Zweifache Einsamkeit
Regisseurin Isabel Ostermann verbindet Leoš Janáčeks dramatisierten Liedzyklus »Tagebuch eines Verschollenen« und Francis Poulencs Vertonung des Monodramas von Jean Cocteau »La voix humaine« in der Werkstatt des Schiller Theaters zu einem Doppelabend. Stephan von Wedel gestaltete das Bühnenbild und die Kostüme. Dramaturg Detlef traf beide zum Gespräch.
»Werkstatt« ist nicht nur ein Name.
Ihr arbeitet ja bereits zum wiederholten Mal in der Werkstatt des Schiller Theaters zusammen, worin liegen aus eurer Sicht die besonderen Qualitäten dieser Bühne?
Stephan von Wedel: »Werkstatt« ist hier nicht nur der Name, sondern zugleich auch Programm. Man hat in diesem Raum eine größere Freiheit, Dinge auszuprobieren und zu experimentieren als es auf größeren Bühnen mit einem entsprechend großen Apparat möglich ist. Im Extremfall ist es sogar denkbar, von einem Tag auf den anderen die komplette Ausstattung zu ändern – auch wenn wir das natürlich nie ohne Not tun würden.
Isabel Ostermann: Die Nähe der Sängerdarsteller zum Publikum ist aus meiner Sicht ein großes Plus der Werkstatt. Unmittelbarkeit und Direktheit des musikdramatischen Ausdrucks kommen dadurch zustande. Notwendig wird eine punktgenau eingesetzte Mimik und Gestik, da eben keine meterweite Distanz über den Orchestergraben hinweg überwunden werden muss. Zur Folge hat das eine andere Technik des Regieführens, da immer das vis-à-vis der Protagonisten und der Zuschauer einzukalkulieren ist. Hinzu kommt die familiäre Arbeitsatmosphäre, die wir beide sehr mögen …
Stephan von Wedel: … und natürlich der Umgang mit dem jungen, sehr motivierten Technikteam der Werkstatt, die nahezu jeden Wunsch erfüllen.
Was war der Auslöser, die beiden Stücke – Janáčeks »Tagebuch« und Poulencs »Voix humaine« – miteinander zu kombinieren? Wie werden sie zueinander in Beziehung gesetzt?
Isabel Ostermann: Was sich schon bald herausgestellt hat, ist die Tatsache, dass zwei komplette Werke, auch wenn sie jeweils für sich nicht sonderlich lang sind, zu durchdenken, zu inszenieren und zu interpretieren sind. In dieser Hinsicht bedeutet ein Doppelabend auch doppelte Arbeit. Dabei passen die beiden Stücke inhaltlich sehr gut zusammen: Wir haben es mit zwei Figuren zu tun, die – auf sehr individuelle Weise – ihre Geschichte erzählen, die sich entäußern und damit einen spürbaren Eindruck bei den Betrachtern hinterlassen. Obwohl jedes Stück zunächst für sich steht und in sich abgeschlossen ist, haben wir uns dafür entschieden, sie miteinander zu verschränken, indem mal der Eine und mal die Andere in den Fokus rückt.
Stephan von Wedel: Die beiden Personen gewinnen eine große Nähe zum Zuschauer, was es möglich macht, sich mit ihnen zu identifizieren. Auch wenn Janáčeks Tagebuch mit stärkeren lyrischen »Verkleidungen« daherkommt, während der Emotionsausdruck in La Voix humaine sehr viel konkreter und direkter wirkt, so gibt es doch immer wieder Querverbindungen, die wir bewusst aufzeigen wollen – auch dazu dient die Technik des Verschränkens.
Im Mittelpunkt stehen die großen Themen Einsamkeit, Abschied, Verlassen und Verlassenwerden.
Worin besteht eigentlich der Kern der beiden Werke? Was wird in ihnen verhandelt?
Isabel Ostermann: Im Mittelpunkt stehen aus meiner Sicht die großen Themen Einsamkeit, Abschied, Verlassen und Verlassenwerden. Ich empfinde beide Stücke als sehr menschlich, als sehr realistisch. Es sind psychologische Studien, die Figuren werden gleichsam seziert. Es handelt sich um Archetypen, die textlich wie musikalisch umrissen sind und die wir in unserer Aufführung weiter ausleuchten möchten. Dabei kommt es uns nicht darauf an, unsere Protagonisten zu bewerten oder gar moralisch zu verurteilen.
Stephan von Wedel: Keiner der beiden Figuren hat ein aktives Gegenüber, einen Partner im eigentlichen Sinne. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen und befinden sich in einem Zustand strikter Isolation. Darin liegt aus meiner Sicht das Tragische.
Isabel Ostermann: Manchmal gewinnen die Situationen, die sich aus der angesprochenen Verschränkung der Stücke ergeben, aber auch etwas Humorvoll-Komisches, wenn Janáčeks Bauernbursche und Poulencs »feine Dame« einen scheinbaren Dialog miteinander führen. Die Kommunikation läuft nur noch vermittelt über Apparaturen, nicht mehr unmittelbar. Das hat etwas sehr Aktuelles, auch etwas Verstörendes, da hier Formen sozialer Verwahrlosung ins Spiel kommen, die wir heute vielfach beobachten können und vielfach beklagen.
Stephan von Wedel: Auch wenn wir – vor allem über die Kostüme – die Entstehungszeiten der beiden Werke mit reflektieren, so könnte das Geschehen doch auch ebenso gut im Hier und Jetzt angesiedelt sein.
Isabel Ostermann: Außerdem spielen die Lebenswelten der Figuren eine wichtige Rolle: Der Kontrast zwischen der ländlich-bäuerlichen Sphäre des frühen 20. Jahrhunderts und einem urbanen Umfeld, das zwar Weltläufigkeit behauptet, aber gleichfalls eng und bedrückend sein kann, prägt die Stücke schon sehr deutlich.
Wie kamen denn die Ideen für die Raumgestaltung zustande?
Stephan von Wedel: Ausgangspunkt war die Vorstellung, dass zwei Menschen am Frühstückstisch sitzen, die einander fremd geworden sind und sich nichts mehr zu sagen haben. Diese Paarkonstellation, die wir am Anfang ganz reizvoll fanden, haben wir jedoch schon bald erweitert und weiter geöffnet.
Isabel Ostermann: Stattdessen wollten wir zwei vollkommen isolierte Personen zeigen, die in Einsamkeit und Verzweiflung gefangen sind, zugleich aber noch die Kraft besitzen, ihre Wünsche und Sehnsüchte zu artikulieren. Die eingespielten Mechanismen, Automatismen und Abhängigkeiten, wie sie immer wieder in Beziehungen entstehen, sollen demonstriert werden, auch räumlich.
Stephan von Wedel: Deshalb sind wir auf den Gedanken gekommen, die beiden Figuren in geometrisch einfach gestaltete, offene Holzhäuschen zu setzen. Jede von ihnen hat einen Ort für sich, der die »gute Stube« und ein Refugium ebenso sein kann wie ein Kerker oder Käfig.
Isabel Ostermann: Das Außen, insbesondere die Natur, ist dabei immer mitgedacht als das prinzipiell Andere, auch wenn sie nicht direkt gezeigt wird. Insgesamt soll das Ganze wie eine Versuchsanordnung wirken, bei der die Figuren wie Ausstellungsstücke in einem Museum den Blicken der Zuschauer preisgegeben sind. Im Grunde ist es eine Installation von Objekten, wobei auch den Betrachtern ein aktiver Part zukommt.
Stephan von Wedel: Die räumliche Enge ist sicher ein Prinzip, auch die Begrenzungen, die durch die verhängten Außenwände hergestellt sind und die an einen abgeschotteten Bunker denken lassen. Interessant dürften auch die unterschiedlichen Perspektiven sein, die sich ergeben, je nachdem wo man im Raum sitzt: Die Wahrnehmung des Gesungenen und Gespielten wird dadurch spürbar beeinflusst sein. Ebenso wie die Zuschauer die Sänger beobachten, werden sie von den Sängern observiert.
Welche Herausforderungen stellen sich bei zwei Stücken, die von jeweils nur einem Protagonisten getragen werden?
Isabel Ostermann: Als Regisseurin ist man schon besonders gefordert, mit lediglich zwei Sängern zu arbeiten. Die Probenzeit erlebe ich so noch intensiver und ganz anders als bei Werken mit einem größeren Ensemble. Wir haben zunächst viel miteinander geredet und uns gemeinsam in die Stücke vertieft, parallel dazu haben sich unsere beiden jungen Sänger immer auch weiter mit der Musik beschäftigt. So fand auf verschiedenen Ebenen ein Kennenlernen statt, das gewiss sehr produktiv war. Und schließlich wollten wir auch Mittel und Wege finden, die zunächst getrennten Geschichten zueinander ins Verhältnis zu setzen, was es mit sich gebracht hat, sowohl das Einzelne zu denken und szenisch zu gestalten als auch die Zusammenhänge.
Warum habt ihr euch für die Originalsprachen entschieden?
Stephan von Wedel: Verschiedene Zeiten und Kulturen treffen in dieser Aufführung aufeinander. Wenn dann noch zwei verschiedene Sprache hinzukommen, ist eine Verständigung zumindest schwierig – was ja durchaus gewollt ist.
Isabel Ostermann: Zumal beim Tschechischen, das für uns dann doch recht fremd ist. Die Figuren der beiden Stücke können auf eine solche Weise auch kaum zusammenkommen, sondern verbleiben in ihrer je eigenen Welt. Auf der anderen Seite steht außer Frage, dass der musikalische Gestus durch die Verwendung der Originalsprachen natürlich viel unmittelbarer getroffen wird, gerade bei Janáček, der aus dem Tonfall der tschechischen Sprache seine Musik entwickelte.
Eine spannungsvolle Begegnung.
Was soll der Zuschauer (respektive der Zuhörer) an diesem Abend erleben?
Stephan von Wedel: Eine spannungsvolle Begegnung mit den beiden Figuren, die ein Moment von Wahrhaftigkeit entstehen lässt.
Isabel Ostermann: Wir wünschen uns, dass es gelingt, die Intimität eines Liederabends mit einem intensiven musiktheatralischen Erlebnis zu verbinden.
Stephan von Wedel: Eine größtmögliche Nähe von den Sängern, dem Pianisten und dem Publikum, die mit in den Sog der Musik und des Spiels hineingezogen werden.
Isabel Ostermann: Und dass die Besucher den Mut haben, sich ganz und gar auf das Geschehen in der Werkstatt einzulassen.
Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zu »Tagebuch eines Verschollenen | La voix humaine«.