GEHEN IST WIE EINE CHOREOGRAPHIE OHNE TANZ

Der 1976 in Dänemark geborene Komponist und Medienkünstler Simon Steen-Andersen arbeitet mit einem multidisziplinären Zugang zu musikalischer Aufführung und Konzertsituation, der sich in seinen Werken an der Schnittstelle zwischen den Kategorien Musik, Performance, Installation, Theater, Choreographie und Film niederschlägt. Am 13. September 2020 fand die Uraufführung seiner LINDEN 21 Produktion WALK THE WALK im Alten Orchesterprobensaal statt – eine Performance, die als Ausgangspunkt den Akt des Gehens behandelt, zusammen mit dem Ensemble This | Ensemble That. Dramaturg Benjamin Wäntig hat ihn vorab zum Gespräch getroffen.

Was war deine erste Idee, aus der »Walk the walk« entstanden ist?

Es waren gleichzeitig zwei Ideen: zum einen, dass das Gehen einen interessanten Zwischenstatus hat. Es ist eine Bewegung, die keine Choreographie ist, aber choreographisches Material bildet, ohne direkt zum Tanz zu führen. Das Bild des Gehens auf dem Laufband hat mich sofort an das filmische Mittel des follow shot erinnert, wenn die Kamera einen Darsteller verfolgt. Daraus entstand zum anderen die Idee, spezifische Mittel aus den Medien Kino, Film und Video zu rekonstruieren, allerdings »handgemacht« und analog. Die Faszination bei der Übertragung von Effekten von einem Medium in ein anderes liegt darin, dass Dinge eine andere Bedeutung erhalten, dass Einfaches auf einmal sehr virtuos wird. Gleichzeitig ist die Verfremdung, die dabei eintritt, ein Spiel mit der Wahrnehmung. Es stellt sich eine Art Halbillusion ein, ähnlich wie beim Anschauen eines Zaubertricks. Einerseits weiß man, dass es sich um einen handgemachten Trick oder Effekt handelt, andererseits gibt man sich der Illusion hin.

Auch der Titel »Walk the walk« bringt diese beiden Ebenen zum Ausdruck: einerseits die klare Bezugnahme auf das Gehen, aber auch im Englischen im übertragenen Sinn die Bedeutung, etwas in die Tat oder von der Theorie in die Praxis umzusetzen.

»Walk the walk« hat eine leicht kitschige Lockerheit, aber gleichzeitig eine Mehrdeutigkeit. Einerseits eine ganz konkrete Bedeutung, bei der man überhaupt nicht an eine Metapher denkt, andererseits die Bedeutung als Redewendung, die ich für mich auch immer so verstanden habe, dass man etwas nicht nur in die Praxis umsetzt, sondern bis in ein Extrem treibt.

Worin siehst du das musikalische Potenzial des Vorgangs Gehen?

Offensichtlich sind die musikalischen Parameter, die wir alle gut kennen, wie Puls, Geschwindigkeit, Schwere, Rhythmus, die mit dem Gehen zusammenhängen. Gleichzeitig – und das ist etwas schwieriger zu erklären – gibt es auch eine ganz andere Ähnlichkeit zwischen Gehen und Musik, die über rein Klangliche hinausgeht. Ich habe das Gefühl, dass beides eine ähnliche Art von Abstraktheit teilt. Musik hat keine genauen Entsprechungen in der realen Welt. Das heißt nicht, dass wir nicht Bedeutungen hineinlesen könnten oder Musik kein komplexes Netz von (Selbst-)Referenzen ausbilden würde. Das Gehen funktioniert ähnlich: Es kann ganz konkret sein, ist aber eine solche Alltagsaktion, dass es ganz neutral sein kann und eigentlich keine Bedeutung hat. Man kann es auch ganz ohne Ziel und Zweck einsetzen: Wir gehen spazieren, wir wissen nicht immer, wo wir hingehen oder wie genau wir dort hinkommen. Ein Philosoph würde das vielleicht abweisen, aber für mich ergibt sich hier eine interessante Verwandtschaft zur Musik. In dem Stück verwende ich Bewegungen – und vieles geht über bloßes Gehen hinaus –, aber die Frage, ob sie Bedeutungen tragen und falls ja, welche, bleibt immer offen. Es ist eine Choreographie ohne Tanz, die ihre eigene musikalische Begleitung herstellt; gleichzeitig immer auch »nur« ein Sample aus dem Alltag, das Gehen als eine Art »Objet trouvé«.

Die vier Schlagzeuger bedienen auch kaum ein gängiges Instrumentarium, stattdessen werden im Verlauf der Performance immer neue, auch alltägliche Objekte zu Instrumenten. Wie findest du denn deine »Objets trouvés«?

Je nach Projekt oder Konzept arbeite ich in diesem Punkt unterschiedlich. In diesem Fall sind die gefundenen Klänge bestimmte Klischees, die bekannte Assoziationen an Film und Fernsehen aufrufen, sodass sie sich verfremden, rekonstruieren oder reenacten lassen. Typische Elemente des Schnitts, der Erzählweise oder auch Jingles brauchen wir, um Kino zu spielen ohne die Mittel, die man normalerweise dafür hat. Unsere Schlagzeuger spielen tatsächlich wenig traditionelles Schlagzeug – eigentlich nur in den Sequenzen, in denen sie sich selbst spielen. Was sie aber immer brauchen, ist die rhythmische Präzision, über die nur Schlagzeuger verfügen, denn nur so lassen sich die komplexen choreographischen Abläufe darstellen. Sie sind die Experten für Aktionen in einem genauen Timing, und genau das brauche ich für dieses Stück, das wie eine riesige Maschinerie ist. Nicht nur bei dem, was man auf der Bühne sieht, sondern auch gerade bei dem, was sich dahinter abspielt.

Wie gliedert sich die Kompositionsarbeit im engeren Sinn in diesen Prozess ein? Steht deine Partitur wie sonst üblich schon vorher fest?

Ich arbeite in meinen Projekten gern mit Partituren, hier habe ich bewusst darauf verzichtet. Das stimmt nicht ganz: Es gab viele kleine Stenographien von Abläufen, die wir dann erarbeitet haben. Sie sind also nicht aus einer Improvisation entstanden, aber den einen zeitaufwendigen Prozess der Niederschrift in eine Partitur gab es nicht. Unsere Partitur ist gewissermaßen die Totalansicht des Sequencers auf dem Rechner. Dadurch konnten wir freier und modularer arbeiten. Hinzu kommt das Problem, dass sich Rhythmen, nicht aber Bewegungen gut in einer Partitur festhalten lassen. Diese Ebene würden wir traditionellerweise als Inszenierung verstehen, für mich gehört hier beides unmittelbar zusammen.

Gibt es, wenn du die musikalische und visuelle Seite gestaltest, trotzdem eine, die zuerst entsteht?

Meistens kommen mir Ideen von einem Bild und einer Klanglichkeit zusammen. Es ist dann unterschiedlich, ob ich zunächst die musikalische Seite oder die szenische detaillierter ausarbeite. Am besten sind aber immer die Ideen, die sofort Konsequenzen für alle Bestandteile der Aufführung haben, die im Spiel sind.

Wie gehst du bei der Erarbeitung einer solchen Musiktheaterperformance vor? Was gibst du vor, was entwickelst du gemeinsam in der Gruppe?

Ich habe genaue Präferenzen und Prioritäten im Kopf, lasse bei meinen Vorgaben aber immer einen großen Spielraum, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Ich gebe Angaben, bis jemand eine bessere Idee hat. Es ist auf vielen verschiedenen Ebenen eine Zusammenarbeit, besonders in der Ausarbeitung der praktischen Umsetzung. Viele Abläufe sind so komplex, dass ich sie unmöglich zu Hause mit einem Bühnenbildmodell genau »ausrechnen« könnte. Man muss wirklich ausprobieren, ob z. B. für einen Gang genügend Zeit ist. Solche Dinge habe ich offengelassen, sodass es eine ständige Feedbackschleife zwischen der musikalischen und der praktischen Seite gibt. Dasselbe kann man auch vom Bühnenbild sagen, das zwar konzeptionell früh fertig war, aber noch einige offene Fragen aufwarf, ehe ich damit »komponieren« konnte. Es ist ein bisschen so, als würde man komponieren, während man noch ein Instrument baut, dass nicht nur klingen, sondern auch ein bestimmtes Aussehen haben soll.

Also eine Art Mosaik, dessen Teile sich gegenseitig bedingen und befruchten. Mit welchem Begriff würdest du deine spezifische Vorstellung von Musiktheater beschreiben?

Geräuschtheater finde ich für dieses Projekt sehr passend, denn es ist nicht nur ein Abend mit, sondern auch über Geräusche im Theater. Die Hauptperson, der Tonassistent, nimmt ständig Geräusche aus der Umgebung auf, aber auch die, die er selbst produziert, und erzeugt so einen Kreislauf aus Metaebenen. Ein klassisches Spiel im Kino ist der Einsatz von diegetischen und non-diegetischen Geräuschen, also ob etwas direkt zur Szene gehört oder eine eigene metaphorische, z. B. psychologische Ebene bildet. Dieses Prinzip habe ich übertragen: Wir hören etwa Geräusche, die nicht sich selbst, aber ihre Bedeutung verändern.

Neben den Referenzen auf das Medium Kino spielt auch einer der großen Bewegungsforscher des 19. Jahrhunderts, Photograph wie Wegbereiter der Kinematographie eine Rolle: Étienne-Jules Marey. Wie bist du auf dessen Forschungen gestoßen?

Mareys Bilder haben mich schon immer fasziniert. Nachdem die Themen Gehen und kinotypische Elemente feststanden, bin ich schnell auf Marey zurückgekommen. Er ist nicht nur eine interessante Persönlichkeit, die überraschend früh viele große Entdeckungen gemacht und unglaublich breit gedacht hat; ich habe bei ihm auch viele Ideen wiedergefunden, die mir ganz unabhängig gekommen waren. Beispielsweise unsere leuchtenden Turnschuhe, die den Schrittsound auch visualisieren können – etwas Ähnliches hat schon Marey versucht. Er hat ohne Strom Schuhe konstruiert, in deren Sohle eine Luftkammer eingearbeitet war. Bei Druck durch Auftreten konnte Luft in einen Gummischlauch entweichen und ihre Menge gemessen werden. Eine Buchseite weiter beschreibt Marey, was passiert, wenn zwei Menschen parallel gehen, langsam aus dem Gleichschritt geraten und schließlich versetzte Laufbewegungen machen – genau das hatte ich auch geplant. Aus dieser Geisterverwandtschaft habe ich die Idee gefasst, den Abend als eine Hommage an Marey anzulegen, er hält alles zusammen. Dafür führen wir alle seine Interessensgebiete, die er nur getrennt bearbeitet hat, zusammen.
Das klingt sehr theoretisch, wird aber im Stück selbst erklärt – das Stück ist ja auch eine Reflexion über den Prozess seiner eigenen Entstehung, über das Verhältnis von Fiktion und dokumentarischem Anspruch. Auch wenn letztlich alle Bestandteile »Objets trouvés« sind, entwickelt sich so ein ständiges Spiel von Wirklichkeit und Fiktion. Es geht dabei nicht so sehr um eine linear in der Zeit voranschreitende Narration, sondern um Dinge, die mit einer anderen Bedeutung, aus einer anderen Perspektive oder auf einer anderen Ebene wiederkehren.

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.