig ist und das Vertrauen in eine gute und gerechte Ordnung schwindet: Ob Europa- und Migrationspolitik, das Erstarken populistischer und rechtsextremer Tendenzen, ein sozialverträglicher Umgang mit dringenden Fragen des Klimawandels, der Gentrifizierung und Wohnraumnot, der Gleichstellung von Frauen sowie die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, Prognosen von Altersarmut und demographischem Wandel – der Wunsch nach Absicherung vor dem Ungewissen ist groß. Die Angst vor dem Kommenden prägt den Diskurs. Geführt wird dieser in einer zunehmend populistischen Sprache, die sich inflationär ausbreitet und vor allem eines tut: die Unsicherheit verwaltet und die Wogen positivistisch glättet. Dabei geht es nicht um das Erörtern differenzierter Inhalte und Ziele, sondern um das gegenseitige Bekunden eines intuitiven Einvernehmens. Der Philosoph Jacques Rancière analysiert das Wesen des Politischen in Schriften und Essays wie »Moments politiques« und »Das Unvernehmen«. Darin beschreibt er das Phänomen der Konsensgesellschaft. »Das ist es, was Konsens bedeutet: nicht naive Idylle von verantwortlichen Partnern, die gemeinsam die Gegebenheiten und die Lösungen objektiver Probleme diskutieren, sondern die sofortige Identifizierung des Subjekts, das Angst hat. Der politische Konsens bildet sich für gewöhnlich nicht durch ›vernünftige‹ Meinung, sondern durch unvernünftige Leidenschaft. Man ist nicht zuerst unter sich einig, sondern gegen den Anderen. Einverstanden sein bedeutet vor allem, gemeinsam zu spüren, was man nicht ausstehen kann.« In der Politik des Konsenses geht es um die Bemühung, Identitäten, Kategorien und Ordnungen zu bilden und zu festigen. Menschen kommen somit nur im Rahmen einer Identität zu Wort, die sie angeblich zu verwirklichen oder selbst auszudrücken haben. Diese Politik oder Rhetorik des Konsenses ist eine Ordnung »des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes als Lärm.« Diese Aufteilung bestimmt die Formen des Wahrnehmens von einer Grenze her. Es ist »das Zuschneiden der Welt und der Welten in das, was trennt und ausschließt, und in das, was am Diskurs teilnehmen lässt.« Somit existiert dasjenige, was nicht sichtbar und hörbar wird, eben auch nicht, denn es kommt praktisch nicht vor.

Das Böse ist ungreifbar, insbesondere dann, wenn es im Namen des Guten handelt. Die Rhetorik des Bösen ist subtil. Sie liegt nicht nur in der konsensbildenden, rhetorischen Positivierung von Fakten, in der das, was nicht ins Bild passt, eben nicht vorkommt, sondern auch in der Enthemmung der Sprache.

War Kains Aufteilung der Welt zunächst seiner rein subjektiven Bestimmung dessen was Gut und was Böse ist überlassen, so zeigen sich hier Parallelen zur Relativität des Bösen, indem es nicht als Kehrseite des Guten in Erscheinung tritt, sondern eng mit ihm verwoben ist: Das Böse ist ungreifbar, insbesondere dann, wenn es im Namen des Guten handelt. Die Rhetorik des Bösen ist subtil. Sie liegt nicht nur in der konsensbildenden, rhetorischen Positivierung von Fakten, in der das, was nicht ins Bild passt, eben nicht vorkommt, sondern auch in der Enthemmung der Sprache. Einer Sprache, die universalisiert, jeden Widerspruch, jede Differenz in sich eliminiert und somit Hass schürt, der in Gewalt umschlägt. Der Soziologe Zygmunt Bauman verwendete im Zusammenspiel von Gewalt und Vernunft den Begriff der »bürokratischen Vernunft«: eine von allen ethischen Zielen gereinigte Vernunft, die das Humane auslöscht. Sie ist sachlich, effizient und bleibt dabei im Namen der Menschheit und der Menschlichkeit immer »vernünftig«.

Kain beherrscht die Welt. Wenn der Abgleich mit der Realität unwichtig und die laute Behauptung durch Wiederholung zur sinnstiftenden Wahrheit wird; wenn politisches Handeln bedeutet, Widersprüche auszulöschen, die Stimme der Zwischenräume, der produktiven Unordnung zu ignorieren und sich vom Denken in Kategorien und vorgefertigten Ordnungen vereinnahmen zu lassen, dann wird ein Diskurs zwischen mehreren Gestaltungen des Gemeinsamen unmöglich. Ist unsere Gesellschaft am Ende der Empathie angelangt?

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