»Oh! Mio terror« Dunkel und Schrecken in Verdis »Macbeth«

Es gibt Sujets, die wesenhaft etwas Nachtseitiges besitzen, die im Grunde nicht anders als düster und abgründig denkbar erscheinen. »Macbeth« gehört unzweifelhaft dazu, in Gestalt von Shakespeares Tragödie ebenso wie in jener von Verdis Melodramma. Durch den Dramatiker wie den Komponisten, zwei Giganten der europäischen Kultur, hat der historisch zwar greifbare, das Legendenhafte jedoch kaum einmal abstreifende schottische Warlord und König seine eigentümliche Physiognomie gewonnen. In einer gewalttätigen Zeit hat er gelebt, selbst nicht darum verlegen, Gewalt anzuwenden, wenn es seinen Zwecken dienlich war. Macbeth wurde zum Paradigma für einen Herrscher, der buchstäblich über Leichen geht und dem alle Mittel recht sind. Shakespeare und Verdi, jeder auf seine Weise, haben daraus ein Lehrstück geformt, vom erstaunlichen Aufstieg und tiefen Fall zweier Machtmenschen, Macbeth und seiner Lady, die unlösbar aneinander gekettet sind – sie primär als Antriebskraft, er als ausführendes Organ. Und obwohl in beiden Charaktere zumindest schemenhaft auch lichte Seiten aufscheinen, sind sie doch tiefschwarz gezeichnet, immerfort im schattenhaften Dunkel verbleibend.

Analog zu Shakespeares finsterer Tragödie, die sich durch eine besondere Prägnanz der Gesamtanlage wie der einzelnen Szenen auszeichnet, hat Verdi ein Stück Musiktheater geformt, das diese spezielle Tönung aufnimmt und effektvoll auf der Opernbühne lebendig werden lässt. Zwar gibt es in einer ganzen Reihe von Verdi-Opern eine auffällig dunkel timbrierte Musik – man denke etwa an »Rigoletto«, »Il trovatore«, »Simon Boccanegra«, »Les vêpres siciliennes« oder auch an Teile von »Don Carlo« –, mit derart düsteren Farben hat er jedoch weder zuvor noch danach ein Werk ausgestaltet. Als Verdi sich im Sommer 1846 mit dem Impresario des Florentiner Teatro alla Pergola, Alessandro Lanari, darüber austauschte, welchen Stoff er denn nun zur Grundlage seiner neuen Oper machen sollte und die Wahl schließlich auf »Macbeth« fiel, war er sich durchaus bewusst, dass dieses Unternehmen ein Wagnis bedeutete. Im Anschluss an Stücke wie Webers »Der Freischütz« und Meyerbeers »Robert le Diable«, die in den frühen 1840er Jahren in Florenz ihre italienische Erstaufführung erlebt hatten, war es Verdi offenbar daran gelegen, ein Werk zu schaffen, in dem Elemente spektakulärer »Schauerromantik« eine besondere Rolle spielen, einer ästhetischen Richtung, die zur damaligen Gegenwart auf große Resonanz beim Publikum stieß und die sich dem ebenso starken Moment des Phantastischen beigesellen sollte.

Stützen konnte sich Verdi hierbei auf ein spürbar gewachsenes Interesse an den Dramen Shakespeares in Italien. Erst um 1820 waren dessen Tragödien, die anderswo in Europa – wie etwa in Frankreich – beizeiten als Gipfelwerke der Theaterkunst anerkannt wurden, ins Italienische übersetzt worden; die Fassung, auf die sich Verdi und seine Librettisten bezogen, die Prosaübertragung von Carlo Rusconi, wurde sogar erst 1838 veröffentlicht. Von vornherein kam es dem bezüglich eines stimmigen Wort-Ton-Verhältnisses äußerst sensiblen Komponisten darauf an, die bestimmende Atmosphäre der seinerzeit bereits rund 240 Jahre alten »Tragedy of Macbeth« aufrechtzuerhalten, insbesondere im Sinne des Dunklen, Nachtschwarzen. Die Begeisterung für Shakespeare und dessen Werk, die ihn bei der gesamten Konzeption und Ausgestaltung begleitete, suchte er auf seine Mitarbeiter zu übertragen. Auf der Grundlage eines eigenen Szenariums und Prosaentwurfs trieb er seinen getreuen Librettisten Francesco Maria Piave, mit dem er nahezu zwei Jahrzehnten, wenngleich nicht immer konfliktfrei, kooperierte, dazu an, mit kurzen, aber umso präziser gesetzten Worten und Versen ein Höchstmaß an Eindringlichkeit zu erzielen – die Substanz von Shakespeares bewundertem Drama sollte in jedem Fall erhalten bleiben, war jedoch so in ein Opernlibretto zu integrieren, dass sich wirkungs- und charaktervolle Szenen ergaben, ob nun für die Protagonisten, die Nebenfiguren oder im Blick auf große Ensembles und Chortableaus.

Verdis Enthusiasmus wurde freilich gedämpft, als sich Piave nicht ganz so wie gewünscht in der Lage zeigte, seinen Vorstellungen vom Textbuch zu entsprechen. Der Komponist zog daraufhin Andrea Maffei heran, der als besonderer Kenner der Literatur im Allgemeinen und Shakespeares im Speziellen galt und zudem das uneingeschränkte Vertrauen Verdis besaß. Vor allem am dritten und vierten Akt hat Maffei mitgearbeitet, während die generelle Anlage – und auch die tendenziell einfache, aber erhabene, bisweilen pathetische Sprache – Piave und Verdi selbst zu danken ist. Bezeichnend ist dabei auch, dass sich das Libretto zwar weitgehend an der Shakespeareschen Vorlage orientiert, aber gerade jene Episoden ausgeschlossen worden sind – ein Operntextbuch, sofern es denn auf einem Sprechdrama basiert, kommt kaum jemals ohne erhebliche Kürzungen aus –, die ein wenig ins Helle oder gar Humorige ausstrahlen.

Das Dunkle, die essentielle atmosphärische Tönung, ist und bleibt in Verdis »Macbeth« dominant. Schon das Preludio, von den ersten Klängen an, führt dies unmissverständlich vor Ohren: Auf ein den Hexen zuzuordnendes Unisono-Motiv in f-Moll – eine der zentralen Tonarten des Werkes, die auch für das instrumentale Vorspiel bestimmend ist – folgen markante Bläserakkorde und expressive Klangeruptionen, die sofort deutlich machen, dass hier ein Geschehen von enormer musikdramatischer Kraft initiiert wird. Sodann klingt die Schlafwandelszene der Lady an, mysteriös im Ton, melodisch kaum einmal ausschwingend, dafür aber mit einer Eindringlichkeit, die Verdi in vergleichbarer Weise erst wieder in seinen reifen Werken gelang.

Sucht man nach dem spezifischen Ort von »Macbeth« innerhalb von Verdis Œuvre, so muss man diese so gänzlich außergewöhnliche, hochgradig unkonventionelle Oper ohnehin doppelt einordnen. Einerseits repräsentiert sein zehntes Bühnenwerk den »frühen Verdi«, der in seinen leidvoll erfahrenen »Galeerenjahren« den Erfordernissen des Opernbetriebs seiner Zeit gehorchend in rascher Folge ein Opus nach dem anderen konzipieren, ausarbeiten und darbieten musste, um als Komponist vor der Öffentlichkeit bestehen zu können, andererseits bot ihm die Möglichkeit einer nach gehörigem zeitlichen Abstand in die Wege geleitenden Wiederaufnahme unter merklich anderen ästhetischen und aufführungspraktischen Bedingungen – Paris 1865 versus Florenz 1847 – eine willkommene Chance, die Partitur grundlegend zu revidieren. Als er 1864, auf Anfrage der künstlerischen Leitung des Théâtre- Lyrique, das sich neben der traditionsreichen Opéra als Spielstätte für die buchstäblich »große Oper« in Paris etabliert hatte, damit begann, den mittlerweile 17 Jahre alten »Macbeth« im Blick auf eine französische Neufassung mit der obligatorischen Balletteinlage durchzusehen, entdeckte er dort so manche Passagen, die ihm, obwohl er das Werk selbst sehr schätzte, keinesfalls mehr gefielen: »Bei der Lektüre dieser Musik bin ich auf Dinge gestoßen, die ich gar nicht finden wollte. Um es klipp und klar zu sagen: Es sind verschiedene Stücke schwach oder, was noch schlimmer ist, ohne Charakter«, so Verdi im Originallaut. Und da eine Musik ohne Charakter den Grundsätzen von Verdis operndramatischer Arbeit widersprach, kam er nicht umhin, Hand an den Notentext zu legen.

Ein Viertel bis ein Drittel der »Macbeth«-Partitur hat Verdi in mühseliger Kleinarbeit transformiert: neben den recht opulenten Ballettszenen im dritten Akt u. a. die Arie der Lady im zweiten sowie umfangreichere Partien im vierten Akt, wie etwa den Chor der Flüchtlinge, die Schlacht zwischen den Heeren und ihren Protagonisten sowie das eigentliche Finale, das nunmehr mit einem martialischen Chor schloss. Es ist diese Fassung, jedoch in der originalen italienischen Sprache und unter Beibehaltung vieler ursprünglicher Ideen, die auf den Opernbühnen der Welt Fuß gefasst hat – nicht zuletzt auch aus dem Grund, damit ein Stück des »reifen Verdi«, der kurz vor der Komposition seines »Don Carlo« steht, verfügbar zu haben, das als anerkannt und »vollgültig« innerhalb seines Schaffens steht.

Trotz zahlreicher Änderungen im Tonsatz wie in der Instrumentation ist die Pariser Version eindeutig auf eine Leitlinie Verdis bezogen und dieser verpflichtet, die von Anfang an von entscheidender Bedeutung war. Francesco Maria Piave teilt er im Herbst 1846, noch bevor er überhaupt eine Note zu seinem neuen Stück geschrieben hat, mit, dass er den allgemeinen Charakter und die Farben (»tinte«) bereits fertig entworfen habe. Etwas sehr Individuelles, Shakespeares bewundertem Drama unbedingt Adäquates, wünschte er seiner Musik beizugeben, im Sinne einer spezifischen Tönung des Klanges, die vom ersten Moment eine besondere musikdramatische Kraft innewohnen und entfalten sollte. Auf die literarische Vorlage selbst, »The Tragedy of Macbeth« war ein möglichst enger Bezug zu nehmen, während dem Libretto eher die Aufgabe zukam, Mittel zum Zweck zu sein, den »Geist Shakespeares« eindringlich zu reflektieren und in die Oper eingehen zu lassen, bruchlos und unmittelbar –schon aus diesem Grunde musste Verdi daran gelegen sein, sich ein höheres Maß an gestalterischer Freiheit als sonst einzuräumen.

Das Dunkle, Düstere, Schreckliche war dabei der Grundton, gleichsam das Zentralmoment, die Identität und den Charakter des Werkes zu stiften. Schon Verdis Zeitgenossen konnte das nicht verborgen bleiben, den nachfolgenden Generationen kaum weniger. So brachte der eminente britische Verdi-Forscher Julian Budden dieses gewiss entscheidende Merkmal der »Macbeth«-Partitur zur Sprache: »Keine frühe Oper weist einen solchen Reichtum an Moll-Tonarten auf, nirgends ist die Düsternis des Nordens mit instrumentalen Mitteln so kraftvoll beschworen worden.« Und in der Tat: Nirgendwo gibt es so viele prägnante Stellen, bei denen neben dem »traurigen« Tongeschlecht tiefschwarze Klangfarben Verwendung finden. Auf das Preludio ist schon hingewiesen worden; darüber hinaus sind größere Teile der Hexenszene im ersten und dritten Akt – insbesondere die Auftritte vor den Gesangspassagen – davon erfüllt. Im zweiten Akt sind die beiden Soloszenen der Lady (»La luce langue«) sowie des Banquo (»Come dal ciel precipita«) offenkundige »Nachtstücke«, in finsterem e-Moll beginnend, beide jedoch in aufgehelltem, durchaus leuchtkräftigem E-Dur endend. Der Chor des Erschreckens über den Mord an König Duncan im ersten Akt bricht mit gewaltigen b-Moll-Klängen im Fortissimo los (»Schiudi, inferno«), während der Chor der Flüchtlinge zu Beginn des vierten Akts (»Patria oppressa«) in a-Moll gehalten ist, mit scharf konturierten Gesten des Klagens und dem Ausdruck schier auswegloser Traurigkeit.

Auch Macbeth selbst, Titelgestalt und Antiheld, ist unverkennbar in die Moll-Sphäre gezogen. Seine letzte Soloszene (»Mal per me«), sein Sterben und seinen Tod beinhaltend, aus der Florentiner Fassung von 1847 in unsere neu erarbeitete Staatsopern-Aufführung übernommen, ist ein ebenso abgründiges wie trostloses Fazit eines gescheiterten Lebens, das nichts als Unheil gebracht und zurückgelassen hat. Tiefes Holz und Blech grundieren ein düsteres, gänzlich schmucklos gehaltenes f-Moll-Parlando mit einem letzten verzweifelten Ausbruch – durchaus folgerichtig endet das Werk in der gleichen Tonart, mit der es begonnen hatte.

Die sichere Hand des mit bemerkenswertem Bühneninstinkt begabten jungen Verdi zeigt sich hier, dem als gereifter Musikdramatiker zwar spürbar differenziertere Gestaltungsoptionen zu Gebote standen, aber nicht unbedingt ein Mehr an elementarer theaterpraktischer Wirksamkeit. Schon in der Ursprungsfassung fällt der sorgsame Umgang mit den Timbres der Orchesterinstrumente auf, insbesondere der nuancierte Einsatz der Bläserfarben, tendenziell in tiefen Lagen, um das »Dunkle« – im direkten wie im übertragenen Sinn – entsprechend hervorzukehren. In der »Großen Szene der Erscheinungen« (»Gran Scena delle Apparizioni«) treten diese Charakteristika in der gedämpften Bühnenmusik zutage, vor allem aber in zwei Nummern, die Verdi stets als Hauptstücke seiner Oper verstanden wissen wollte, die »Gran Scena e Duetto« von Macbeth und der Lady im ersten Akt sowie die Schlafwandelszene (»Gran Scena del Sonnambulismo«) im vierten Akt, wo die Lady von ihrer Kammerfrau und dem Arzt in ihrem seltsam verwirrten, wahnhaften Zustand beobachtet wird: Beide zeichnen sich durch ein besonderes Klangbild aus, das bestimmt wird durch sordinierte Streicher und einen genau gewählten Bläserapparat aus Klarinetten, Englischhorn, Fagotten, Hörnern und Posaunen. Beides sind ausgeprägte »Nachtszenen«, denen Verdi ein stimmiges klangliches Ambiente beigeben wollte, beide im Übrigen kaum zufällig über weite Strecken in f-Moll stehend. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Orchester dazu angehalten, äußerst leise und zurückhaltend zu spielen, während die Sänger des Macbeth und der Lady allenfalls mit halber Stimme, »sotto voce«, zu agieren haben. Kein Belcanto soll hier gepflegt werden, sondern ein punktgenau auf das Wort und die Situation bezogenes Deklamieren mit fahlem, gleichsam verschleiertem Klang. Schon die Protagonisten der Florentiner Uraufführung hat Verdi auf dieses Ideal eingeschworen, sich dessen bewusst seiend, dass er hier mit allgemein gültigen Erwartungshaltungen brach, da ein Einsatz von »schönen Stimmen« im Grunde zu den Selbstverständlichkeiten der Opernkultur gehörte, zumal in Italien.

Unkonventionell ist auch die Stimmkonstellation, für die sich Verdi entschieden hatte: Dem Tenor wurde eine weniger wichtige Rolle – Macduff – zugewiesen, während der Bariton als besonders profilierte Haupt- und Titelfigur auftritt. Auch die Lady ist nicht unbedingt eine »klassische« Sopranpartie, sondern eine sehr individuell konzipierte, durchaus facettenreiche Gestalt: Die Tatsache, dass diese Rolle in Geschichte und Gegenwart immer wieder auch von Mezzosopranen mit sicherer Höhe und Durchschlagskraft anvertraut und von ihnen überzeugend gesungen wie verkörpert wurden, spricht dafür. Der Zug ins Abgedunkelte, nicht nur im Orchester, sondern auch bei den Singstimmen, ist jedenfalls unverkennbar.

Schließlich sind es Figuren selbst, die den Schrecken artikulieren, von »terror«, »orror« und anderem singen – was angesichts der Geschehnisse, die sie erleben und der Situationen, in die sie geworfen werden, kaum verwundern kann. Macduff ist dieser Schrecken bei der Entdeckung des Mordes an Duncan ebenso in die Stimme gefahren wie Banquo, der in tiefschwarzer Nacht um sein Leben fürchtet. Kammerfrau und Arzt fühlen lähmenden Schrecken, wenn sie, gleichwohl nicht zum ersten Mal, mit der Gegenwart der schlafwandelnden Lady konfrontiert werden. Und auch Macbeth, der große Schreckensstifter und -verbreiter, bleibt davon nicht verschont: Nach seiner ersten, alle Dämme von Moral und Mitgefühl brechen lassenden Mordtat ergreift ihn das Grauen ebenso wie beim Anblick des wirklich-unwirklichen Defilées der zukünftigen Könige im dritten Akt, die Banquo, aber nicht ihn, den mit Blut und Schwert Herrschenden, zum Ahnvater haben. Das Triumphgefühl, dass ihm niemand etwas anhaben könne, dass Leib und Leben sicher seien, verkehrt sich unverhofft ins Gegenteil und lässt ihn das Schlimmste befürchten. »Oh! Mio terror!« – der Schrecken wird ihm von nun an zum ständigen Begleiter werden, noch stärker als zuvor und mit unausweichlicher Konsequenz, bis zum eigenen, so überharten, gänzlich hoffnungslosen Tod.

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