»Vom Friedhof zum Tanzboden sind es nur ein paar Schritte«

Mit der Uraufführung von »himmelerde« erobert die Reihe LINDEN 21 nun auch die Bühne im Großen Saal. Dramaturgin Jana Beckmann hat vor der Premiere mit Michael Vogel, Hajo Schüler (Familie Flöz), Andreas Schett und Markus Kraler (Musicbanda Franui) über den Entstehungsprozess des Maskenmusiktheaters gesprochen.

»himmelerde« ist eine Stückentwicklung zu verschiedenen Liedern der deutschen Romantik. Es entsteht eine »Liederoper«, die keiner linearen Handlung folgt. Was sind Themen und Motive, die sich im Stück wiederfinden?

Hajo Schüler Einige Musiktitel sind gute Stichworte für die Themenfelder, die wir in »himmelerde« beschreiben: Sehnsucht, Wehmut, Fremde, Einsamkeit und Tod. Tod und die Angst davor ist ein zentrales Thema des Stücks. Inspiriert von Schuberts Lied »Der Tod und das Mädchen« bildet die Figur des Mädchens den Gegensatz dazu. Sie skizziert das Junge, noch nicht Zerbrochene, nicht Zweifelnde und die Sehnsucht nach dem Lebendigen.

Wofür steht der Stücktitel?

Michael Vogel »himmelerde« besteht aus drei Teilen: Den ersten Teil haben wir der Erde gewidmet und all unseren Verstorbenen. Ein Mädchen stolpert hinein in die Vergangenheit und wird so unsere Hauptfigur, die in verschiedenen Formen bis zum Ende immer wieder auftaucht. Der zweite Teil führt uns in die Welt eines Künstlers, in seine Imagination, der Nacht, des Rausches und des Wahns. Diesen Teil haben wir dem Himmel zugeordnet; er steht für das Schöpferische und die Zukunft. Der dritte Teil spielt in der Gegenwart: ein Versuch nach himmelerde zu kommen, wo ein Blick zum Horizont frei werden könnte.

Ihr arbeitet als Berliner Kollektiv Familie Flöz für diese Produktion mit der Musicbanda Franui zusammen. Wie unterscheidet sich diese Arbeit von anderen Stückentwicklungen?

Michael Vogel So wie Franui mit der Musik umgeht, war es für mich vom ersten Hören an eine große Freude. Die Lust mit dieser Musik zu spielen, ist für mich die Grundlage der Zusammenarbeit. Die von Franui interpretierten und neuarrangierten Lieder der Romantik waren für uns Vorlage und Ausgangspunkt der Stückentwicklung. Es ist für uns das erste Projekt, in dem nicht Figuren, sondern die Musik am Anfang steht und wir uns auf die Musik zubewegen.

Hajo Schüler Wir gehen bei der Stückentwicklung sonst sehr von den Figuren aus, von einem Grundthema oder einem starken Bild. Die Lieder erzählen Geschichten, beschreiben Orte und haben etwas mit der Zeit zu tun, in der sie entstanden sind. So waren alle Ideen oder Bilder, die wir gesucht haben, von Anfang an irgendwie »kontaminiert«, das war ungewohnt.

Michael Vogel Das brachte uns immer wieder an Grenzen. Und das ist gut so. Die ursprüngliche Idee war, dass wir zu den Liedern von Schubert, Brahms, Mahler und anderen Komponisten der Romantik Bildbeschreibungen entwickeln. Was wir jetzt gefunden haben, geht aber viel weiter. Mit dem Gesang, der den Masken ihre Stimmen gibt, und dem Tanz entsteht ein Zusammenspiel von Geste, Klang und Bewegung.

Masken haben im Theater, in Ritualen oder in politischen Bewegungen eine lange Tradition. Was ist für dich das Besondere an den Masken, die du für Familie Flöz entwirfst?

Hajo Schüler Masken sind für mich dann spannend, wenn sie eine Projektionsfläche bieten, die eine möglichst große innere Aktivität anregt – sei es emotional oder gedanklich. Die Maske wirkt im Idealfall wie ein weißes Blatt, das zwar ein bestimmtes Format hat, aber nicht zu viel festlegt. Wir wollen nicht die Maske als Maske thematisieren, sondern uns geht es um die Faszination des Moments – das ist es ja auch, wenn man einen Comic liest oder einen Graphic Novel: im ersten Bild lernt man den Charakter kennen und im zweiten Bild abstrahiert man schon von der Zeichenhaftigkeit und möchte mit ihm sein, mit ihm leben. Und das soll mit den Masken auch passieren. Die Masken triggern ja die ganze Zeit etwas in einem an.

Michael Vogel Die Masken fügen den Liedtexten und der Musik eine weitere imaginative Ebene hinzu. Durch die Imagination der Zuschauerin und des Zuschauers werden die Masken lebendig und beginnen zu erzählen. Und das ist etwas sehr Schönes, wenn man mit einer Maske spielend auf der Bühne steht, dass das Publikum in den Geschichten der Archetypen, seine eigenen Geschichten imaginiert und versteht. Man kommt sich in diesen Augenblicken sehr nahe.

In »himmelerde« verwendet ihr u. a. Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann, Gustav Mahler, Johannes Brahms, Anton Webern, wobei Schumanns Liederkreis Opus 39 im Zentrum steht. Wie kam es zur Auswahl der Lieder?

Andreas Schett Klar war, Tanzboden und Friedhof, das sind unsere zwei musikalischen Aggregatzustände. Und dann gibt es eine lange Bekanntschaft mit Familie Flöz, die sich auch Stücke gewünscht haben, die wir schon länger spielen. Hinzu kommt seit einigen Jahren die intensive Zusammenarbeit mit Florian Boesch, wo wir voneinander wissen, welche Stimme, welcher Ausdruck uns interessiert. Gemeinsam kam uns der Wunsch, den Liederkreis Opus 39 von Schumann als roten Faden zu nehmen. Von den zwölf Liedern kommen sieben vor, eines davon versteckt als Trauermarsch. Von Anna Prohaska kam die Idee, Lieder von Webern anzuschauen. Was ist also, wenn man diesen späthochgedrehten Romantiker mit Hackbrett und Zitter spielt? Es ist ja interessant, einmal diesen ganzen Interpretationsballast wegzuschmeißen.

»Nicht mehr umblättern und trotzdem weiterspielen«. Was verbirgt sich hinter dem Credo?

Andreas Schett Den Satz haben wir formuliert, um zu erklären, wie wir Musik spielen, die aufbaut auf dem, was vorhanden ist, und trotzdem etwas Neues hervorbringen will. Wichtig ist uns zuerst einmal, die Musik gern zu haben, sie wirklich zu lieben, sie versuchen zu begreifen, und ihr dann mit unserem Instrumentarium zu Leibe zu rücken. Sie sich »anzuverwandeln«, wie wir sagen. Dabei gibt es manchmal nur einen Tupfer, der draufgesetzt wird, und manchmal stellen wir eben alles vom Kopf auf die Füße.

Ihr überschreibt, skelettiert Kunstmusik, denkt sie um und weiter und verbindet sie mit den Klangfarben des Alpenraums …

Andreas Schett Wir finden die Trauermarschmusik genial bis heute, weil sie eine alpine Volksmusik ist, die eben nicht nur einen Gemütszustand ausdrückt, sondern eben lachen und weinen kann zugleich und alles dazwischen auch. Sie ist das, was uns musikalisch fasziniert bei jeder Musik, die wir machen. Sie schließt in einem Moment mehrere Gefühls- und Geisteszustände in sich ein und sagt eben nicht »das ist fürs Hirn, das ist fürs Herz«. Die Trauermarschmusik schiebt und zieht zugleich. Jede Achtel tritt auf der Stelle und will weiter und das ist ein Spannungszustand, der uns interessiert. Und so wollten wir herausfinden, wie dieses Idiom in der Kunstmusik klingt.

Hajo Schüler Ziehen und Schieben zugleich, weiter wollen, aber auf der Stelle treten…Genau so spielen wir auch unsere Masken. Das könnte eine Regieanweisung sein. Dieser Spannungsaufbau im Körper, der eigentlich unerträglich ist, macht eine Maske erst lebendig. Hier sehe ich eine große Nähe in der Arbeit von Franui und Familie Flöz.

Worin liegt für euch die Verbindung von Trauermärschen und Tanzbodenmusik?

Andreas Schett Wenn du den Trauermarsch vier Mal so schnell spielst, wird es eine Polka. Tatsächlich haben frühe Blaskapellen im Alpenraum keine eigenen Trauermärsche gekannt. Man hat einfach einen ganz gewöhnlichen Straßenmarsch am Friedhof langsam gespielt und als das Begräbnis vorbei war, haben sie sich hinter der Kirche aufgestellt und denselben Marsch im vierfachen Tempo gespielt – auf dem Weg ins Wirtshaus.

Markus Kraler Vom Friedhof zum Tanzboden sind es nur ein paar Schritte. Auch bei »himmelerde« spielen wir Musik für den Tanzboden und für den Friedhof. Für das Sterben, für das Abschiednehmen und den Moment davor. In einem unserer älteren Programme singen wir: »Eine Viertelstund‘ vor seinem Tod, ja, da war er noch am Leben!«

Ihr nehmt das Schwere leicht und das Leichte schwer?

Andreas Schett Das suchen wir und zwar explizit. Das Leichte schwer zu nehmen und umgekehrt, das Oberste nach unten kehren, das Abseitige in den Mittelpunkt stellen, das beschreibt einen wichtigen Ansatz von uns, aber der Musik darf man das nicht anmerken.

Markus Kraler Über uns wurde einmal gesagt, wir seien musikalische Seelenforscher. Wenn man diese Seele ergründet, die in den Stücken steckt, und sie von der Interpretation befreit, wie wir sie kennen, und von den Zwängen der tradierten Aufführungspraxis, dann erkennt man plötzlich andere Zustände oder Abgründe, die zunächst nicht sichtbar waren.

Hajo Schüler Ich denke, auch bei uns ist es das Volkstheaterhafte, das wir immer wieder unbewusst suchen. Dass man sich mit einfachen Dingen, die jeder kennt, identifizieren kann und es trotzdem nicht flach wird. Im Banalen liegt das Tiefe. Und das Schwere oder Tragische kann eben auch ganz leicht sein. Ich habe den Eindruck, in der Art des Humors, wie Franui mit der Musik umgeht, sie versteht und re-komponiert, eine ähnliche Leichtigkeit oder eine humorvolle Ernsthaftigkeit zu finden. Ohne diesen Ansatz wäre das eine ganz andere Ebene gewesen. Ohne diesen Humor hätten wir das auch nicht ertragen.

Die Romantiker fühlten Unbehagen an der Normalität und der Vernunftorientiertheit der Welt. Sie verabscheuten die gerade Linie, bevorzugten die krummen, verwinkelten Wege, die Um- und Abwege, den Zufall, den Aufbruch ohne Ziel. Was hat die Romantik mit euch heute zu tun?

Michael Vogel Vom Post-Hippie wurde ich in den 80ern zum Soft-Punk. Beides zwei sehr romantische Wesen. Verwandte des Taugenichts von Eichendorff. Wir waren nicht mit der Postkutsche unterwegs, sondern mit dem VW-Bulli, mit aufgesprühtem Peace-Zeichen, die Flower-Power-Zeit nachspielend. Als Punks hatten wir uns in den Tod verliebt. Wir glaubten, dass unsere kleinen Gemeinschaften die Gesellschaft verändern könnten. Heute lebe ich in mindestens zwei Welten. Als Familienvater, so gut es geht, rational in der Wirklichkeit, als Künstler im Erfinderischen und der Intensität des Komischen und Tragischen verbunden und damit auch dem Romantischen.

Über die Franui Wiese, die der Musicbanda ihren Namen gab, hast du einmal gesagt: »Wenn man dort ist, ist es, als ob man in einem Gemälde sitzt und hinausschaut«…

Andreas Schett Ja, das stimmt. Innervillgraten ist aber kein Sehnsuchtsort, das ist ein Herkunftsort, und zwar ein starker. Um es frei nach Peter von Matt zu sagen: Wir brauchen Innervillgraten überhaupt nicht, wir brauchen nur ab und zu einen Quadratmeter, um uns abzustoßen – das ist unsere Beziehung zur Heimat, das trifft es total. Und ja, wir sind absolute Romantiker. Eigentlich sind es immer die romatischen Komponisten, die uns am meisten inspirieren. Ich kann das theoretisch nicht absichern, aber ich weiß, dass die Romantik bis heute viel bedeutet – nicht nur für mich. So haben wir etwa ein paar Verse aus dem Gedicht »Der Pilger« von Eichendorff ins Stück hineingeschwindelt, das Johannes Brahms überliefert hat: »Und ein geheimes Grausen / Beschleichtet unsern Sinn: / Wir sehnen uns nach Hause / und wissen nicht, wohin?« Das ist eine Kurzzusammenfassung der Romantik und ist bis heute gültig!

Hajo Schüler Ich habe mich in der Arbeit sehr oft gefragt, ob das eigentlich sehr deutsch oder österreichisch ist, diese Auseinandersetzung mit der Romantik. Durch die Musik und die Texte hatte ich oft das Gefühl, dass das etwas sehr Pathologisches hat: Sich so auszuleben in der Unmöglichkeit, dieser Abscheu vor dem Banalen, Pragmatischen oder Zweckorientierten. Ein Teil von mir identifiziert sich trotzdem sehr stark damit, während ein anderer Teil von mir auch sehr genervt ist von dieser Selbstbezogenheit. Daher kam auch die Idee des Films am Schluss, durch Berlin zu gehen und diese einfachen, normalen oder durchschnittlichen Figuren zu den Hauptfiguren des Stückes zu machen – als Reaktion auf diese Ich-Bezogenheit nach dem Motto: »Wir sind so besonders und ich empfinde besonders und ich bin alleine mit meinen Dingen und ich kann das mit niemandem teilen und I’m so fucking special«. Diese Haltung war auch der Impuls zu sagen:»Guck dir mal an, wie das Leben ist!«

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