Wie ein Filmdreh ohne Kamera

Feindschaft, Hass und Glaubenskrieg, Macht, Ohnmacht und Begehren: Im Freiheitskampf der Hebräer erhebt Samson seine Stimme gegen die feindlich gesinnten Philister. Samson scheint unbesiegbar, bis die Liebe zur Philisterin Dalila ihn verwundbar macht. Sie weiß um das Geheimnis seiner außergewöhnlichen Kraft. Auf dem Spiel steht der Verlust der eigenen Identität…
Am 24. November feiert SAMSON ET DALILA in einer Inszenierung des argentinischen Filmregisseurs Damián Szifron Premiere. Während der Proben traf Dramaturgin Jana Beckmann ihn zum Gespräch. 

JANA BECKMANN Du bist Filmregisseur und Drehbuchautor, dein letzter Film WILD TALES war für einen Oscar nominiert. SAMSON ET DALILA ist nun dein Operndebüt. Wie war deine erste Begegnung mit dem Werk?

DAMIÁN SZIFRON Die ganze Reise begann mit einer Einladung. 2014 hatte ich das Glück zu erfahren, dass Maestro Barenboim und Matthias Schulz meinen Film WILD TALES gesehen hatten und er ihnen anscheinend sehr gefiel. Der Maestro sagte, dass sich vor allem der letzte Teil des Films, die Hochzeit, wie eine Oper anfühle. So luden sie mich ein, eine Oper mit ihm als Dirigent zu inszenieren. Da er eine der Personen ist, die ich sehr bewundere, nenne ich das ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. Ich kannte die Oper teilweise – das Vorspiel und die berühmte Arie »Mon coeur s’ouvre à ta voix« – aber ich hatte sie nie komplett gehört und gelesen. Danach stand fest: Ich mochte die Geschichte und wollte sie selbst erzählen. Ich wollte die wahren Beweggründe hinter jeder Aktion, hinter jedem einzelnen Satz aufdecken. Warum überdauern Mythen die Zeit? Welche Stränge unserer DNA stimulieren sie?

J B SAMSON ET DALILA ist eine romantische Oper mit großen Chortableaus, lyrischen Zustandsbeschreibungen und actionreichen Szenen. Inwiefern steht sie im Verhältnis zum Film?

D S Zunächst verknüpfen Oper wie auch der Film alle weiteren Künste miteinander: Musik, Literatur, Theater, Malerei, Tanz. Im Film kommt noch die Fotografie als Medium hinzu, das ihr vorausging. Sagen wir, die Oper und der Film teilen den Anspruch, das Sinnesfeld des Publikums zu erweitern. In gewisser Weise ist die Inszenierung einer Oper wie ein Filmdreh ohne Kamera. Und mehr noch: Nach dieser sehr bereichernden Erfahrung scheint mir klar, dass der Film als Medium bereits von denjenigen vorgestellt oder ersehnt wurde, die Jahrhunderte zuvor mit der Produktion von Opern begonnen haben. Die Nahaufnahme, die Montage, die Überblendung, die Zeitlupe: Alle diese modernen Ressourcen gab es schon. Ich war übrigens überrascht zu erfahren, dass Saint-Saëns der erste große Komponist war, der eine ausnotierte Filmmusik schrieb.

J B In deinen Filmen und TV-Serien geht es oft um Menschen, die sich gegen ein System auflehnen, gegen die Gesellschaft, gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Feindseligkeit, die uns im realen Leben begegnet – oftmals gepaart mit schwarzem Humor. In welcher Beziehung stehen diese Themen zur Vorlage der Geschichte aus dem Buch der Richter des Alten Testaments?

D S Meiner Ansicht nach ist oder kann SAMSON ET DALILA so subversiv sein wie nur möglich. Samson ist gespalten zwischen der Loyalität zu seinem Volk, das sich – wie heute – dazu berechtigt fühlt, über seine Liebe und sein Sexualleben sowie die Anziehung zu dieser fremden, ungewöhnlichen Frau zu urteilen, die ihn dazu bringt, seinen Glauben und sein Wesen in Frage zu stellen. Mit anderen Worten: Diese wunderwundervolle Frau bringt ihn zum Nachdenken. Scheinbar ist das nichts für ihn. Er kann töten und zerstören; er wurde geboren, um zu beschützen, aber nicht, um für sich selbst zu sorgen. Die biblische Geschichte wurde wahrscheinlich als ein Manifest gegen Assimilation geschrieben. Es ist eine warnende Geschichte, in der es heißt: »Verliebe dich nicht in einen Fremden, weil du deine Tradition zerstören und denjenigen, die dich lieben, unendlich viel Leid zufügen wirst.« Aber wie jeder andere Teil einer Kultur, der die Zeit überdauert, versteckt er einen Schlüssel zur gegensätzlichen Interpretation.

J B Warum ist die Kultur, der Glaube und die Tradition sowohl bei den Hebräern als auch bei den Philistern nicht nur ein Ort der Zuflucht und Identität, sondern auch ein Gefängnis? Dalila scheint hier als eine Figur, die nicht ins System passt …

D S Ich glaube, dass keiner von beiden in das System passt. Ich würde noch weitergehen: Ich glaube, dass niemand von uns in irgendein System passt. Wir sind eine einzigartige Kombination aus Genen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen. Wie Pflanzen: Manche wachsen im Schatten, andere brauchen mehr Licht. Manche leben in der Wüste, andere im Eis. Unabhängig davon, wie unterschiedlich wir alle sind, haben Menschen seit jeher versucht, sich von Machthabern domestizieren zu lassen. So wie ich es sehe, sagt »Samson et Dalila« durch Worte, aber viel mehr durch die Musik, dass Liebe nicht domestiziert werden kann.

J B Warum verrät Dalila dann Samson?

D S Der verborgene Kampf, den Samson durchmacht, besteht darin, entweder eine Art Wunderkind zu bleiben – ein Zirkusfreak, der dazu verdammt ist, seine Tat immer wieder zu wiederholen, um seinen Meister zu bereichern – oder ein Erwachsener zu sein, der das Recht hat,seinen eigenen Weg zu finden und sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Er zahlt den Preis, nicht weil er Dalila sein Geheimnis verraten hat, sondern weil er nicht das Zeug dazu hatte, sich ihr wirklich zu öffnen. Dalilas Dilemma ist anderer Natur. Sie ist wie das Feuer: Es kann wärmen, beschützen, Vergnügen bereiten und Schutz bieten oder dich verbrennen. Und es gibt nichts dazwischen. Sie liebt Samson und sie weiß, dass er sie liebt. Aber sie kann es nicht ertragen, dass er sich vor seinem Volk so schuldig fühlt, sich seiner eigenen Gefühle schämt, seinem Gott so untergeben ist, deswegen beginnt sie ihn zu hassen. Die Verbitterung verwandelt sie allmählich in ein Opfer des Hohenpriesters, der sie benutzt, um seine Macht zu stärken. Aber am Ende wird die Wahrheit weder von Dagon, dem Gott der Philister, noch Jehova, dem Gott der Hebräer vertreten. Der einzig wahre Gott ist der Gott der Liebe. Er hat keine Gestalt, aber es ist klar und greifbar, wenn zwei Seelen tief verbunden sind, egal ob sie Liebhaberinnen und Liebhaber, Sängerinnen und Sänger oder Musikerinnen und Musiker sind. Es ist weder das eine noch das andere. Es ist dieses dritte, schöne, erschreckende Wesen, das die Welt verändern kann. Durch Kunst, Berge, Feuer, vorbeiziehende Wolken, die Sonne, den Mond, einen Regenbogen und hunderte Stunden von Proben versuchen wir, ein wenig von dieser Energie mit dem Publikum zu teilen.

J B Die Frage nach Freiheit, Gleichheit und kultureller Identität offenbart die Mechanismen von Gewalt und Unterdrückung nicht nur als Relikt der Vergangenheit. Inwiefern ist Samson als starker Held, der seiner von der patriarchalen Gesellschaft auferlegten Pflicht nachgeht, und Dalila als die oftmals dargestellte exotische Femme fatale eine produktive Reibungsfläche?

D S Alles, was uns beschützt, schließt uns auch ein. Die Gitter in einem Fenster versperren unsere Sicht. Ein Antivirusprogramm im Computer macht ihn langsamer. Alle Medikamente haben Nebenwirkungen, manchmal richten sie größeren Schaden an als die Bedrohung, die sie bekämpfen sollen. SAMSON ET DALILA ist im Kern keine Liebesgeschichte, sondern eine Geschichte über die Unterdrückung der Liebe. Es geht um die Angst, wirklich zu teilen. Die Angst, mit jemand anderem zusammen zu sein, ohne ihn oder sie zu unterdrücken. Es geht um den Kampf zwischen einem Mann und einer Frau mit ihren jeweiligen Gesellschaften, aber letztendlich um den Kampf zwischen einem Mann und einer Frau. Samson und Dalila sind für mich Personen auf Augenhöhe. Gleich in einer Welt, die sich dem Gleichen widersetzt. Dalila ist genau wie Samson; nur dass sie die körperliche Kraft nicht braucht. Sie ist innerlich stark genug. Hätten diese beiden Figuren ihre wahren Bedürfnisse akzeptiert, hätten sie ein neues Imperium gründen können. Ein besseres, freieres, offeneres, im Vergleich zu jenen, die ihre Kulturen kämpfend verteidigten. Eine davon, die Kultur der Philister, ist extrem gewalttätig und übergriffig. Die andere, die der Hebräer, ist extrem selbstschützend und defensiv. Ich stelle mir Samson und Dalila gerne als Begründer einer neuen Ära vor. Einer besseren Ära, die nie kam, aber von der wir alle wissen, dass sie möglich ist.

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