Ein Werk der Überraschungen
Der junge Dirigent David Afkham, seit dieser Spielzeit Chefdirigent des Orquesta Nacional de España, gibt am 26. und 27. Mai sein Debüt bei der Staatskapelle Berlin, bevor er drei ihrer Konzerte bei der großen Japan-Tournee im Januar und Februar 2016 dirigiert. Pianist Saleem Ashkar übernimmt den Solopart in Ludwig van Beethovens 4. Klavierkonzert, einem der Favoritwerke des klassisch-romantischen Repertoires. Dramaturg Detlef Giese hat dieses Werk beleuchtet.
Obgleich Mozart bereits seit einem Jahrzehnt nicht mehr lebte, war um 1800 die Erinnerung an seine Klavierkonzerte keineswegs verblasst. Noch immer galten sie – zumindest in Wien – als Vorbild für diese weiterhin sehr populäre Gattung. Auch Beethoven stand zunächst vollkommen im Bann der Mozartschen Werke, zugleich animierten sie ihn aber auch zu einer produktiven Auseinandersetzung. Und es kann kaum verwundern, dass Beethoven sich nicht mit einer bloßen Fortschreibung der von Mozart etablierten Form- und Ausdrucksmodelle begnügte, sondern bewusst nach eigenen Wegen sucht.
Obgleich Beethoven lediglich fünf Klavierkonzerte hinterlassen hat (gegenüber den mehr als 20 Werken Mozarts in der Tat keine sonderlich große Zahl), ist an ihnen der Prozess von Aneignung und Überwindung der Tradition eindrucksvoll abzulesen. In seinen beiden ersten Konzerten ist die Orientierung an Mozart noch ganz offensichtlich. Zwar deutet sich – gerade in der Behandlung des Klaviers – an nicht wenigen Stellen der späterhin so charakteristische, weit in den Klangraum ausgreifende »Beethoven-Ton« an, jedoch folgen diese Werke weitgehend noch konventionellen Mustern.
Hinsichtlich ihrer gesamten Anlage können sie »Pianisten-Konzerte« angesehen werden, d. h. sie sind primär für die Darbietung gedacht und rechnen mit der Personalunion von Komponist und ausführendem Musiker. Die Parallelen zu Mozart sind nur allzu deutlich: Beiden kam es darauf an, sich als virtuos veranlagte, auf hohem spieltechnischen und gestalterischen Niveau agierende Pianisten in der musikalischen Öffentlichkeit zu präsentieren. In keiner Gattung konnte das so gut gelingen wie im Klavierkonzert, das einerseits durch seine große Besetzung und klangliche Entfaltung erhöhte Aufmerksamkeit auf sich zog, andererseits aber auch dem Solisten Gelegenheit gab, sich mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit seinen individuellen Fähigkeiten, wirkungsvoll herauszustellen. Als Interpret anerkannt zu sein, erwies sich dabei als wichtiges Kapital, strahlte der erworbene Ruhm doch weithin aus und konnte nicht zuletzt auch die Tatsache, dass der Pianist zugleich der Komponist des dargebotenen Stückes war, ins Bewusstsein rücken.
Der junge Beethoven hatte nach seiner Übersiedlung nach Wien 1792 durch zahlreiche Auftritte in privaten und semiöffentlichen Kreisen sowie bei Veranstaltungen mit kommerziellem Charakter immenses Ansehen als Klavierspieler, nicht zuletzt als glänzender Improvisator, gewinnen können. Durch eine ganze Reihe von Klaviersonaten und Kammermusikwerken war er auch als Komponist bekannt geworden. An die größeren Formen der Konzert- und Orchestermusik sollte er sich indes erst zögerlich wagen – angesichts der hohen Maßstäbe, die Haydn und Mozart für die Sinfonie bzw. das Klavierkonzert gesetzt hatten, konnte das nicht erstaunen.
Erst mit seinem 3. Klavierkonzert hatte sich Beethoven zu einer ersten, wenngleich auch keineswegs radikalen Abkehr von den klassischen Vorbildern entschieden. Gleichwohl stellte auch dieses Werk eher eine Zwischenstation auf dem Weg zu neuen ästhetischen Ideen und zu einem vollkommen eigenständigen Komponieren dar – sowohl hinsichtlich der allgemeinen Disposition als auch in der Gestaltung des Verhältnisses von Soloinstrument und Orchester waren die durch Mozart geprägten Modelle unverändert in Kraft.
Ein Neuansatz in anderer Weise sollte dem 4. Klavierkonzert vorbehalten sein. Komponiert in den Jahren 1805/06 – zur Zeit der »Appassionata«, der »Rasumowsky-Quartette« und der 4. Sinfonie – handelt es sich um ein Werk von geradezu beispielloser Originalität. Bereits den zeitgenössischen Hörern dürfte es nicht verborgen geblieben sein, dass Beethoven hier endgültig die Konventionen der Gattung hinter sich lässt und an auffallend vielen Punkten innovative kompositorische Lösungen anbietet.
Beethoven demonstriert diese Haltung sofort mit dem allerersten Einsatz: Anstatt das Konzert wie üblich mit einer Orchestereinleitung zu eröffnen, bringt er eine kurze Solopassage des Klaviers, zudem im zurückhaltenden Piano-Ton – es klingt nahezu wie ein beiläufiges Präludieren. Dieser ungewöhnliche Beginn, so wenig spektakulär er auch auf den ersten Blick wirken mag, besitzt doch weitreichende Konsequenzen: Zum einen emanzipiert sich Beethoven von einem Gestaltungsschema, das in den vergangenen Jahrzehnten uneingeschränkte Gültigkeit besessen hatte, zum anderen stellt er den Klaviersolisten – und damit sich selbst – sofort und unmissverständlich ins Zentrum. Nicht umsonst sollte in vielen Klavierkonzerten der folgenden Zeit der Pianist von Beginn an in das Geschehen einbezogen werden: Beethoven begründete mit dieser Eröffnung eine Tradition für das 19. Jahrhundert.
Die Introduktion ist darüber hinaus noch aus dem Grunde bemerkenswert, da Beethoven den Solo-Einsatz – der lediglich fünf Takte lang ist – zunächst isoliert stehen lässt. Das Klavier betätigt sich hier eher als Stichwortgeber für das Orchester denn als echter Dialogpartner. Es gibt dem nachfolgenden Tutti die thematische Substanz in die Hand, damit dieses das vorgestellte Material nunmehr ausführlich entfalten kann. Wie so häufig bei Beethoven genügt dabei eine knapp umrissene motivische Struktur, die zur Keimzelle des gesamten Satzes zu werden vermag.
Obgleich Solo und Tutti sich zunächst in einer merkwürdig unvermittelten Nachbarschaft zueinander befinden, ergibt sich aus dieser Konstellation doch ein gewisses Spannungsverhältnis. Ein besonderer Reiz besteht in der Unklarheit, in welcher Weise das Klavier die durch das Orchester entwickelten Gedanken nun weiterführen und umgestalten werde. Und in der Tat setzt es mit Figuren ein, die sofort einen Verarbeitungsprozess in Gang setzen. Zudem lässt Beethoven nach dem ausgedehnten ersten Orchesterauftritt nicht den Solisten nochmals großflächig in Aktion treten, sondern initiiert sofort ein lebendiges dialogisches Spiel.
In dessen Verlauf werden sowohl bereits bekannte Motive aufgenommen als auch neue Themen eingeführt. Das Klavier bleibt dabei bis auf wenige Episoden über die gesamte Zeit hinweg präsent, oft mit virtuosen Figurationen, die entweder direkt thematisch genutzt werden oder wirkungsvolle Begleitstrukturen zu den melodischen Entfaltungen des Orchesters liefern. Mehrfach sind für das Klavier kurze solistische Partien vorgesehen, u. a. an einer markanten Stelle, wo der Konzertbeginn noch einmal in satztechnisch veränderter Gestalt – und in gesteigerter Intensität – vorgetragen wird.
Gegen Ende dieses recht umfangreichen Kopfsatzes in Sonatenform erhält der Solist zudem die Möglichkeit zu einer improvisierten Kadenz. Beethoven hat selbst mehrere Kadenzen unterschiedlicher Länge ausgeschrieben, die noch einmal substantielle Elemente aufgreifen und beziehungsreich miteinander verknüpfen. Und hier ist nicht zuletzt auch der Ort für den Pianisten, seine Virtuosität entsprechend zu beweisen – der ruhig-lyrische Grundgestus, der bis auf wenige dramatische Zuspitzungen den gesamten Satz durchzogen hatte, ließ zu einer effektvollen Zurschaustellung der spieltechnischen Fähigkeiten bislang nur wenig Raum.
Auch im zweiten Satz betritt Beethoven weitgehend unbekanntes Terrain. Zwischen Soloinstrument und Orchester – Beethoven verzichtet in diesem e-Moll-Andante komplett auf die Bläser und setzt lediglich den Streicherapparat ein – entwickelt sich ein eigentümlicher Dialog. Nur selten kommt es zu Verzahnungen zwischen den beiden Parts, sie musizieren nicht mit- sondern eher gegeneinander. Zudem besitzen sie einen kontrastierenden Klangcharakter: Während die Streicher mit einem geradezu aggressiven Forte-Ton und eine durchgehende Staccato-Artikulation für scharfe Akzentuierungen sorgen, beeindruckt die Klavierstimme mit ihren großen melodischen Bögen, ihrem langen Atem und einer ausgesprochenen Kantabilität: Bei äußerster klanglicher Zurückhaltung hat der Pianist hierbei nach den Wünschen Beethovens mit höchster Ausdrucksintensität zu spielen. Auch hinsichtlich der Satztechnik zeigen sich zwei unterschiedliche Prinzipien: Dem einstimmigen Streicherklang von gleichsam rezitativischem Gestus steht das akkordische Spiel des Klaviers, fast nach Art eines Chorals, gegenüber.
Das starre Abwechseln zwischen diesen beiden so ungleichen, geradezu gegensätzlichen Klang- und Satztypen, der am Beginn des Satzes eingeführt wird, hat jedoch nicht Bestand. Nach und nach werden die Abschnitte in diesem so ungleichen Dialog kürzer bis sie auf Zwei- und Dreitonbeiträge oder gar auf einzelne Akkorde zusammengeschmolzen sind. Und auch das kraftvolle, bisweilen schroffe Spiel der Streicher wird zunehmend gezähmt: Es wird in weitaus sanftere Klangfarben überführt, wohingegen das Klavier die nun vorhandenen Freiräume nutzt, um seinerseits dramatische Akzente zu setzen. So wenig motiviert der zwischenzeitliche Ausbruch gegen Satzende auch wirken mag, letztlich kann er durchaus in der Entwicklungslogik des bisherigen Verlaufs gesehen werden. Am leisen Ausklang dieses formal wie expressiv ganz und gar ungewöhnlichen Satzes haben dann wiederum Klavier und Streicher gleichermaßen Anteil.
Sofort im Anschluss, ohne eine größere Zäsur, folgt das Rondo-Finale. Wiederum setzt Beethoven hier einen verhaltenen Beginn: Im Pianissimo, wie aus der Ferne, setzen die Streicher mit dem marschartigen Hauptthema ein, bevor das Klavier diesen Gedanken aufgreift. Nach einer kurzen dialogischen Partie ist der Punkt erreicht, wo Beethoven erstmals im gesamten Konzert das volle Orchestertutti vorsieht – einschließlich der Trompeten und Pauken, die im Eingangssatz noch geschwiegen hatten.
Das Rondo, sicher der konventionellste Teil des an Neuerungen und Überraschungen so reichen Werkes, lebt im Wesentlichen von jenen vorantreibenden Rhythmen, die Beethoven bereits am Beginn des Satzes als Grundpfeiler der Struktur setzt. In mehreren Zwischenepisoden dominieren jedoch wiederum lyrische, zuweilen auch gedeckte Töne, weshalb dieses Finale trotz seiner virtuosen Solo-Kadenz und seiner Presto-Schlusssteigerung wohl kaum im Sinne eines glanzvoll-triumphalen Ausklangs verstanden werden kann.
Im Gegensatz zu seinen »Pianistenkonzerten« der 1790er Jahre, die vor allem die Person des Spielenden in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen suchten, ist Beethovens 4. Klavierkonzert in viel höherem Maße ein »Komponistenkonzert«, in deren Zentrum die originelle Lösung kompositorischer Probleme steht. Womöglich wollte Beethoven, als er sein op. 58 innerhalb eines halböffentlichen Konzerts im Palais Lobkowitz im März 1807 erstmals vorstellte, zunächst die – angesichts der innovativen Elemente kaum zu prognostizierende – Wirkung auf das Publikum austesten. Das Experiment schien geglückt: Seit der »offiziellen« Uraufführung in der nachmals berühmt gewordenen großen musikalischen Akademie vom 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien gehört Beethovens 4. Klavierkonzert bei Musikern wie Hörern zu den Favoritwerken des Repertoires.
Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zum VII. Abonnementkonzert.