Requiem in zerbrochenen Spiegeln
Autor Stefan Horlitz über Mozart und Salieri und darüber, »was der Mensch dem Menschen antun kann«.
Im Sommer 1897 hatte Nikolai Rimsky-Korsakow die Arbeit an seinem Opus magnum Sadko abgeschlossen. Was mit einem selbstgeschriebenen Libretto, musikethnologischen Studien an altrussischen Bylinen und Tänzen und dem Konzept einer Verschränkung von Sinfonischer Dichtung und Musiktheater begonnen hatte, uferte zu einem gewaltigen Projekt aus, das nichts weniger als die Schaffung einer sowohl volkstümlichen als auch brillant-artistischen russischen Volksoper projiziert hatte. Der Komponist berichtet in seinen Memoiren, dass nach diesem Einschnitt drei Aspekte in den Vordergrund rückten: Gattungsfragen, Konzentration auf neue Wege in der Behandlung von Vokalität, dies vereint vor dem erneuerten Anspruch an eine gewisse Freiheit im Schaffen, welche durchaus auch in einem experimentellen Sinne zu verstehen ist. In den Fokus rücken zunächst einmal wieder Lieder bzw. Romanzen, eine Gatttung, welche der Komponist längere Zeit nicht gepflegt hatte. »Außerdem entwarf ich eine kleine Szene aus Puschkins Mozart und Salieri (den Auftritt Mozarts und einen Teil seines Gesprächs mit Salieri), wobei mir als erstes, ähnlich wie vorher die Liedmelodien, das Rezitativ frei und ungezwungen aus der Feder floss. Ich wurde mir bewusst, dass ich in eine neue Schaffensperiode eintrat und im Begriff war, mir eine musikalische Handschrift anzueignen, welcher ich mich vordem nur zufällig und ausnahmsweise bedient hatte.«
Mozart und Salieri wurde am 7. Dezember 1898 in Moskau mit Fjodor Schaljapin uraufgeführt. Merkwürdig randständig wirkt diese Kammerszene inmitten der phantastischen Mythen und Sagen, die Rimsky-Korsakows Werk prägen: keine Feen, keine Zauberer, keine großen Volksszenen, sondern ein finsteres Kammerspiel, in welchem ein Künstler nach zerquältem Sinnieren einen anderen Künstler tötet und nicht einmal der Tod selbst auf der Bühne zu sehen ist.
Alexander Puschkins wenigen dramatischen Texte haben jedoch eine tiefe Wirkung in der russischen Oper gezeigt. Hatte Modest Mussorgsky den Boris Godunow komponiert und Alexander Dargomyzhsky den Steinernen Gast als Vorlage zu einem geradewegs revolutionären Konzept der russischen Oper gemacht (beide Werke von Rimsky-Korsakow vervollständigt, bzw. bearbeitet), wählt Rimsky-Korsakow nun aus den verbliebenen dramatischen Werken Puschkins – den Kleinen Tragödien – ein Sujet, das in seiner reduzierten, skizzenhaften und doch geschlossenen Form einen verblüffenden Raum für Experimente geben konnte. Mozart und Salieri ist in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zum Vorgängerwerk, dem monumentalen Sadko, welchen er selbst als bisherigen Höhepunkt seines Schaffens und als Abschluss seiner mittleren Periode betrachtete und einen Komponisten zeigt, der nicht nur sein Handwerk versteht, sondern auch seine immensen technischen Mittel zur meisterhaften Ausgestaltung großer und größter Formen zu verwenden weiß.
Mozart und Salieri muss Rimsky-Korsakow eine Art Befreiung ermöglicht haben. In diesem Moment, in dem nichts mehr zu beweisen ist, nimmt er sich kleine Formen vor: Lieder, Romanzen und schließlich Puschkins Kammerszene. Die Geschichte ist ebenso unwahr wie populär kolportiert – hier der trockene Techniker Antonio Salieri, dem die göttliche Flamme des Genies fehlt und aus Neid den überlegenen Mozart vergiftet. Warum der echte Hofkapellmeister Salieri, allgemein verehrt und von höchstem Ansehen, Mozart ausgerechnet aus Neid hätte umbringen sollen? Ausgerechnet jener Salieri, der sich zu Lebzeiten eines unangreifbaren persönlichen und artistischen Status’ erfreute und im Musikleben Wiens einen legendären, dauerhaften Ruf genoss? Hier überlagert die kriminalistische Fiktion die Rezeption auf in der Tat irrationale Art und Weise. Die fiktive Figur des Salieri überdeckt die historische Künstlerpersönlichkeit bis heute – wie oft sorgen doch auch Gerüchte dafür, dass etwas »hängenbleibt«. Dass im Zuge einer romantischen Mozart-Rezeption handwerkliche Aspekte weit in den Hintergrund gerückt worden sind, ist die andere Seite der Medaille. Dies nur am Rande. Dass der Geniekult um Mozart erst posthum zu voller Entfaltung kommen sollte, mag der historische Salieri möglicherweise noch erlebt haben – zu realen Ereignissen um das Jahr 1790 gibt es kaum Verbindungen, die über Zwistigkeiten in Theatergeschäften, vor allem auch ausgetragen durch Personen aus der zweiten Reihe, hinausgegangen wären.
Die Dichotomie »Handwerkskünstler« versus »gottbegnadetes Genie«, der Antagonismus des singulären, überirdischen Himmelstürmers, der keine artistischen Erben haben kann – dies sind also historisch nicht ernsthaft haltbare Belange, doch geben sie für Puschkin eine hervorragende Konstellation ab, um seine dramatische Miniatur zuzuspitzen. Ein russischer Dichter, der selbst als Ausnahmetalent rezipiert worden ist und dessen Rezeptionskategorien denen Mozarts frappant ähneln – Leichtigkeit, natürliches Talent, Anstrengungslosigkeit – greift einige alte Gerüchte auf, die auf einer ebenso der Romantik verhafteten Literarisierung der vorgeblichen Konkurrenz Salieris und Mozarts beruhen. Beinahe siebzig Jahre später verwendet Rimsky-Korsakow den dramatischen Dialog, um nach einem individuell empfundenen Schnitt in seinem Schaffen einen neuen Ansatz zu finden, in größtmöglicher Freiheit, auch mit der Freiheit, eine Bestimmung der eigenen Position zu unternehmen und vielfach gebrochen sowohl in eine fiktionale Vergangenheit zurückzublicken, als auch den eigenen Ansatz, das eigene Schaffen zu überdenken.
Die Parallelen zu Dargomyzhskys Steinernem Gast sind frappierend: Beide Werke basieren auf einem Text von Puschkin, beide Werke verwenden den Text ohne wesentliche Veränderungen, beide leben von einer rezitativischen Freiheit, deren Ergebnis zur »Wahrhaftigkeit« des Werkes beitragen soll. Und beide Werke sind mit der Person Wolfgang Amadeus Mozart verknüpft – der Steinerne Gast gewissermaßen als gedachte Fortsetzung zum Don Giovanni, Mozart und Salieri als ein dramatischer Kriminal-Essay über künstlerisches Selbstverständnis, Fragen einer Genieästhetik, dem Spannungsfeld von göttlicher Begabung und sorgfältiger Beherrschung des Handwerks. Der Ausgang der vokalen Anlage aus den rhythmischen Schattierungen des Textes ist jederzeit hörbar. Anstatt eine Textvorlage musikalisch auszudeuten, wobei auch die melodische Linie der Gesangsstimme als instrumentaler Gedanke angelegt ist, bemüht sich Rimsky-Korsakow um eine tiefere, gleichsam innere Folgerichtigkeit, indem er die Gesangsmelodie aus der immanenten Prosodie, dem rhythmischen und psychologischen Verlauf des Textes heraus arbeitet. Damit steht er in einem Feld, das in etwa zur gleichen Zeit der Mähre Leoš Janáček bearbeitet und dessen Ergebnisse noch in Arnold Schönbergs Pierrot lunaire aufscheinen.
Warum wird hier vorsätzlich und wohlüberlegt ein Leben ausgelöscht? Ausgangspunkt ist die vorgebliche Ungerechtigkeit, »heiße Liebe, Selbstaufopferung, Arbeit, Sorgfalt und Gebete« – sie führen nicht zwingend zum Lohn der Unsterblichkeit. Salieri spricht von Tugenden, Fleiß, Liebe und Kunst. Er zeigt dabei wahnhafte Züge, ist gar davon besessen, seinen Neid in ein ethisch begründetes, gutes Werk umzudeuten – zur höheren Ehre der Kunst, zum größeren Glück der Menschheit. Denn die Vernichtung des einzigartigen Genies Mozarts erlaubt es der Welt, auf geregelterem Pfade weiterzugehen. Das Eingeständnis des persönlichen und künstlerischen Scheiterns ist es, dass Puschkins Salieri zum Giftmord führt – und selbst im gerechten Mord selbst scheitert Salieri noch, wenn er erkennt, dass Genie und Verbrechen sich ausschließen. Salieri steht nach seiner Tat da wie ein Schachspieler nach einem Pattzug. Er erkennt, dass die Restauration einer Weltordnung, die auf dem Rückzug ist, die Ordnung, um die sein Monologisieren obsessiv kreist, durch das Böse nicht erreicht werden kann.
Es fällt nicht schwer, in dieser Konstellation eine Umkehrung eines weiteren großen Mordes in der russischen Literaturgeschichte zu sehen. Ist nicht Fjodor M. Dostojewskijs Rodion Raskolnikow in Verbrechen und Strafe ebenfalls wie besessen von seinem Recht zu töten? Will Salieri eine, wenn auch wunderbare, Abnormität beseitigen, um seinen Prinzipien zu folgen, hat sich Raskolnikow in der Vorstellung festgefahren, eine große Persönlichkeit zu sein, für die profane Moralvorstellungen a priori nicht gelten. Auch Raskolnikow löst die Dissonanzen in seinem Denken auf, indem er vor sich selbst eine gerechte Ordnung imaginiert. Dass auf dem Weg dahin zwei Frauen sterben müssen, eliminiert er aus seinem Bewusstsein. Auch die scharfsinnigste juristische Begründung vor dem Gericht des eigenen Gewissens hilft ihm nicht. Und auch Salieri wird klar, dass auch sein eigener Weg zu Ende ist, dass mit der Auslöschung des genialen Konkurrenten jeglicher moralische Anspruch auf das Künstlertum zerstört ist.
Zur Vertonung des Stoffes schafft sich Rimsky-Korsakow ein höchst individuelles musikalisches Bezugssystem. In ihrer teils rauhen, andeutungsreichen Faktur bleibt die Partitur ein stimmiges Ganzes. Der Komponist erreicht mithin, trotz der mutwillig reduzierten instrumentalen Mittel, eine bemerkenswerte Expressivität. Er beschränkt sich – auch im Sinne der angestrebten Freiheit – auf eine kleinformatige instrumentale Anlage. Über Bord wirft Rimsky-Korsakow die schillernde, hochdifferenzierte Instrumentation, welche ihm die überwältigenden Effekte von Sadko erlaubt hat – zugunsten einer vergleichsweise minimalistischen Anlage, einer »gelungen[en] und stilistisch konsequent[en] Improvisation im Mozart’schen Geist«, wie er schreibt. Pasticheartige, historistische Spielereien im Geiste eines idealisierten Rokoko kann man dieser Partitur nicht attestieren und doch verknüpft Rimsky-Korsakow sein eigenes Idiom mit Signaturen einer entlegenen Epoche – den klassizistisch gleichmäßigen Achtelbewegungen, die Verzierungen – Triller und Doppelschläge – und einem klar konturierten Orchesterklang.
In diesen Rahmen sind die echten Brüche freilich besonders augenfällig, natürlich mit der Einflechtung von Zitaten aus Mozarts Werken. Der blinde Geiger, der »Voi che sapete« aus Le nozze di Figaro in einer haarsträubenden Version, mit schnarrenden Bordunsaiten und wüster Artikulation zum besten gibt, ist hier zunächst zu nennen. Die absichtliche Kunstlosigkeit wird zu einem musikdramatischen Element, das Salieri aus seinem Brüten zum Handeln führt. Schmerzhaft machen die Klänge ihm bewusst, dass Mozart seines Genies selbst nicht würdig ist. Dabei ist es Mozart, der an seiner Arie auch in der verzerrten Gestalt des volkstümlichen Wirtshausschlagers größte Freude hat und der den blinden Geiger bezahlt. Humanität trifft hier auf ein idealisierendes Selbstbild, das schließlich im Mord kulminiert. Ein geradezu geisterhafter Schauereffekt gelingt dem Komponisten, wenn er aus Puschkins Regieanweisung »er geht zum Pianoforte … er spielt [aus dem Requiem]« einen intensiven, magischen Moment schafft. Zu der diegetischen Musik, die Mozart auf der Szene spielt, treten kleine Akzente des Orchesters und schließlich, ad libitum, ein unsichtbarer Chor hinter der Szene. Unerklärliche, jenseitige musikalische Erfahrung oder ein Streiflicht in Mozarts künstlerische Imaginationskraft – dazu eine Antizipation des nahenden Endes. Fertig sei sein Requiem, spricht Mozart, was den Tatsachen natürlich nur soweit entsprechen kann, nähme man an, dass es im Kopf bereits vollendet gewesen wäre. Konzentriert und konsequent agiert Rimsky-Korsakow auch in einem beschränkten Rahmen mit erstaunlicher Souveränität und einem Maximum an Dramatik. Man ist versucht, von einer frühen Form der Polystilistik, dem Nebeneinander unterschiedlicher zeitlicher musikalischer Schichten, zu sprechen, die spätestens in den 1950er Jahren gerade für sowjetische Komponisten wie besonders Alfred Schnittke einen vielversprechenden Weg in die Moderne gezeigt hat.
Parallelen mag man auch zu Rimsky-Korsakow selbst erblicken. Als Lehrer und Komponist war er uneingeschränkt angesehen und doch haftete ihm lange Zeit der Ruf eines akademischen Technikers an. Der Bearbeiter von singulär genialen Werken, das Glätten der Mussorgsky’schen Rauh- und Gebrochenheiten im Sinne einer klassischen, gezähmten Kunst: auch dies hat zu einer gewissen Fragwürdigkeit seines Rufes beigetragen, der das Urtümlich-geniale gegenüber dem Ausgefeilten und technisch Perfekten bevorzugt. Vielleicht ist im Bilde des erfundenen Salieri doch aus einem leicht verschobenen Blickwinkel ein ironisches Selbstportrait zu finden. Durch fiktionale Konstellationen, durch luftig-leichtes Spiel mit Stilen, historischen Bezügen, Literatur und Kunstphilosophie bleibt aber doch die existenzielle Frage danach, ob und wenn ja, warum der Mensch töten darf.
Wer letztlich die Widmung »Den Opfern des Faschismus und des Krieges« über die Partitur von Dmitri Schostakowitschs 8. Streichquartett aus dem Jahre 1960 gesetzt hat, lässt sich auch mit einem nicht entlegenen zeitlichen Abstand kaum klären. Fest steht, dass es noch im selben Jahr zum Gedenken aufgeführt wurde und sich als eines der meistgespielten Werke Schostakowitschs etabliert hat. Schostakowitschs Leben war zu diesem Zeitpunkt von äußeren Zwängen, einer schmerzhaften Erkrankung der Nerven und einer Depression geprägt. Da er für das Amt des Vorsitzenden des russischen Komponistenverbandes vorgesehen war, sah er sich gezwungen, in die KPdSU einzutreten; für den Komponisten eine moralische Kapitulation. Eigentlich hätte Schostakowitsch bei Dresden zunächst die Filmmusik zu Fünf Tage – fünf Nächte vollenden sollen, einem Kriegsfilm vor dem Hintergrund der Zerstörung Dresdens im Februar 1945. Am Ort der Zerstörung entstand zunächst jedoch ein ganz anderes Werk.
»Ich habe ein niemandem nützendes und ideologisch verwerfliches Quartett geschrieben. Ich dachte darüber nach, dass, sollte ich irgendwann einmal sterben, kaum jemand ein Werk schreiben wird, das meinem Andenken gewidmet ist. Deshalb habe ich beschlossen, selbst etwas Derartiges zu schreiben. Man könnte auf seinen Einband auch schreiben: Gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts«, schreibt Schostakowitsch in einem Brief an Isaak Glikman. »Gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts« – ein Epitaph, ein Requiem für sich selbst. An die Stelle »der Opfer von Krieg und Faschismus«, die nach einem berüchtigten Diktum Stalins keine Tragödie, sondern eine Statistik in jenem Jahrhundert der Massaker und Kriege, der Entmenschlichung, eines janusköpfigen technischen Fortschritts darstellen, an diese Stelle tritt also ein einzelnes Subjekt, das um sich selbst trauert. Schostakowitsch verfolgt also im Verborgenen, hinter der offiziellen Trauergeste, ein anderes, viel stärker auf das Individuum gerichtetes Denken.
»Grundlegendes Thema des Quartetts sind die Noten D. Es. C. H., d.h. meine Initialen (D. Sch.). Im Quartett sind Themen aus meinen Kompositionen und das Revolutionslied ›Gequält von schwerer Gefangenschaft‹ verwandt. Folgende meiner Themen: aus der 1. Symphonie, der 8. Symphonie, aus dem Klaviertrio, dem Cellokonzert, aus der Lady Macbeth. Andeutungsweise sind Wagner (Trauermarsch aus der Götterdämmerung) und Tschaikowsky (2. Thema des 1. Satzes der 6. Symphonie) verwandt. Ach ja: Ich habe noch meine 10. Symphonie vergessen. Ein netter Mischmasch. Dieses Quartett ist von einer derartigen Pseudotragik, dass ich beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe, wie man Wasser lässt nach einem halben Dutzend Bieren. Zu Hause angekommen, habe ich es zweimal versucht zu spielen, und wieder kamen mir die Tränen. Aber diesmal schon nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern auch wegen meines Erstaunens über die wunderbare Geschlossenheit seiner Form.«
Pseudotragik? Der Höreindruck des Quartetts ist zunächst einmal von seiner unmittelbaren Zugänglichkeit und dem Gestus der Auflehnung und Aggression in den Mittelsätzen gekennzeichnet. Das reine Gefühl entwertet der Komponist mit seiner Aussage vollständig. Das D.-Sch.-Thema als werkübergreifendes Strukturelement überlagert sich zu Beginn in einer Art freien Fugato beständig selbst. Schostakowitsch schreibt dem Anfang dadurch auch eine historisierende Dimension ein, die vierhundert Jahre zurückverweist: Ein chromatisches Solo über fahl schimmernden Liegetönen, musikalischer Topos von Verlorenheit und Einsamkeit, aus dem immer wieder, teils in verstörendem espressivo, das D.-Sch.-Motiv dringt. Zur offiziellen Widmung ist diese Anlage, die kaum anders als ein musikalisches Spiegeln und Positionieren des im Sinne einer Meditation über das eigene Selbst zu lesen ist, freilich verstörend querständig. Der große äußere Gestus verträgt sich kaum mit der Introspektion, die diese Musik prägt. Aus dem Largo brechen zwei überbordende Sätze hervor, um wieder in Stillstand zu versinken. Die getragen-resignative Stimmung des ersten Satzes weicht einem aggressiven Perpetuum Mobile, dem wütenden Rasen des Allegros. Man ist mit maschinenhaft monotonen, dann immer unregelmäßigere überraschende Einschläge im dreifachen sforzatissimo konfrontiert, die sich schließlich auf Äußerste verdichten. Eine weitere Sphäre eröffnet Schostakowitsch, wenn er in diese Atmosphäre musikalischer Gewalt molto espressivo Allusionen an jüdische Volksmusik einflicht – auch dies ein topischer Chiffre im Œuvre: Trauergesang für ein verfolgtes Volk und auch, wie im zweiten Klaviertrio, Abschiedsmusik für politisch drangsalierte und vernichtete Freunde. Ein sinister-ironischer Walzer über das Initialmotiv folgt. Immer wieder gerät die Musik aus den Fugen, ein Idiom, das spätestens seit der 4. Sinfonie einen bewussten Verweis auf Gustav Mahler darstellt. Schließlich zwei motivisch verschiedene Largo-Sätze: der vierte in einem indignierten Trauermarsch-Gestus und einem Selbstzitat aus Lady Macbeth von Mzensk – jener Oper, die wie kein anderes Werk mit Schostakowitschs Erfahrung verbunden ist, dass auch ein Kunstwerk zur künstlerischen und physischen Vernichtung der eigenen Person hätte führen können. Der letzte Satz schließlich führt in einem immer durchsichtiger werdenden polyphonen Gewebe die Hauptmotive zusammen und verlöscht morendo, ersterbend.
Schostakowitsch spinnt mit der ersten Note des Quartetts beginnend ein Netz aus musikalischen Anspielungen, die dennoch in einer ausgewogenen Form konvergieren. Die Aufladung, ja, Überfrachtung des Werkes mit Selbst- und Fremdzitaten führt trotz Bruchstellen nicht zu einer Auflösung – wie in Schostakowitschs 15. und letzter Sinfonie, die unter den Kontrasten disparater Zitate implodiert und in einem erschütternden perkussiven Klappern und Ticken endet. In seinem letztem Streichquartett, Nr. 15 in es-Moll, geht der Komponist noch radikaler vor und lässt die Musik über sechs langsame Sätze in einer Extremform im Klangraum erstarren und verhallen. Schostakowitsch überlädt gewissermaßen die Partitur mit Anspielungen und Rückgriffen. Führt die musikalische Reflektion von Gewalt hier also unweigerlich zu einem Zersplittern musikalischer und außermusikalischer Bezüge? Ist dem Individuum echte Trauer im Jahrhundert der Massaker und Kriege nur noch als Maskenspiel möglich? Das Sinngefüge bleibt auch in diesem Vexierspiel mit Masken und Zeitschichten fassbar, in einer Musik, die mit anderen Zeiten und Zitaten in einem unüberhörbaren Dialog steht. Dass die Form sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen entwickelt, hat den Komponisten offenbar selbst überrascht. Überraschend ist auch, dass Schostakowitsch die Autonomität sowohl der Gattung als auch der Komposition selbst teilweise aufgibt: Die von ihm selbst ungewöhnlich positiv aufgenommene Bearbeitung als Kammersinfonie von Rudolf Barschai fügt den augenfälligen Auflösungserscheinungen des komponierenden Ichs noch zwei Ebenen hinzu. Die Gattung Streichquartett, welche historisch, und auch im Schaffen Schostakowitschs als Antithese zur Sinfonik fungiert, tritt aus dem intimen Rahmen heraus und blickt damit gewissermaßen selbst auf sich zurück. Die Geschlossenheit der Form wird also nicht nur durch die Zitatnetze subtil aufgebrochen. Bei der heutigen Aufführung werden beide Werkvarianten gleichsam ineinander verschränkt. Immer wieder verstärkt sich das Streichquartett durch den größeren instrumentalen Rahmen, oder, anders betrachtet: immer wieder werden im Gewebe der Kammersymphonie Strukturen geöffnet, durch die das Streichquartett hervorscheint.
Das Bedürfnis, zu hassen und zu vernichten, wie es auch Albert Einstein in seinem berühmten Brief an Sigmund Freud dem Menschen attestiert hat – woher kommt es? Und wie sei damit umzugehen? Beide Werke thematisieren diese existenzielle Grundfrage, finden keine Anwort und reflektieren doch, indem sie ein kaleidoskopartiges sinnhaftes Gefüge aus historischen Verästelungen schaffen, hinter denen doch das schöpferische Subjekt selbst wieder hervortritt. Gerade der Wille nach dem Wahren und Reinen ist es, der Puschkins fiktiven Schurken Salieri morden lässt, wohingegen Schostakowitsch die Resultate von leuchtenden Zukunftsideen und Utopien am eigenen Leibe, in der Zeit der Stalin’schen Säuberungen, im belagerten Leningrad, in einem rigiden politischen System am eigenen Leib erfahren sollte. Viel eher ist man versucht, Isaac Asimow rechtzugeben, wenn er von der Gewalt als der letzten Zuflucht des Unfähigen spricht. Man hat es auf verstörende Art und Weise mit zwei Werken zu tun, die durch fast unüberschaubar vielfältig deutbare Schichten ihre eigenen Schöpfer widerspiegeln, in ihrer Vieldeutigkeit beinahe zerspringen und schließlich konvergieren – in der Fragestellung, was der Mensch dem Menschen antun kann.