Von der Geschichte zum Mythos oder: Wer war Macbeth wirklich?

Etwa 500 Jahre nachdem Shakespeare 1605/06 »The Tragedy of Macbeth« niederschrieb, hat sich Macbeth zu einem der Archetypen entwickelt, die sich tief in das Bewusstsein des modernen Menschen eingeprägt haben. Macbeth zählt zu jener Gruppe von archetypischen Figuren, wie z. B. Don Giovanni und Faust, von denen man weiß, dass sie wirklich gelebt und eine konkrete Rolle in der Geschichte gespielt haben, anders als z. B. Odysseus oder Hamlet. Aber der Weg von der Geschichte zum Mythos lässt diejenigen, die ihn zurücklegen, nicht unverändert.

Was die Historiker uns über Macbeth berichten, ist einigermaßen undeutlich: Die verschiedenen Quellen widersprechen einander, was eigentlich nicht besonders verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die Geschichte der schottischen Monarchie eine der verworrensten ist, die man kennt.

Um 1005 wurde Macbeth geboren. Sein Stammbaum ist nicht vollkommen verlässlich zu rekonstruieren, aber sicher ist, dass er eng mit der königlichen Familie verwandt war – insbesondere mit Kenneth III. (König von 997 bis 1005) und mit dessen Mörder und Nachfolger Malcom II. (König von 1005 bis 1034), die die beiden wichtigsten Familienzweige repräsentieren. 1033 heiratete Macbeth Gruoch, die Tochter von Kenneth III., die ein Kind namens Lulach aus ihrer ersten Ehe mit Gillacomgain mitbrachte. In Raphael Holinsheds »Chronicles of England, Scotland, and Ireland«, deren zweite Ausgabe (1587) eine der wichtigsten Quellen für viele von Shakespeares Theaterstücken war, wird jene Lady Macbeth als »sehr ehrgeizig«, brennend vor Verlangen nach dem Titel der Königin« beschrieben.

1034, nachdem Malcom II. alle männlichen Nachkommen von Kenneth III. getötet hatte, bestieg dessen Enkel Duncan I. (der Sohn von Kenneth‘ Tochter) den Königsthron.

Dessen Herrschaft wird von Holinshed als nicht durchsetzungsfähig beschrieben: »Der Beginn von Duncans Herrschaft war sehr friedlich, ohne nennenswerte Unruhen; doch als sich herausstellte, dass er die Bestrafung von Missetätern vernachlässigte, nutzten viele Aufrührer die Gelegenheit, Ruhe und Frieden des Gemeinwesens zu stören.« Macbeth sah es als seine wichtigste Aufgabe an, wieder Ruhe ins Land zu bringen, und war darin, wenn auch auf blutige Weise, erfolgreich:

»Als Macbeth in Lochquaber einmarschierte, versetzte die Nachricht von seinem Kommen die Feinde in solche Furcht, dass viele von ihnen ihren Anführer Macdowald heimlich verstießen, der gezwungendermaßen mit den ihm verbliebenen Männern Macbeth dennoch eine Schlacht lieferte. Er wurde jedoch besiegt und floh zu seinem Schutz in die Burg, in der seine Frau und seine Kinder eingeschlossen waren. Als er schließlich sah, dass er die Festung nicht länger gegen seine Feinde halten konnte und dass man ihn im Fall der Übergabe nicht mit dem Leben davonkommen ließe, tötete er zuerst seine Frau und Kinder und dann sich selbst, damit er nicht, hätte er sich einfach ergeben, auf grausamste Weise und als Abschreckung für andere hingerichtet würde. Als Macbeth durch die alsdann geöffneten Tore der Burg einzog, fand er die Leiche Macdowalds unter den anderen Getöteten. Der jammervolle Anblick besänftigte seine grausame Natur nicht, und er ließ ihm den Kopf abschlagen und ihn auf einen Pfahl stecken; dann sandte er ihn dem König als Geschenk. Den kopflosen Rumpf befahl er an einem hohen Galgen aufzuhängen.

Diejenigen von den westlichen Inseln, die um Gnade baten, weil sie Macdowald in seiner verräterischen Unternehmung unterstützt hatten, strafte er durch die Forderung hoher Geldsummen: Und jene, die er in Lochquaber gefangen nahm, die dorthin gezogen waren, um gegen den König die Waffen zu ergreifen, ließ er hinrichten. Deswegen hegten die Inselbewohner einen tödlichen groll gegen ihn und nannten ihn einen Vertragsbrecher, einen blutrünstigen Tyrannen und den grausamen Mörder derer, denen des Königs Gnade vergeben hätte. So wurde durch Macbeths energischen Einsatz Recht und Gesetzt wiederhergestellt.«

Duncan hatte zuvor mehrere erfolglose Feldzüge gegen Northumbria und Durham geführt und vergeblich versucht, die Grenze im Norden des Landes zu sichern. Diese Niederlagen riefen Unzufriedenheit unter den Adligen hervor.

Als Duncan seinem jungen Sohn Malcom den Titel des Prince of Cumberland übertrug, der ihn zum Thronfolger bestimmte, musste Macbeth die Hoffnung aufgeben, selbst König zu werden, eine Hoffnung, die sich auf sein enges Verwandtschaftsverhältnis zur königlichen Familie gründete.

Aber die Legende, von der auch Holinsheds Chronik berichtet, besagt, dass ihm nach einiger Zeit von drei Hexen der schottische Thron prophezeit wurde, woraufhin Macbeth den Entschluss fasste, seinem Schicksal nachzuhelfen, indem er Duncan, seinen König, ermordete, um dessen Titel zu erlangen.

Diese Tat steht im Mittelpunkt von Shakespeares »Macbeth« und ist zum Symbol geworden für den Verrat an Recht und Staat. Wenn man aber die Geschichte Schottlands auch nur überfliegt, wird man schnell gewahr, dass es in der Zeit, in der Macbeth lebte, durchaus üblich war, den Königsthron mit Gewalt zu erobern. Die königliche Familie schied sich in zwei Abteilungen, und wenn die Macht bei der einen lag, besaß der jeweilige Führer der anderen sozusagen das Recht, sich betrogen zu fühlen. Dieses System hatte zur Folge, dass von Malcom I. (943-954) bis zur Herrschaft von Duncan II. (1094) allein zehn Könige bei Machtwechseln getötet wurden.

Macbeth, der später auch von seinem Nachfolger getötet wurde, machte also gewissermaßen lediglich einen berechtigten Anspruch geltend, indem er durch den Mord an Duncan der blutigen Tradition seines Hauses folgte, wie der Chronist Holinshed betont: »Er begann Ratschläge einzuholen, wie er das Königreich durch Gewalt an sich reißen könne. So wie er es verstand, war dies sein gutes Recht, da zuvor Duncan alles ihm Mögliche getan hatte, ihn all seiner Titel und Rechte zu berauben, um Anspruch auf den Thron zu erheben, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet.«

Seine Regierungszeit währte 17 Jahre, von 1040 bis 1057, und wird im Ganzen als erfolgreich bewertet. Innenpolitisch wie auch bei der Sicherung der Grenzen Schottlands hat er sich Verdienste erworben, und er ist der erste König von Schottland, von dem bekannt ist, dass er die Kirche unterstützte. »Nach der Flucht der Söhne Duncans erwies sich Macbeth gegenüber den Edelleuten seines Reiches als sehr freigiebig, um ihre Gunst zu gewinnen. Als sich herausstellte, dass keinerlei Bedrohung von ihnen ausging, konzentrierte er sich auf die Einhaltung von Recht und Ordnung und bestrafte alle ungeheuerlichen Vergehen, die die schwache und träge Führung Duncans ermöglicht hatte […] Er erließ viele nützliche Gesetze und Statuten für das Allgemeinwohl seiner Untertanen.«

1054 marschierte Malcom, der Sohn von Duncan, der bei der Ermordung seines Vaters nach England geflohen war, mit einer großen Armee gegen Macbeth und konnte einen ersten Sieg in Dunsinane erringen. 1057 fand die entscheidende Begegnung in der Nähe von Lumphanan statt, bei der Macbeth getötet wurde. Seine Anhänger riefen dann seinen Stiefsohn Lulach zum König aus, aber auch jener wurde getötet, und Malcom nahm dessen Platz unter dem Titel Malcom III. ein.

Am 7. August 1606 wurde »The Tragedy of Macbeth« vor Englands König James I. in Hampton Court uraufgeführt. Ästhetische, aber auch politische Überlegungen leiteten Shakespeare, als er dieses Drama schrieb. 1603 hatte der König Shakespeares Theatergruppe mit dem Titel »The King’s Men« geehrt, und Shakespeare versuchte im Gegenzug, mit seinem »Macbeth« dem König zu gefallen, was sich außerdem gut mit seinen dramaturgischen Absichten verbinden ließ. So hatte er z. B. die Bedeutung der Hexen, die schon bei Holinshed in den leuchtendsten Farben geschildert wurden, noch verstärkt; denn es war bekannt, dass James I. sich sehr für Okkultismus interessierte. 1597 hatte er sogar ein Buch über dieses Thema, die »Dämonologie«, veröffentlicht.

Shakespeare entfernte sich an verschiedenen, wichtigen Stellen von seiner Quelle, den »Chronicles« von Holinshed, um den König in besserem Licht erscheinen zu lassen. Der größte Unterschied zwischen Holinshed und Shakespeare betrifft die Rolle, die Banquo bei der Ermordung Duncans spielt. Tatsächlich scheint Banquo die vorteilhafte Erfindung eines schottischen Historikers – vermutlich Hector Boece in seinem »Scotorum Historiae« von 1527 – gewesen zu sein. Banquos Name taucht dort zum ersten Mal auf – wahrscheinlich, um den Stuarts eine edle und traditionsreiche Herkunft anzudichten.

Während bei Holinshed Banquo der Komplize von Macbeth ist […], ist er bei Shakespeare ein unschuldiger Vorfahre von James I., der Macbeths Taten verurteilt. Dramaturgisch erlaubte diese Lösung Shakespeare einen starken Kontrast zwischen Banquo, der der Versuchung durch die Hexen widersteht (die ihm prophezeien, dass er Vater von Königen sein werde), und Macbeth, der den Mächten des Bösen erliegt und Banquos Tugend fürchtet.

Die Wirksamkeit dieses Kontrasts wird durch das Betonen des Verwerflichen von Macbeths Handeln noch verstärkt (Shakespeare griff zu diesem Zweck auf einen andere Stelle der »Chronicles« zurück, in der Holinshed den Mord von König Duff durch Donwald beschreibt): Sein Anspruch auf den Thron bleibt unerwähnt, er ist stark und jung, während Duncan alt und schwach ist, er ermordet den legitimen König, der herrscht, um seinem Volk zu dienen – James hatte 1598 in seinem »Basilikon Doros« den Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Regentschaft erklärt –, nur um sich seine tyrannische Macht zu erhalten. Schließlich ermordet Macbeth nicht nur einen König, sondern auch jemanden, der sein Gast war und voll Vertrauen in sein Haus einkehrte.

Was den »echten« Macbeth und Gruoch alias Lady Macbeth betrifft, ist es nicht einfach zu beurteilen, ob man sie nun um ihren Werdegang von der historischen Figur zum Mythos beneiden oder beklagen sollte: Was auch immer sie in ihrer historischen Wirklichkeit – auch an Positivem – vollbracht haben mögen, war dennoch nicht von der Tragweite, dass es über die Erwähnung einiger Zeilen in dem ein oder anderen Geschichtsbuch hinausgegangen wäre. Aber die Verwandlung, die diese beiden Figuren durch Musik und Literatur erfuhren, auch wenn sie dabei zu viel schwärzeren und gewalttätigeren Charakteren umgestaltet wurden, führte dazu, dass sie auch heute noch von einer starken und faszinierenden Aura umgeben sind – und sich zu einem Symbol entwickelten für zwei Phänomene, die in unserer Realität nach wie vor lebendig sind: das unstillbare verlangen nach Macht und die Verbrechen einer Schreckensherrschaft.

Text von Elli Stern

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