Femme fatale oder Prostituierte, dazwischen nichts

Wer ist Dalila? Dramaturgin Jana Beckmann geht dieser Frage in einem Essay nach.
Als hypersexualisierter Lolita-Verschnitt im Negligé oder kaltblütige Prostituierte, die den prophetischen Held Samson durch ihre Verführungskünste zu Fall bringt, wird Dalila in vielen Deutungen entweder die eine oder andere Rolle zugeschrieben. Dabei ist Dalila im Buch der Richter, Kapitel 16 vom Wesen her eine weitgehend unergründliche Frau.

Viele Facetten ihrer Person bleiben unausgesprochen oder weisen Widersprüche auf. Immer wieder lässt der Erzähler Leerstellen im Verlauf der Geschichte, die eine eindeutige Rollenzuweisung unmöglich macht. Wir erfahren weder etwas über Dalilas soziale Identität noch über ihre Herkunft oder Sexualität. Auch erfahren wir nicht, ob sie Samsons Liebe wirklich erwidert, warum sie ihn verrät und was mit ihr am Schluss passiert. Jene Abwesenheit an beschreibenden Informationen sind von wesentlicher Bedeutung: Die Lücken und Leerstellen in der Erzählung eröffnen letztendlich einen vielschichtigen, komplexen und klischeebefreiten Deutungshorizont. Saint-Saëns ordnete Dalila in seiner Oper SAMSON ET DALILA den Philistern zu. In der ursprünglichen Geschichte wird von der ersten Begegnung zwischen Samson und Dalila im Tal Sorek, einer Region an der Grenze vom Land der Philister und der Israeliten, gesprochen. Ungeklärt war zu diesem Zeitpunkt allerdings, unter wessen Herrschaft das Gebiet stand. Indem der Erzähler Dalila an der Grenze von zwei Nationen verortet, könnte sie sowohl Philisterin als auch Israelitin oder ebenso eine Fremde gewesen sein. Auch wenn sie sich letztendlich mit den Philistern verbündet, ist es schwierig nachzuvollziehen, wer sie ist und welche die Motive für ihr Handeln sind. Je nachdem, wie die weiteren narrativen Lücken und Leerstellen im Verlauf der Oper ausgelegt werden, erscheint Dalila oftmals entweder als Philisterin, als fremde exotische Femme fatale oder als Israelitin. Da sie durch den Verrat häufig als die Verkörperung des bösen und des unmoralischen Handelns dargestellt wird und darüber hinaus im Hinblick auf ihren sozialen Status von den Idealen der in der Bibel geschilderten israelischen Frauen abweicht, wird nur selten angenommen, dass sie Israelitin sei. Das Bild der bösen Verräterin wird oft durch die Zuschreibung von Exotismus und Erotik begleitet. Von der ethnischen Andersheit wird auf die sexuelle Andersheit geschlossen. Jene exotischen Femme fatale provozierten eine Gefährdung der patriarchalen Ordnung, da sich die Männer durch ihren Einfluss von ihrer ethnischen und religiösen Identität distanzierten. Die ursprüngliche Verortung Dalilas an der Grenze beider Nationen ist ein bestärkender Verweis darauf, sie weder als böse Philisterin oder als exotische Fremde noch als gute Israelitin zu interpretieren (die vom »wahrhaftigen« Weg abgekommen ist oder schlicht selbst das Opfer von Gewalt der Philister wurde). Darüber hinaus ist Dalila die einzige Frau in Samsons Leben, die einem Namen trägt. Jede andere Frau im Umfeld Samsons wird allein über ihre gesellschaftliche Funktion definiert: als Mutter, Ex-Frau oder Prostituierte von Gaza, die Samson vor seiner Begegnung mit Dalila aufsuchte. Ebenso wenig existieren Informationen darüber, ob sie unter der Autorität eines Mannes – eines Vaters, eines Ehemannes oder eines männlichen Vormunds – lebte. Indem sie nicht über das Verhältnis zu einer männlichen Figur definiert wird, unterscheidet sie sich nicht nur vom Status anderer Frauen der Geschichte als aktives Subjekt, sondern ihr wird die Fähigkeit zugesprochen, außerhalb des tradierten patriarchalen Systems zu funktionieren. Dalila erfährt in der Geschichte somit eine Sonderstellung als unabhängige Frau.

Aus der Perspektive der hebräischen-biblischen Tradition ist Dalilas Verhalten unüblich: Sie passt nicht in die für sie »vorgezeichnete« Geschlechterrolle. Die Selbstbestimmtheit und die Gestaltung des Lebens, in dem die Erfüllung ihrer »weiblichen Pflichten« als sorgende Mutter und Ehefrau nicht thematisiert wird, ist ein Verweis auf ihre Nonkonformität in dieser Gesellschaft. Sie ist die Antithese einer im biblischen Kontext als ideal beschriebenen israeli-schen Ehefrau. Die Abweichung von der tradierten Rolle der Frau ist in diesem Zusammenhang verdächtig. Demnach sind »gute Frauen« jene, die sich allein über die Eigenschaft der sorgenden Mutter und Ehefrau als Teilhabe an der Gesellschaft definieren, während Sexualität und Sinnlichkeit mit Frauen in Verbindung gebracht werden, die »böse« handeln. Über die Beziehung von Samson und Dalila wird nur in Bruchstücken berichtet: Dass Dalila als einzige Frau in Samsons Leben einen Namen trägt, kann nicht nur als Hinweis auf eine Begegnung auf Augenhöhe, als Möglichkeit und Voraussetzung einer gleichberechtigten Liebe gesehen werden, sondern bekräftigt darüber hinaus, dass Dalila für Samson eine herausgehobene Bedeutung hat und er sie wahrhaftig liebt – neben seiner Berufung als politischer Anführer und prophetischer Held. Ob Dalila seine Liebe allerdings erwidert, bleibt vage. Dalila ist sich ihrer anziehenden Wirkung auf Samson bewusst. Typischerweise wird Dalila als intrigante Protagonistin der Beziehung gesehen: als Verführerin, die Samson manipuliert. Samson hingegen ist das unschuldige männliche Opfer, machtlos ihren Reizen zu widerstehen. Weder Dalilas Worte noch die Handlung im Buch der Richter zeigen, dass sie zum Mittel der sexuellen Verführung greift, um Samsons Geheimnis zu entlocken. Das Geheimnis von Samsons Kraft liegt in seinen Haaren. Dalila schneidet die Haare ab: Der damit verbundene Machtverlust kommt einer symbolischen Kastration gleich und symbolisiert die Unterwerfung des hebräischen Kriegers, seiner Männlichkeit und Kraft beraubt. Mit dieser Handlung »entmännlicht« sie Samson und »ermännlicht« sich – sie agiert als »politischer Verschwörer« und »gewalttätiger Krieger«. Am Ende des dritten Akts lässt die Geschichte offen, was mit Dalila nach Samsons Gefangennahme geschieht. Wo ist sie, während Samson den Tempel zum Einstürzen brachte? Stirbt sie? Lebt sie weiter? Setzt sie sich ab, um in der Fremde ein neues Leben zu beginnen? Bereut sie ihren Verrat? Oder ist es vielleicht sogar sie selbst, die den Tempel zusammen mit Samson zum Einstürzen brachte? Warum lässt der Erzähler sie davonkommen? Deutlich wird nur: Der Erzähler verurteilt sie nicht für die Mittäterschaft an Samsons Niedergang. Dalila kann als Prototyp einer unabhängigen Frau gesehen werden. Sie ist eine Frau, die eine Stimme in der patriarchalen Gesellschaft hat. In ihr schlummert das Potenzial des Bruchs mit der tradierten Ordnung. Sie macht eine Entwicklung durch. Sie liebt. Sie kämpft. Sie hasst. Sie zögert … und entscheidet sich für die dunkle Seite der Macht. Zurück bleibt die Hoffnung auf ein »Reset«: der Entwurf einer gleichberechtigten Ordnung, in der das Miteinander kultureller wie religiöser Ressourcen jenseits vom Denken in Identitäten möglich ist.

 

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