Was uns zusammenhält

In »Theatergänger – Begegnungen und Stationen« schreibt Jürgen Flimm über Menschen, von denen er gelernt, mit denen er zusammengearbeitet hat und die zu seinen Freunden wurden. Sein Essay »Was uns zusammenhält« (1988) ist Richard von Weizsäcker gewidmet.

»Es hatte vorher schon ganz schön gedonnert und geblitzt, der Sturm zerrte ungestüm an den Dächern des kleinen Theaters, unverhohlen linsten die Schauspieler zur Decke, wenn es wieder klapperte und rappelte. Dann zuckten auf einmal die Scheinwerfer, glühten auf und verstarben sanft; kaum hatte der wackere Just, Tellheims braver Diener, den schnippischen Satz des Fräuleins frecher Zofe Franziska, daß man doch verzweifelt wenig sei, wenn man nichts weiter sei als ehrlich, verdaut, da fiel das Berlin der Minna von Barnhelm in tiefe Düsternis. Ein Blitz war irgendwo in irgendeine Schaltstation gefahren. Verzweifelt wenig blieb uns, ehrlich, wir konnten ja kaum im Dunkeln weiterspielen – obwohl ein heiterer Berliner, deren Humor einem so recht ans Herz geht, rief, wir sollten doch weitermachen, so könne man Lessing wenigstens hören, zu sehen bekäme man den sowieso nicht. Ich stand bald aufgeregt zappelig an der Rampe herum, ich wußte partout nichts zu sagen, aber mein Blick fiel auf den grauhaarigen Herrn unten in der Mitte des Parketts, der so amüsiert heraufblinzelte, und in meiner Not fragte ich ihn, ob er nicht verantwortlich sei für diesen plötzlichen Einbruch zeitgenössischer Dunkelheit in die Helligkeit Lessingschen Witzes. Er aber hob bedauernd die Arme und meinte, daß ich wohl die Allmacht eines Regierenden überschätze, auf Blitz und Donner könne selbst er nicht einwirken.

Der Zuschauerraum lag im gelben Dämmer der Notbeleuchtung – hinter mir hockten die Schauspieler ratlos auf der Bühne und ich begann auf einmal fröhlich zu parlieren, ein bißchen hochstaplerisch, dem Herrn von Marliniére gleich, redete über Lessing und Berlin und über den großen Friedrich und merkte bald, daß ich nur zu dem Herrn Regierenden Bürgermeister da unten sprach, eben weil jener so zugeneigt lächelte und den Kopf wiegte und dann und wann nickte; mich so aufmunternd, kamen wir über die Zeit. Dann hatte wohl eine hilfreiche Hand in irgendeiner Station irgendeinen Hebel umgelegt, die Scheinwerfer zuckten heftig und flackerten wieder auf, Franziska und Just holten wieder tief Luft und verbissen sich ineinander, Lessing im Munde.
Irgendwie tat es mir leid, ich hätte dem Herrn dort unten gern noch etwas erzählt, denn ich kannte ihn ja schon viel länger als er mich. Er war mein erster Präsident gewesen. Als ich noch viel jünger war, stand er ganz hoch oben weit über mir, von den wunderbaren blechernen Klängen der Posaunenchöre umtost, hinter ihm die flatternden Kirchenfahnen und frommen Losungen, und er, Wind in den widerspenstigen Haaren, so daß die Hände immer wieder herauffuhren, sprach von Christus und der Welt und so auch von uns, von der Verantwortung eines Christenmenschen. Ich hatte ein grünes Hemd an und ein Tuch um den Hals und war im Vereine mit anderen christlichen jungen Männern. Das war ein evangelischer Kirchentag, und meine Mutter, Presbyterin im vorörtlichen Kirchlein, mochte ihn auch. Ich gebe gern zu, daß in mir eine gehörige Portion untertäniger Geist steckt, daß ich gerne zu Großen aufblicke und mich bevorzugt in Bezirke von Huld und Gnade begebe, das war schon als Kind bei meinem Geigenlehrer so oder beim Torwart des heimischen Fußballvereins, vom Direktor des städtischen Gymnasiums ganz zu schweigen!

Als ich aber dann in der Folge dieses eher ungewöhnlichen Berliner Blackouts dem Bürgermeister näher kam, war ich erstaunt, daß der anders war als viele andere. Der konnte lächeln und fragen und hören und schweigen. Und spötteln. Wie er da herunterkam von den posaunenumtosten Höhen, brachte er offensichtlich keine Wanderschuhe oder fröhliche Lieder auf kesser Lippe.
Als er dann mein zweiter Präsident wurde – auf so einen hatte ich also schon lange gewartet – , haben sich viele dieser Augenblicke mannigfach wiederholt, der geneigte Kopf und das fröhliche Lächeln, Labsal für einen wie mich, der auszog, den Umgang mit hohen Herren zu üben, ungewohnt die Geduld und die neugierige Aufmerksamkeit.

Einmal rief der Sekretär an und teilte mit, der Präsident sei bald in unserer Stadt und wolle gern in das Theater gehen. Aber ach! Panik ergriff mich, wir spielten nicht an dem Abend; lediglich letzte schwere Proben auf der Bühne, „Die Nibelungen“, deutsches Gemetzel! Vielleicht interessiere den Präsidenten ja auch diese Probe, fragte ich etwas unsicher, aber voller Hoffnung an; warum sollte er nicht? Und dann fuhr an dem Abend tatsächlich die Staatskarosse am kleinen winkeligen Bühneneingang vor, hurtigen Schrittes ging er ins Theater, er erfreute sich des Anblicks der wartenden Schauspieler und erinnerte sich noch gut an den Tellheim des Herrn Bantzer, damals in Berlin, als das Licht ausfiel. Da saß er geduldig im hinteren Parkett nahe am Regiepult und sah sich diesen schrecklichen Mord und Totschlag an, wie Hagen den Siegfried meuchelt und Kriemhild den Hagen und alles in Schutt und Asche fällt und Etzel stumm die Last der Würde dem Dietrich aufbürdet. Und sparte in den Pausen nicht mit kritischen Anmerkungen und lobenden Beobachtungen. Spät in der Nacht, nach all dem deutschen Lug und Trug auf der Bühne, fuhr er weiter, machte sich auf den Weg nach Kiel. Einmal steckte er mir in Bonn einen Orden an, ich freute mich sehr. Nie und nimmer hätte ich diese Auszeichnung angenommen, früher hätte ich mich eher geschüttelt, beim langen Marsch durch die Institutionen! Aber nach dieser Rede zum 8. Mai? Hatte er geahnt, als er daran arbeitete und wohl immer wieder las und korrigierte, daß dieser Texte, diese wichtigen Sätze viele von uns nach dem Krieg Aufgewachsenen und mit der Geschichte der westlichen Republik Verwachsenen, doch schwerlich Erwachsenen mit der Hast und der Hetze der frühen Jahre versöhnten? Wußte er, als er sich über die Rede beugte, daß er eine Trauerarbeit leisten müßte, die noch kein konservativer Politiker vor ihm bereit war zu leisten? Ich bin sicher, er wußte es, und das ehrt ihn über die Maßen.

Als ich einmal im Mai in Holland war, gingen am hellen Abend plötzlich, für mich unvermutet, alle Laternen an, der Verkehr stockte auf den Straßen, und in unserem Restaurant schwiegen die Menschen zwei Minuten lang. So gedenken wir unserer Befreiung, flüsterten mir meine Freunde zu. Ich holte tief Luft und dachte, wie lange wir in unserem Land auf die Rede von Richard von Weizsäcker warten mußten und wie fern wir noch von diesen Momenten des Stockens und Innehaltens sind. Einmal, auf einer Veranstaltung des Bergedorfer Gesprächskreises, fragte er listig und genau in eine sich gerade verwirrende Debatte, was das denn wohl sei, das die alten und neuen deutschen Länder zusammenhielte? Beredtes Schweigen sonst so beredter Schlauköpfe. Eine sagte dann forsch, unser Land! Ein anderer rief, die Tradition, die Geschichte, ein dritter, natürlich: die Kultur! Klar, ja klar, alles das ist nicht falsch. Aber was tun wir in und mit diesem schwierigen Land, wenn es nicht solche Leute gibt wie Richard von Weizsäcker; da wird mir angst und bange. Menschen wie dieser halten zusammen, davon haben wir zu wenig. Zu viele ziehen ihren Vorteil aus anderem, aus neuer Trennung. So wird er mir fehlen, der Präsident, das weiß ich schon jetzt.«

 

»WAS UNS ZUSAMMENHÄLT« (1988) Originalbeitrag aus: Jürgen Flimm, Theatergänger – Begegnungen und Stationen, 2004

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