»Eine Welt des Wahns« – Im Gespräch mit dem Regisseur Andreas Kriegenburg
Mit der Inszenierung von »Babylon« gibt Regisseur Andreas Kriegenburg sein Debüt an der Staatsoper Unter den Linden. Mit Dramaturg Roman Reeger sprach er vor der Premiere am 9. März über die Oper und sein Regiekonzept.
Roman Reeger Sie inszenieren Jörg Widmanns Oper »Babylon« in einer revidierten Fassung an der Staatsoper Unter den Linden. Was war Ihr Eindruck, als Sie das Werk zum ersten Mal gehört haben?
Andreas Kriegenburg Ich habe die Uraufführung in München 2012 nicht gesehen. Als ich das Angebot bekam, »Babylon« an der Staatsoper Unter den Linden zu inszenieren und ich mich mit der Oper zu beschäftigen begann, hat mir die Musik schnell gefallen. Die Komposition ist technisch wie emotional sehr anspruchsvoll, zugleich provozierend und direkt. Das Libretto wiederum ist sehr vielschichtig und spielt in einer Zeit, über die ich vor der Beschäftigung mit diesem Stoff noch nicht viel wusste.
Roman Reeger Wie sind Sie die Konzeption in Bezug auf die Inszenierung angegangen?
Andreas Kriegenburg »Babylon« ist eine Oper mit sehr großen, wirkungsmächtigen Bildern, die heterogen angelegt sind und schlaglichtartig unterschiedliche Situationen in der vorantiken Stadt beleuchten. Die Gefahr bei einer solchen Werkstruktur besteht darin, dass man als Zuschauer emotional überwältigt wird, ohne die Handlungszusammenhänge verstanden zu haben. Als Regisseur sehe ich meine Aufgabe jedoch darin, Geschichten zu erzählen. Mit unserem Interpretationsansatz versuchen wir, eine Brücke zum Zuschauer zu schlagen.
Das Vorspiel der Oper beginnt an einem Punkt nach der Zerstörung. Auf den Trümmern schaut der Skorpionmensch auf die vernichtete Zivilisation, hoffend, dass diese nie wieder aufgebaut werden möge. In der Partitur gibt es nach diesem Vorspiel einen Sprung zurück in die babylonische Zeit. In der Inszenierung bleiben wir jedoch in der Chronologie des Vorspiels. Die Geschichte spielt in den Ruinen und wir sehen eine postapokalyptische Gesellschaft, die sich aus unterschiedlichsten Kulturen und Religionen zusammensetzt, und auf engstem Raum zusammenlebt. Es ist eine Gemeinschaft, die sich auf das Überleben konzentriert hat, in der sämtliche positiven und negativen Potenziale zum vorhanden sind und zum Vorschein kommen. Es gibt Momente der Anteilnahme und Liebe, aber auch Hass und Gewalt zwischen den Anhängern der unterschiedlichen Religionsgruppen.
Roman Reeger Was waren die Anknüpfungspunkte für das Setting?
Andreas Kriegenburg Wir leben in bewegten Zeiten. Ich gehöre zu einer Generation, die in der Verantwortung steht, mitunter auch daran schuld ist, wie sich unsere Welt entwickelt hat und perspektivisch in den nächsten 50 Jahren entwickeln wird. Darüber hinaus beobachte ich, wie ich mich immer häufiger mit einer Hilflosigkeit konfrontiert sehe, angesichts der politischen und religiös-politischen Entwicklungen unserer Zeit. Als globale Gemeinschaft tun wir uns schwer damit, die richtigen und wesentlichen Konsequenzen aus unseren Erkenntnissen zu ziehen, wenn es um den Zustand unserer Umwelt und unseres Zusammenlebens auf diesem Planeten geht. Stattdessen gibt es eine Tendenz zur Unvernunft und Radikalität hervorrufenden Suche nach den scheinbar einfachen Lösungen, die uns immer wieder die falschen Abzweigungen nehmen lässt.
Roman Reeger Das Bühnenbild besteht aus einem mehrstöckigen vertikalen Bau, der an ein Hochhaus und gleichzeitig an den berühmten »Babel-Turm« erinnert. Wie kam es zu dieser Idee?
Andreas Kriegenburg Auf der Suche nach einem heutigen Bild, das unserer Vorstellung von der multikulturellen und -religiösen urbanen Gesellschaft Babylons entspricht, kamen wir auf den »Torre de David« in Caracas – ein 192 Meter hohes Bankgebäude, das aus finanziellen Gründen nicht fertiggestellt werden konnte und in seinem Rohbauzustand verblieb. Menschen, die an den Rändern der Gesellschaft leben, haben angefangen, dieses Gebäude, in dem es keine Fahrstühle, Geländer und Fenster gibt, zu bewohnen. Es hat sich eine autonome Gemeinschaft gebildet mit einer eigenen Gesetzgebung und eigenen Vertretern – eine Parallelgesellschaft innerhalb unserer zivilisierten Gesellschaft, in die man als Außenstehender kaum einen Einblick hat.
Hiervon inspiriert haben wir eine Art Hochhaus entwickelt, das für die Form unseres modernen Zusammenlebens steht. Die einzelnen Stockwerke verweisen in ihrer angedeuteten Materialität auf Schichtungen von Kulturen aus den letzten 4000 Jahren, die sich aufeinander aufbauen. Neben den Merkmalen der Zerstörung, finden sich auf allen Etagen Überbleibsel großer Kunst und religiöse Symbole. Die Fähigkeit zur Schöpfung von Kultur bleibt selbst im Kampf ums nackte Überleben vorhanden. Der Querschnitt des Hochhauses verschiebt sich von Szene zu Szene. Ich habe zu Jörg Widmann gesagt, dass ich es unheimlich reizvoll finde, diese große Oper in einem vergleichsweise intimen Raum aufzuführen, da wir so die Möglichkeit haben, die Situationen wie durch ein Brennglas zu betrachten.
Roman Reeger In »Babylon« prallen gegensätzliche Kulturen und Religionen aufeinander, zwischen den babylonischen und jüdischen Gruppen entsteht bald ein gefährlicher Konflikt. Welche Rolle spielt die Figur des Tammu in diesem Zusammenhang?
Andreas KriegenburgTammu gehört zu der jüdischen Gruppe, ohne dass sich sein soziales Selbstverständnis ausschließlich auf dieser Zugehörigkeit gründet. Er gerät in einen inneren Konflikt und erlebt eine Identitätssuche. Wie viel bin ich in meiner Persönlichkeit abhängig von einer sozialen Gruppe? Wie weit kann ich mich meinem persönlichen Begehren zuwenden und mich von anderen abgrenzen? Dies sind Fragen, die Tammu in besonderem Maße beschäftigen, was sich auch in seiner Beziehung zu Inanna widerspiegelt, die ein anderes Lebensprinzip verkörpert, auch in religiöser Hinsicht.
Roman Reeger Wofür steht Inanna?
Andreas Kriegenburg Die Figur der Inanna bildet in ihren Überzeugungen einen Gegensatz zu Tammu und der ihm zugeordneten Seele. Als Babylonierin gehört sie zu jenen, die versuchen, das Leben zu erleben und zu überleben, unter anderem durch Freude, Lust und Gier. Auch den Drogen ist sie nicht abgeneigt.
Roman Reeger Am Ende des 1. Bildes gibt sie Tammu eine Droge, durch die er die »Wahrheit« über Babylon und die Liebe im Traum erfahren soll …
Andreas Kriegenburg … und ab diesem Punkt befinden wir uns in Tammus Traum, aus dem er nicht mehr aufwacht. Hier liegt ein weiterer Unterschied zur Partitur, die nur das 2. Bild als Traumszene definiert: Tammu erlebt die Sintflut, das Neujahrsfest, seine Opferung und Wiedergeburt als Phasen eines Rauschtraums. Man kann die in diesem Sinne als Visionen auftretenden Erscheinungen – den Euphrat, den Priesterkönig, auch das Opferritual – als Symptome seiner angstverzerrten Suche nach Identität verstehen. Es ist eine Welt des Wahns, aus der es ihm nicht gelingt auszubrechen. Es ist wie bei einem missglückten Drogenrausch. Wenn er seine eigene Opferung träumt, ist er auch real an einem Punkt, an dem er beschließt, nicht mehr aus diesem Traum aufzuwachen. Inanna holt ihn durch den Beweis der Liebe zurück ins Leben.
Roman Reeger Wie seid ihr mit der Musik in diesem Zusammenhang umgegangen?
Andreas Kriegenburg Die Musik ist wunderbar, aber auch eine Herausforderung, da sie sich häufig in extremen emotionalen Bereichen bewegt. Fast alle Figuren sind geprägt von einer großen Zerrissenheit, in der sich ab dem Moment des einsetzenden Traums die Zerrissenheit Tammus widerspiegelt. In jeder Szene suchen wir eine Körperlichkeit, die diese Zustände des Schmerzes, aber auch der Lust, Wut oder Hysterie sichtbar macht. Wenn Tammu für die Opferung auserkoren wird und sich alle auf ihn stürzen, liegt hierin nicht nur das Drama eines Individuums, sondern auch das einer Gesellschaft, die in alten neuen Ritualen Halt sucht. Wir alle suchen nach dem Heil, das Problem beginnt jedoch, wenn wir uns Heilsbringern zuwenden, da wir unsere kritische Reflexion verlieren. Die Gefährdung des Menschen und das Entstehen von religiösem Fanatismus sind Themen, die in der Musik unmittelbar vorhanden sind und mich in der Arbeit sehr beschäftigen.