Dekadenz und Machtmissbrauch

Am 2. Juni 2019 feiert die Staatsoper Unter den Linden mit »Rigoletto« die letzte Premiere dieser Spielzeit. Dramaturg Benjamin Wäntig sprach mit Regisseur Bartlett Sher über dessen Konzept, die inszenatorischen Herausforderungen bei Verdi und die ungebrochene Aktualität dieser Oper.

Verdis Oper »Rigoletto« orientiert sich sehr eng an der Schauspielvorlage »Le roi s’amuse« von Victor Hugo. Doch während die Oper zu den meistgespielten Titeln zählt, wird das Drama so gut wie nie aufgeführt. Funktioniert der Stoff besser als Musiktheater?

Aus der Arbeit an Uraufführungen vor allem im Musicalbereich weiß ich, wie schwierig es ist, Texte zu finden, bei denen man das Gefühl hat, die Charaktere sollten sich besser singend als sprechend äußern. Bei Hugo fanden Verdi und Piave außerordentliche Momente vor, um eine lebendige Welt mit einer klaren Klangvorstellung zu schaffen, in der der Gesang die einzige Möglichkeit darstellt, auszudrücken, was geschieht. Hugo war sehr mutig, die gerade überwundene Monarchie und Aristokratie in seinem Dramentext in einem so ambivalenten Licht zu zeichnen. Mitte des 19. Jahrhunderts lagen diese Themen auf der Hand, und so war dieser Text für einen revolutionären Kopf wie Verdi sehr attraktiv. Er machte die Zensoren in Venedig extrem nervös. Ursprünglich war der König beziehungsweise spätere Herzog noch lüsterner und verletzender durch sein libertinäres Verhalten. Das ist das faszinierende an dem Schauspiel:

Es ist eine Momentaufnahme von Reichtum und Macht, von den Freiheiten, die man sich mit ihnen herausnimmt, und deren Einfluss auf die anderen Menschen.

Musikalisch betrachtet ist »Rigoletto« in Verdis Schaffen ein Werk des Übergangs: Die starren musikalischen Formen werden flexibler, lösen sich auf, auch bedingt durch die Nähe des Librettos zur Schauspielvorlage.

Das Stück prägen Einflüsse der Bewegung des Naturalismus aus dem französischen Theater. Das merkt man zum Beispiel im letzten Akt in der Szene in der Taverne, wo die Handlung sehr detailreich, komplex und letztlich naturalistisch ausgearbeitet ist. Auch die Ballszene ganz zu Beginn ist so angelegt; der Herzog springt schnell von einer Unterhaltung zur nächsten. So ist zum Beispiel seine Ballata »Questa o quella« keine herkömmliche Solo-Arie, sondern quasi eine Erweiterung seiner Diskussion mit Borsa. In solchen Szenen beobachten wir deutlich, wie Verdi die strengen Formen der italienischen Oper etwa Rossinis zugunsten eines neuen Musiktheaterkonzepts auflöst.

Naturalistische Regieanweisungen geben ja inszenatorisch viel vor. Hattest du in diesem Fall manchmal das Gefühl, davon eingeengt zu werden?

Eigentlich nicht, denn es gibt zusätzlich viele Subtext-Ebenen unter der Handlungsoberfläche. Es stimmt: Aufgrund der detaillierten Handlung lässt sich das Stück kaum völlig aufbrechen, wenn man es denn wollte, denn es gibt keine metaphysische, allegorische Seite. In erster Linie geht es Verdi um das spezifische Schicksal dieser Figuren. Herausfordernd sind dabei Verdis hohes Tempo und die Tatsache, dass, wie in der Oper unumgänglich, einige der Szenen gegenüber dem Schauspiel ziemlich zusammengezogen wurden. Es ist in dieser Kürze nicht leicht, die Welt des Stücks mit allen Details der Figurenzeichnungen auf die Bühne zu bringen. Es handelt sich um eine dekadente Welt – ich würde sie als präfaschistisch bezeichnen –, in der die Distanz zwischen Mächtigen und Machtlosen immer weiter wächst. Das führt zu völlig skrupellosem Verhalten wie etwa beim Herzog und zu einer Art moralischer Grauzone, in der sich die Gesellschaft befindet.

Trotz der eindeutig negativen Zeichnung des Herzogs zeigst du bei allen Figuren positive wie negative Charaktereigenschaften auf.

Es wäre leicht, den Herzog ausschließlich als Fiesling zu zeigen. Das würde allerdings Gildas Verhalten, ihre Hingabe zu ihm unplausibel machen. Wenn er ihre Liebe von Anfang an völlig untergraben würde, sähe sie doch töricht aus. Ich sehe im Herzog einen Sexsüchtigen, der sich nicht unter Kontrolle hat, glaube aber, dass er selbst – zumindest für einen Moment – davon überzeugt ist, sie zu lieben. Ein gutes Stück dreht sich nicht um Figuren, von denen eine richtig und die andere falsch handelt, sondern von zweien, die beide glauben, das Recht auf ihrer Seite zu haben. Ich halte es nicht für meine Aufgabe, über die Figuren zu richten, sondern vielmehr zu enthüllen, wer sie sind. Bei Gilda muss klarwerden, dass sie sich am Ende für den Herzog opfert, weil Rigoletto sie bis dato von der Welt ferngehalten hat und sie daher von der Liebe des Herzogs überzeugt ist. Aber das System um sie herum ist falsch und hat ihr nie die Wahrheit gesagt.

Für Rigoletto ist dagegen am Ende klar, dass Gildas Tod dem Fluch geschuldet sei – den Verdi ursprünglich zum Titel der Oper erheben wollte.

Natürlich glauben wir heute in der Mehrheit nicht mehr an Flüche, in »Rigoletto« sehen wir allerdings eine Gesellschaft, für die ein präfreudianisches Verständnis des Kosmos selbstverständlich ist. Zumindest für Rigoletto, weniger für den Herzog, der zwar ebenfalls verflucht wird, diesen aber nicht annimmt und am Ende auch ungeschoren davonkommt.

Wie bist du mit Bühnenbildner Michael Yeargan bei der optischen Umsetzung dieser präfaschistischen Welt auf George Grosz gekommen?

Die Gemälde von George Grosz stehen für die Dekadenz, in der sich Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen befand. Uns schwebte keine direkte Übertragung der Handlung in die Zeit der Weimarer Republik vor, sondern ein Anknüpfen an den Geist der Dekadenz, an die Freizügigkeit, aber auch Orientierungslosigkeit dieser Epoche. Heute erleben wir in den USA eine ähnliche Dynamik: Es gibt keine weitgehende gesellschaftliche Übereinkunft über Richtig und Falsch mehr. Genau das symbolisieren die Grosz-Gemälde für mich: Man weiß nicht, wer sich oben und unten oder vorne und hinten befindet und wofür steht. Außerdem bersten diese Bilder förmlich vor emotionaler und triebhafter Kraft. Mit der Vermengung von Tragik und Groteske passt Grosz perfekt zu Verdis Ästhetik. Ein komischer Clown, einer der Schönen und Mächtigen, ein unschuldiges Mädchen – sie alle zusammen könnten glatt den unheimlichen Straßenszenerien von Grosz entsprungen sein.

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.