GEGEN DIE LEERE – Im Rausch der Romantik unter der Kruste der Zivilisation
»himmelerde«, das am 17. Januar 2019 in der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt wurde, greift auf Motive der Romantik zurück. Dramaturgin Jana Beckmann beleuchtet die Epoche, ihre Begleitumstände und Protagonisten.
Menschen können tot sein, ohne es zu bemerken. Die Romantiker verband das Unbehagen an der Gewohnheit, der leeren Geschäftigkeit, der Ausrichtung des Lebens nach den Prinzipien der Vernunft und der Zweckmäßigkeit. Kurz: ein Leben, das die Wahrnehmung stumpf machte und den schöpferischen Geist verkümmern ließ. Die Angst vor der Leere und das Bedürfnis, das Leben vor der Entzauberung zu retten, führte sie zur Suche nach dem Geheimnisvollen im Alltäglichen und zur Flucht in die Welt der Poesie. Die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik erstreckte sich insbesondere auf die Bereiche europäischer Literatur, Kunst, Musik und Philosophie, erhielt aber auch Einzug in die Naturwissenschaften, Medizin, Geschichte und Theologie. In der Literatur dauert die Romantik von ca. 1795-1848 an, während sich die Spätromantik in der Malerei bis Ende des 19. Jahrhunderts, in der Musik bis Anfang des 20. Jahrhunderts erstreckte. Die Romantik verstand sich als Gegenbewegung zur Aufklärung, welche die Vernunft über die Empfindung stellte und von den Romantikern als Begrenzung menschlicher Seinsmöglichkeiten skeptisch betrachtet wurde. Ein tiefes Misstrauen richtete sich auf den Geist der Geometrie, der alles Leben unter der Perspektive der Effizienz zu durchdringen schien.
Der Mensch hatte sich aus den Bindungen der tradierten Glaubens- und Gesellschaftsordnung emanzipiert und war nun auf sich selbst gestellt. Das Unbehagen an der eigenen Epoche äußerte sich als Gefühl einer transzendentalen Einsamkeit. Die Lebensform der Städter, die mit der Industrialisierung einherging, schien den Romantikern als Beispiel par excellence für die Entfremdung des Menschen von der Natur und seinem natürlichen Rhythmus. Die verstreichende Zeit wurde als Leere empfunden, die nur darauf wartete mit Sinn gefüllt zu werden. Die sozialökonomisch zermürbenden Lebensumstände und die politische Unsicherheit provozierten eine schwärmerische Flucht ins Volkstümliche, sowie in die vermeintlich harmonische Vergangenheit. Sie bestärkten den Wunsch nach einem neuen Selbstverständnis und einer Wirklichkeit, in der die Poesie richtungsweisend wirkte. Die Suche nach dem verlorenen Sinn zeigte sich als »Heimweh«. Die Romantiker spürten die Zerrissenheit des Seins in den Gegensätzen von Welt und Individuum, Wirklichkeit und Phantasie, Vergangenheit und Gegenwart, Form und Freiheit. Ziel der romantischen Bewegung war, das Lebendige zurückzuerobern – bei sich selbst und im gesellschaftlichen Leben. Es galt das Leben zu poetisieren. Romantiker-Sein wurde zur menschlichen Grundhaltung stilisiert, die ein von Gefühl und Phantasie geleitetes Verhalten geradezu zelebrierte.
»Denken Sie die Wand und dann denken Sie sich selbst als das davon Unterschiedene«– so lautete ein Experiment, das Johann Gottlieb Fichte mit seinen Studenten zum Ich-Bewusstsein durchführte. Erst die Vorstellung von dem Menschen als freies und lebendiges Wesen, schuf die Voraussetzung für den Geist der Romantik: Das Ich wurde zum schöpferischen Prinzip des Lebendigen erkoren.
Als Revolte gegen eine vollkommen rational durchdrungene, bürgerliche Denk- und Lebensordnung sehnten sich die Romantiker nach der Freiheit und der Ferne, der Entgrenzung und der Grenzenlosigkeit. Dem »Heimweh« wurde das »Fernweh« gegenübergestellt. Der Aufbruch in die unbekannte Fremde, das Wandern oder die Seefahrt als Reise ohne Ankunft und das unendlich aufgeschobene Ziel, stellten zentrale Motive der Romantik dar. Nicht die Verwirklichung und Erfüllung, sondern die Aufrechterhaltung der Sehnsucht war der Motor der romantischen Phantasie. Der Begriff »Heimweh« vereinte für den frühromantischen Philosophen Novalis beide Aspekte zugleich: die Sehnsucht nach Geborgenheit und den Ausbruch aus dem Umfeld des Gewohnten. Heimweh bedeutete demnach nicht die Verankerung an einem bestimmten Ort, sondern »überall zu Hause sein« zu wollen. Die Sehnsucht nach dem Lebendigen umfasste ebenso das Aufgehen des Menschen in der Natur, deren Schönheit und Erhabenheit verehrt wurde. Euphorisch überließ man sich ihrer Wildheit, die nicht nur die Idylle, sondern auch das Dunkle, Unheimliche und Bedrohliche umfasste. In ihrer Vorstellung flüchteten sich die Romantiker nicht nur in die Traumwelt und die Natur, sondern auch in die transzendentale Welt des Jenseits und in die Kunst. Die Natur wurde zum Symbol und zur Projektionsfläche der romantischen Poesie. Romantisch überhöht wurden Motive und Phänomene der Natur in umfassenden Gedichten und Liedern. Joseph von Eichendorff, der zu den bedeutensten Lyrikern und Schriftstellern der deutschen Romantik zählt, verfasste zahlreiche Gedichte, die von verschiedensten Komponisten vertont wurden, darunter im Liederkreis op. 39 von Robert Schumann.
Der romantische Künstler, der im Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Phantasie lebte, am Weltschmerz litt, Kunst im rauschhaften Wahn schuf und als Genie gefeiert oder von seiner Mitwelt verkannt wurde, prägte das Bild der Kunst- und Kulturrezeption. Schiller postulierte die Verbindung von Spiel und Menschsein: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Das neue Selbstbewusstsein künstlerischer Autonomie zelebrierte das zweckfreie Spiel der Einbildungskraft und provozierte einen Aufschwung der romantischen Geistesströmung. Die Kunst verweigerte sich dem Vernunfthaften und schöpfte aus der Empfindung und dem Verstand, der Erinnerung und der Erwartung. Sie ermöglichte dem Künstler, sich in der Welt der Schönheit und Erhabenheit für eine kurze Weile zu verlieren und sich von der Wirklichkeit loszusagen. Die Erinnerung an die Kindheit, die Leichtigkeit und die Unbeschwertheit des Spiels wurde zur Quelle der Phantasie, die das kindliche Erleben bewahrte und die es vor der Welt der Vernunftorientiertheit zu behüten galt. Aber nicht nur in der Erinnerung an eine verlorene und unbeschwerte Zeit, sondern auch im Alltäglichen wartete die Poesie darauf, entdeckt zu werden. Das Unscheinbare und das scheinbar Nebensächliche des Alltags wurde in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, um bedeutungsvolle Momente herauszuschälen und »dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein zu geben.« (Novalis)