»Drei Frauen« von Patrice Chéreau

Elektra - Foto: Monika Rittershaus

Da ist der Geist des Agamemnon. Trotz des Flehens seiner Tochter und all ihrer Mühen sollte er nicht erscheinen. Da ist der fast stumme Chor der Mägde, die sich nach besten Kräften um ein Haus kümmern, in dem es so gut wie keine Männer mehr gibt. Und da sind drei Frauen, alle drei gänzlich verschieden, alle drei gleichermaßen stark, man muss sich für keine entscheiden, jede hat ein Recht auf unser Verständnis, jede hat gute Gründe für ihr Verhalten.

Da ist die, die mit den Hunden auf dem Hof lebt, wie Hiob auf seinem Misthaufen, da ist ihre Mutter, die zwar Macht besitzt, aber von den Gedanken an den Mord gepeinigt wird, den sie begangen hat, auch wenn sie ihn nie erwähnt, kein Wort sollte sie darüber verlieren, und da ist die Schwester, die um jeden Preis leben und aus dem Gefängnis ausbrechen will, das ihr dieses Verbrechen beschert hat. Schließlich ist da noch ein Sohn, der schon so lange fort ist, er war noch ein Kind, und der zurückkehrt, um das zu tun, was seine Pflicht ist: Gleiches mit Gleichem vergelten, den Mord an seinem Vater durch die Ermordung der seiner Mutter rächen. Und da ist die Vergeltung, der die ältere, auf dem Hof dahinvegetierende Schwester ihr Leben verschrieben hat, und mehr noch, die ewige und vergebliche Trauer, für die sie keinen Ausweg findet. Die Rache, von der sie unzählige Male geträumt, die sie immer wieder prophezeit, hundertmal in Gedanken durchgespielt hat, und die auf einmal ganz ohne Zutun vollzogen wird, vor ihren Augen, das Werk des kleinen Bruders, den sie so lange nicht mehr gesehen hat.

Elektra - Foto: Monika Rittershaus
Elektra – Foto: Monika Rittershaus

Es ist eine sehr alte Sage, so alt wie das Theater selbst. Viele Dichter haben sie über die Jahrhunderte weitergetragen, einer hat sie an den anderen weitergereicht, Aischylos, Sophokles, Euripides und schließlich Hofmannsthal, als er mit Staunen und Bewunderung Shakespeares »Hamlet« noch einmal las. Ob Mykene oder Helsingör, es geht um ein und dasselbe: eine Rache, die nie vollzogen wird (Weil es die eigenen Kräfte übersteigt? Weil das alte Gebot, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nicht mehr als richtig erachtet wird?). Das Hinauszögern, die Zweifel, die tief sitzende, unbewusste Weigerung, zur Tat zu schreiten, eine Rache, die man sich immerzu in seiner Fantasie ausmalt.

Man muss bei dieser Elektra unweigerlich an jene vertraute Figur denken, die Hofmannsthal so faszinierte und die ihn dazu veranlasst hat, das Stück zu schreiben: Hamlet nämlich, der die Rache, die er von sich selbst so erbarmungslos fordert, nie vollziehen sollte. Vergeltung über den Vater, es lauthals verkünden, sich von der unlösbaren Aufgabe verzehren lassen und dem Wahnsinn anheim fallen. »Was mich bei Elektra interessiert hat«, sollte Hofmannsthal später sagen, »ist die Verwandtschaft und der Gegensatz zu Hamlet.«

Man kann die Elektra von Strauss und Hofmannsthal als Darstellung der Verheerung einer mörderischen Treue verstehen, darin wie bei Shakespeare die dunklen Schwingen der Depression am Werk sehen, bei der Überdruss, panische Angst und Exaltiertheit im Wechsel an den Kräften zehren. Sowohl Sarkasmus, als auch Ironie, in der Absicht, dem anderen wehzutun, die aber nur die Person verletzen, die davon Gebrauch macht. Auch das ständig verleugnete sexuelle Verlangen, die Angst davor (Hamlet, Elektra) sowie die Abscheu vor jenen Müttern, die diesem Begehren offenbar ihr Leben lang nachgegeben haben.

Elektra - Foto: Monika Rittershaus
Elektra – Foto: Monika Rittershaus

Stattdessen ein Leben mit den Hunden auf dem Hof, überwältigt von einem dominierenden Vater, den Elektra anfleht, sie nicht allein zu lassen, dieser tote Vater und die Kehle voller Blut, diese Vision, vor der ihr graust und an der sie sich berauscht, dann auf einmal das kleine Mädchen, das ihn bittet, doch wieder zu erscheinen, wie tags zuvor, gleich dort, im Mauerwinkel, und diese Lebensverweigerung, die bewirkt, dass mit ihr auch alle anderen gefangen sind. Abgrundtiefe Traurigkeit schließlich ob der Rückkehr des kleinen, über alles geliebten Bruders und der Einsicht, dass er es sein wird, der die lang ersehnte Rache übt.

Und dann, als zentrales musikalisches Thema, eine so sorgsam verborgene und wie immer verhinderte innige Liebe. Strauss zeigt uns, dass diese beiden Frauen sich nicht in ihrem Hass vergraben, dass sie Mutter und Tochter sind, das Bedürfnis verspüren, miteinander zu reden, und dass der Grund für ihre Brutalität wahrscheinlich in der Sexualität liegt, wie das später auch bei Chrysothemis der Fall sein sollte. Dass sich diese Mutter daran erinnert, dass die Bettlerin auf ihrem Hof ihre Tochter ist, dass diese Tochter nicht vergessen hat, dass sie eine – wenn auch verhasste – Mutter hat, und dass der über alles geliebte Bruder nur ein Fremder ist, den man nach so langer Abwesenheit noch nicht einmal wiedererkennt.

Und dieser Satz Elektras, den sie an Orest richtet (sie spricht von Agamemnon) und den Strauss zwar komponiert hat, der aber in der Regel aus der Aufführung gekürzt wird: »Meinst du, wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen seine Seufzer, drang nicht sein Stöhnen an mein Bette? Eifersüchtig sind die Toten: Und er schickte mir den Hass, den hohläugigen Hass als Bräutigam. So bin ich eine Prophetin immerfort gewesen und habe nichts hervorgebracht aus mir und meinem Leibe als Flüche und Verzweiflung.«

Der Text von Patrice Chéreau wurde anlässlich seiner „Elektra“-Inszenierung geschrieben und erschien erstmals zur Premiere 2013 in Aix-en-Provence sowie im Booklet der DVD-Edition bei Bel Air Classiques.

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