Ein gewaltiges Energievolumen

Sasha Waltz & Guests SACRE - Foto: Bernd Uhlig

Dramaturg Roman Reeger im Gespräch mit der Choreographin Sasha Waltz über ihren dreiteiligen Abend »Sacre«, die Herausforderung, sich Igor Strawinskys Ballettmusik auf eine neue Art und Weise anzunähern und die Beziehung zwischen Tanz und Musik zur Natur.

Sasha Waltz, Sie setzen mit »Sacre« eine lange Tradition von Choreographien zu Strawinskys musikgeschichtlich monumentalem Werk (uraufgeführt 1913 in Paris) fort. Wie kam es dazu, dass Sie sich entschieden haben, sich Ihrem eigenen »Sacre« zu nähern?
Vor zweieinhalb Jahren wurde ich von Michel Franck, dem Direktor des Théâtre des Champs-Élysées gefragt, die Jubiläumsaufführung des »Sacre« zu choreografieren. Diese sollte dann der Rekonstruktion von »Le Sacre du Printemps« von Millicent Hodson und Kenneth Archer nach der Originalchoreographie Nijinskys gegenüber stehen und in einen Dialog treten. Ich habe eine intensive Arbeitsbeziehung mit dem Théâtre des Champs-Élysées, und liebe dieses Haus sehr … Das war für mich natürlich eine große Herausforderung, die Geschichte des »Sacre« fortzuschreiben. Ich habe es mir da auch nicht leicht gemacht und vorerst noch nicht zugesagt. Es gibt bereits sehr viele, sehr starke Choreografien zu Strawinskys »Le Sacre du Printemps«, wie beispielsweise Pina Bauschs Arbeit, die diese Musik absolut zeitgemäß interpretieren. Etwas später wurde ich ein zweites Mal von Valery Gergiev gefragt, den »Sacre« anlässlich des hundertjährigen Jubiläums für das Mariinsky Ballett zu choreografieren. Da konnte ich dann nicht mehr nein sagen. Das war einfach die Herausforderung, die ich annehmen musste.

»Im »Sacre« wird, was ich über die ganze Zeit thematisch umkreist habe, zum Zentrum – und zu Ende gedacht.«

In früheren Stücken wie beispielsweise »Medea«, zur Musik von Pascal Dusapin, »Jagden und Formen (Zustand 2008)« von Wolfgang Rihm und auch in »Continu«, einer Arbeit, bei der Varèses »Arcana« im Vordergrund steht – überall gibt es da eigentlich schon ein Umkreisen der Thematik des »Sacre«, sowohl in der Musik, als auch auf der inhaltlichen Ebene. Mich interessieren beispielsweise die Strukturen des Matriarchats und archaische Rituale schon seit längerem. Im »Sacre« wird, was ich über die ganze Zeit thematisch umkreist habe, zum Zentrum – und zu Ende gedacht.

Wie kam es inhaltlich zu der musikalischen Auswahl der Musiken von Berlioz und Debussy als Zusatz zum »Sacre« für den Berliner Abend?
Für die Berliner Fassung geschah dies konzeptionell in Absprache und Diskussion mit Daniel Barenboim, der den Abend musikalisch leiten wird. Ich hatte ihm unterschiedliche Ideen, auch aus dem Repertoire, vorgelegt. Dann haben wir uns jedoch für die französische Linie entschieden, weil sie eine spannende Entwicklung zeigt: von Berlioz zu Debussy zu Strawinsky. Ich glaube, dadurch wird dieser Aufbruch in die Moderne musikalisch ganz deutlich spürbar, gerade in der Gegenüberstellung der französischen Komponisten mit Strawinsky. Strawinskys musikalischer ,Aufbruch’ im »Sacre», gleichsam der aufbrechenden Erde im Frühling, lässt auch einen gesellschaftlichen Aufruhr erahnen, während davor bei Berlioz und Debussy eben noch ein viel zarterer, ‚französischer‘ Ton zu hören ist. Hier hatte ich auch einen Ansatzpunkt, weil ich »Roméo et Juliette« bereits choreografiert hatte und das Duett »Scène d’Amour«, schon existierte. Debussys »Faune« habe ich jetzt für das Programm an der Staatsoper ganz neu kreiert, eine richtige Uraufführung. Ich wollte eigentlich Debussys kleine Klavierstücke choreografieren, und dann sagte Daniel: »Dann könnten wir doch gleich den »Faune« machen!«

»Mich erinnert die Musik an eine alte, archaische Kraft, als käme sie direkt von der Erde.«

Wir gehen zurück ins Jahr 1913, der Uraufführung des »Sacre« … Damals hat der Choreograf Nijinsky mit einem sehr großen Ensemble gearbeitet. In Ihrem »Sacre« einhundert Jahre später, tanzen 28 Tänzer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft zusammen. Wie haben Sie die Arbeit mit dieser Vielzahl und Vielfalt an Tänzern erlebt?

Sasha Waltz - Foto: André Rival
Sasha Waltz

In der Überlegung, wie ich den »Sacre« aus meiner Perspektive heraus choreografieren will, kam ich zu dem Ergebnis, dass ich im Tanz auf jeden Fall eine große Gruppe, eine Gesellschaft zeigen muss. In der Musik gibt es durch die große Orchestrierung ein gewaltiges Energievolumen, dem ich wirklich physisch etwas entgegensetzen wollte. Mich erinnert die Musik an eine alte, archaische Kraft, als käme sie direkt von der Erde. Auch in der Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer und in Pinas »Sacre« ist das zu sehen: Immer wieder stößt man auf ritualisierte Strukturen, wie sie sich auch in den uralten heiligen Stätten verschiedener Kulturen finden, etwa in Form von Steinkreisen oder labyrinthischen Anordnungen. Dieses Ritualisierte, dieses Moment der Wiederholung, das sich auch in Strawinskys Komposition findet, steigert die Energie bis in eine Art Trance-Zustand. Auch in der Partitur kann man das sehen: Die verschiedenen Stimmen kreieren immer neue Schichten, die sich überlagern und eine gewaltige Kraft entwickeln. Das war etwas, das ich betonen wollte, und gleichzeitig konnte ich mich nicht komplett überwältigen lassen. Ich musste in der Entwicklung der Choreographie mein eigenes »Universum« davon so unabhängig machen, dass es für sich stehen konnte. Auch inhaltlich war es für mich sehr wichtig, eine ganz bunte und vielfältige Gemeinschaft sichtbar zu machen. Daraus entstand die Idee, mit Kindern zu arbeiten, um einen Familienzusammenhang zu schaffen, eine Sippe, eine Gesellschaft – mit allen Unterschieden zwischen den Generationen, zwischen den verschiedenen Lebensphasen. Ich wollte gern eine Gruppe zeigen, die spiegelt, wie wir leben. Die Gruppe, das Konzept von Gemeinschaft an sich, spielt also eine sehr tragende Rolle in meiner Choreographie. Und dann, als Konsequenz, gibt es das Opfer, etwas, das im Kollektiv und gegen einen Einzelnen stattfindet. Oder vielmehr entwickelt sich eine kollektive Weihe und Hingabe an Gott, für die man seine Individualität aufgeben, ja opfern, muss.

Die Idee des Ritus oder des Kultes wird oft dem Primitiven, Archaischen zugeschrieben. Welche Elemente von Ritualen sehen Sie noch in unserer heutigen Zeit? Ist das Thema des Opferns aktuell?
Ich glaube, dass uns das Wesen des Rituals im Grunde langsam verloren geht. Im »Sacre« geht es tatsächlich um das Opfer einer Einzelnen für die Gesellschaft, was ich einen sehr interessanten Aspekt finde. Diese Idee kann womöglich ein Schlüssel dafür sein, wie wir heute mit bestimmten Problemen und Situationen auch umgehen könnten. Adorno hat das in Frage gestellt, indem er über »Le Sacre du Printemps« sagte, die Selbstaufgabe des Individuums sei bei Strawinsky zu Unrecht als Fortschritt dargestellt. Aber da halte ich es eher mit der buddhistischen Idee, die die strenge Trennung zwischen dem Selbst eines Menschen und der Welt, die es umgibt, auflöst. Das Selbst wird dabei nicht als bleibende Substanz oder konstante, in sich geschlossene Einheit verstanden. Stattdessen ist es mit dem Werden und Vergehen des gesamten Kosmos, also auch der Natur und der Gemeinschaft, verbunden und hat teil an allen Wandlungs- und Entwicklungsprozessen, genauso, wie es sie auch bedingt. Ich bin sicher nicht für eine Verneinung des Individuellen, ich bin, im Gegenteil, sehr für Individualität. Aber es braucht eine Balance, und unsere Gesellschaft kippt in eine andere Richtung. Wir bewegen uns dahin, dass der Eigensinn, der Egoismus des Einzelnen, vielleicht auch der Egoismus der einzelnen Nation, im Vordergrund steht. Ich versuche, eine andere Perspektive zu zeigen.

»Ich interessiere mich sehr für das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Für mich ist das essentiell.«

Wir kommen zu einem anderen Aspekt. Bei Strawinsky ging es um die Erweckung des Frühlings durch den Tod eines jungen Mädchens. In Ihrem Bühnenbild und den Kostümen finden sich metallische und erdartige Elemente. Was für eine Rolle spielt der Frühling oder allgemeiner gesprochen, die Natur, für Ihre Choreographie?
Ich interessiere mich sehr für das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Für mich ist das essentiell. Auch Rituale sind damit stark verbunden, sie feiern den ewigen Kreislauf der Natur, das Wiederkehrende, zum Beispiel der Jahreszeiten. Im »Sacre« ist es so, dass der Frühling noch nicht da ist, zu Anfang herrscht noch Dürre. Die Idee des Opfers ist es ja, einen Impuls für die Wiederkehr, die Erneuerung zu geben, so dass der Zyklus vollzogen wird und der Frühling wieder aufleben kann. Farblich spiegelt sich das in den Winterschattierungen der unterschiedlichen Naturfarben, die auf der Bühne zum Beispiel durch die Kostüme zum Tragen kommen. Nur ganz am Ende bricht mit der Auserwählten die erste Farbe ins Bild. Das Bühnenbild dagegen ist weniger erdartig, sondern hat steinige, vulkanisch-eruptive Qualitäten und Elemente. Die Kraft der Musik ist für mich so mit Energie geladen, dass ich sie mit dem Element des Metalls gleichsetze. Dies findet sich im Bühnenbild wieder, das wie eine Bündelung oder Verschmelzung von Feuer und Metall ist. Wichtig ist die Materialität des Naturhaften. Es braucht vor allem eine Sinnlichkeit für den Boden, da die Erde für meinen »Sacre« eine wichtige Rolle spielt.

In Strawinskys Erinnerungen kann man über seine Vision beim Komponieren lesen. Er sah ein junges Mädchen vor sich, das sich in einem Kreis alter Männer zu Tode tanzt. Wie sehen Sie die Rolle der Frau, der Weiblichkeit im Zusammenhang mit dem Thema des Opfers?
Ich habe mich auch ehrlich gefragt: »Könnte das Opfer [die Auserwählte] auch von einem Mann getanzt werden? – Wie weit kann ich das auflösen?« Letztendlich war es für mich dann doch so, dass es von einer Frau getanzt werden muss! Für mich ist die Frau, die gebiert, die Leben gibt, die diesen Zyklus für sich selbst durchlebt, diejenige, die auch das Opfer bringt. Das war meine Lesart.

Hat dies auch was mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau zu tun?
Nein, nicht unbedingt. Für mich ist dies die Gegenüberstellung von Geburt und Tod, die in der Auserwählten zum Ausdruck kommt: Einerseits der Frühling, die Geburt, auch die Wiedergeburt der Natur, auf der anderen Seite der Tod. Das Opfer manifestiert sich für mich in einer Frau, die genau dies auch (durch)lebt. Sowohl im Matriarchat als auch im Patriarchat hat die Frau die Aufgabe, das Leben weiterzugeben, Männer können bislang eben noch keine Kinder bekommen. Das ist keine Frage der gesellschaftlichen Rolle, obwohl diese natürlich grundsätzlich ein großes und wichtiges Thema ist und immer wieder hinterfragt werden muss. Aber mir ging es in erster Linie um die Wechselwirkung zwischen Geburt und Tod, den für mich die Frau zum Ausdruck bringt.

Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zu »Sacre«.

 

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