Raum als Geheimnis zu sich selbst

Ab dem 25. Mai 2019 ist »Pelléas et Mélisande« in der Inszenierung von Ruth Berghaus wieder in der Staatsoper Unter den Linden zu sehen. Dramaturg Benjamin Wäntig hat im September 2018 – 27 Jahre nach der Premiere – mit Bühnenbildner Hartmut Meyer über die Inszenierung gesprochen.

Nach einer längeren Pause, bedingt durch den Umzug der Staatsoper ins Schiller Theater, steht »Pelléas et Mélisande« nun wieder auf dem Spielplan der Staatsoper. Dass eine Inszenierung so lange gespielt wird, ist für die beteiligten Künstler doch ein eher seltener Fall, oder?

Von meinen Arbeiten fällt mir nur ein einziger weiterer Fall ein: der »Tannhäuser«, den Peter Konwitschny und ich 1997 an der Semperoper erarbeitet haben und der bis heute gespielt wird. Als Theatermensch, im Unterschied zum Film also, wo Aufzeichnungen problemlos konserviert werden können, liegt mir diese Vorstellung eigentlich fern. Theater ist ein sehr schnelllebiges und auch schnell veraltendes Medium. Während meines Studiums an der Kunsthochschule Weißensee haben wir immer mit den Architekturstudenten, die ein Stockwerk über uns saßen, darüber diskutiert, dass der wahre Sinn der Kunst darin liegt, dass sie vergänglich ist. Man kann sie nicht für die Ewigkeit festhalten. Das sahen die Architekten natürlich anders.

Ein Kunstwerk ist ja auch immer Ausdruck eines bestimmten historischen Momentes, in dem es entstanden ist. Trotzdem gibt es jüngst in der Opernwelt die Tendenz, bestimmte wichtige historische Inszenierungen zu rekonstruieren, wie etwa Heiner Müllers Bayreuther »Tristan und Isolde«.

Das ist ein Phänomen. Der Theaterapparat funktioniert ja normalerweise anders: Man nimmt Stücke solange wieder auf, wie man mit Zuschauern rechnen kann. Natürlich freut man sich als Künstler, wenn sich ein Stück mehrere Spielzeiten gespielt wird. Doch eine Wiederaufnahme nach 20, 30 Jahren stellt vor ganz andere Herausforderungen. Im Unterschied zum Bühnenbild, das sich konservieren lässt, muss man ja eine ganz neue Besetzung finden und einarbeiten. Das ist ein bisschen wie Theatermuseum, aber natürlich live nachgespielt.

Ohne eine persönliche Kontinuität, in unserem Fall durch unsere langjährige Spielleiterin Katharina Lang, die an der Premierenserie von »Pelléas et Mélisande« mitgearbeitet hat und nun die szenische Einstudierung der Wiederaufnahmen übernimmt, wäre das kaum möglich; zu viel von der Inszenierung würde verloren gehen. Es gibt ja überhaupt nur wenige Ruth-Berghaus-Inszenierungen, die noch gespielt werden.

Und der »Freischütz«, den wir gemeinsam in Zürich gemacht haben, ist ihre einzige Inszenierung, die als Videoaufzeichnung vorliegt. So gesehen gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten, ihre Arbeiten zu sehen.

Wie hat sich denn für Sie die Zusammenarbeit mit Ruth Berghaus gestaltet?

Ruth Berghaus hat in meinem künstlerischen Leben eine große Rolle wie nur wenige andere, Frank Castorf etwa, gespielt. Auch wenn wir beide aus der DDR stammen, haben wir uns nicht – wie es naheliegend wäre – hier kennengelernt, sondern in Basel. 1989 habe ich dort mit Castorf Sophokles’ »Aias« auf die Bühne gebracht. Zur selben Zeit suchte Ruth Berghaus für ein Projekt dort nach einem neuen Bühnenbildner, nachdem die, mit denen sie sonst zusammenarbeitete, aus Termingründen abgesagt hatten. Auf der Suche sah sie Bilder meiner Bühne zu »Aias« und so kamen wir ins Gespräch. Wie auch Castorf suchte sie nach eigenwilligen und eigenständigen Künstlern. Was sie von einem Partner erwartete, war, dass der mit seiner Bühne eine starke Setzung vornahm, also weit mehr war als nur ein Erfüllungsgehilfe ihrer Ideen. Über das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, war ich sehr gerührt. Sie war immerhin eine berühmte Regisseurin, ich dagegen hatte gerade meine Anfänge an der Volksbühne. Aber so kam ich dazu, nach »Pelléas« auch die Bühnenbilder zu weiteren ihrer Arbeiten zu entwerfen, auch für ihre letzte Inszenierung, Rolf Liebermanns »Freispruch für Medea« in Hamburg.

Was Ihre »Pelléas«-Inszenierung auszeichnet, ist die latente Bedrohung, das permanente Gefühl des Unwohlseins. Das transportiert sich über die Bühne, die unbequemen Haltungen, die die Sänger beispielsweise auf der Kugel oder auf der Treppe einnehmen müssen. Wie kam es zu diesem Konzept?

Bühnenbilder, die den Darstellern eine bestimmte Körperlichkeit ermöglichen, hatte ich auch schon vorher gemacht. Das was sicherlich für Ruth Berghaus, die ja vom Tanz kam, einer der Gründe, auf mich zuzukommen. Natürlich haben wir im Vorfeld von »Pelléas« über die Figuren, die Musik gesprochen. Die Beschaffenheit des Raumes war aber keine explizite Vorgabe von ihr. Überdimensionierte Schrägen, steile Treppen gab es auch in anderen Arbeiten.

Also war das eher eine gemeinsame ästhetische Schnittmenge zwischen Ihnen beiden ?

Für mich dienen Bühnenräume keiner realistischen Bebilderung oder Verkleidung. Der Theaterraum ist an und für sich schon ein Kunstraum, den ich als Bühnenbildner noch erhöhe. Es entsteht eine Raumskulptur, ein Objekt, das wie ein Ausstellungsstück im Museum Vorder- und Rückseite hat.

Das Ganze erklärt sich oder eben nicht, der Raum verhält sich als ein Geheimnis zu sich selbst – eine Prämisse aus der klassischen Moderne.

Das hat Ruth Berghaus auch so gesehen. Was ich ihr hoch anrechne: Auch bei technischen Schwierigkeiten mit dem Bühnenbild, die häufig erst im Probenprozess ergeben, hat sie nie Änderungen verlangt, sondern ganz im Gegenteil versucht, mit diesen Problemen inszenatorisch umzugehen. Das ist bei anderen Regisseuren nicht so, manchmal kommt man sich als Bühnenbildner ein bisschen wie ein Dienstleister vor … Ihr Credo war, alle Ebenen des Theaterabends als Kunst zu denken, einzeln für sich genommen und im Zusammenhang. Darin war sie eine moderne Künstlerin.

Wie erinnern Sie sie bei der konkreten Arbeit im Theater?

Mit dem Abstand von so vielen Jahren werde ich mir da über vieles klarer. Sie hatte etwa den Ruf, mitunter auch berserkerhaft sein zu können. Dazu muss man anmerken, dass sie aus einer Zeit kam, in der es überhaupt nicht selbstverständlich war, dass Frauen inszenierten. Sie hat das allerdings nie aus einer feministischen Perspektive thematisiert. Aber sie hat sich im Theater eine männliche, harte Seite zugelegt, auch wenn sie privat eine mütterliche, sanfte Frau war. Wenn sie jedoch die Bühne betrat, wurde ihre Stimme immer tiefer.

Kommen wir nochmal auf Ihre »Pelléas«-Bühne zu sprechen: Bei Debussy sind viele verschiedene Räume – Wald, Garten, verschiedene Räume im Schloss, Katakomben – vorgeschrieben, die aber doch alle sehr ähnlich sind: durch ihre unterschwellige Bedrohlichkeit, durch das Verlorensein der Figuren darin. Sie haben für die vielen Szenenwechsel eine Drehbühne gewählt. Aber im Grunde genommen handelt es sich um Verwandlungen des immer selben Raumes.

Ruth Berghaus’ und meine damalige Ästhetik passt auf sehr natürliche Weise zur Wahrnehmung von Welt in »Pelléas et Mélisande«, da unser Theatermaterial per se schon so geheimnisvoll ist. Der in sich kreisende »Pelléas« ist ein Paradebeispiel für etwas, was nicht beschreibbar ist, sondern nur zu erahnen. Man kann diese Geschichte nicht auflösen. Aber gerade die Offenheit bedingt die kompakte, dichte Inszenierung. Die Musik gibt natürlich die größten Impulse für die Bilderwelten.
Debussys Musik ist magnetisch, sie fordert Assoziationen heraus.

Kennzeichnend sind auch vor allem die klaren Klangfarben der Partitur: Manche Szenen sind durchweg sehr tief instrumentiert, andere ätherisch hoch. Mir scheint, als hätten Sie mit dem vorherrschenden Dunkel-Violett oder der gleißend hellen gelben Treppe dafür Entsprechungen in der Farbgebung der Bühne und im Licht gesucht.

Soweit ich mich entsinne, folgte das Licht, das wir gemeinsam gemacht haben, keinem übergeordneten formalen Konzept, sondern entsprang eher den einzelnen Situationen. Ruth Berghaus hat viel mit Zufällen gearbeitet, gerade beim Licht. Auch hier waren ihr Bewegung und Übergänge wichtig, heute würde sie wahrscheinlich mit Moving Lights Theater machen. Ohne nur strenge Formkonzepte zu bemühen, ging es ihr nicht um eine realistische, sondern eine bewusst künstlerisch und künstlich gestaltete Ebene.

Daraus entsteht Authentizität.

Sie war der Überzeugung, dass jeder einen solchen Theaterabend ganz unmittelbar verstehen könne. Die Suche nach Authentizität, die heute verschiedene Theaterströmungen antreibt, war ihr fremd: Wir müssen keine Angst vor Kunst haben, es sei denn, sie erklärt uns für blöd. Sie muss ehrlich gemeint sein. Deshalb gehen Ruth Berghaus’ Arbeiten direkt ins Blut. Man braucht keine intellektuelle Enträtselung: In »Pelléas et Mélisande« hat Debussy einen menschlichen Zustand komponiert, und den haben wir in Bilder übersetzt.

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