»Zwischen Leben und Tod«

Auf einen Kaffee mit der Dramaturgie - Juliette

Die Dramaturgen Yvonne Gebauer und Roman Reeger im Gespräch mit Regisseur Claus Guth und Bühnenbildner Alfred Peter über die Neuproduktion von Bohuslav Martinůs »Juliette«.

Roman Reeger  Wovon handelt »Juliette«?

Claus Guth  Die Vorlage von Georges Neveux erzählt die Geschichte von Michel, der in einer Stadt ankommt, in der alle ihr Gedächtnis verloren haben. Er ist der einzige, der sich erinnern kann. Er ist auf der Suche nach Juliette, einer Frau, die er hier einmal gesehen hat und von der er nun vollkommen besessen ist.

Alfred Peter  … wobei es ja nie zu einer richtigen Begegnung gekommen ist. Er hat sie ja lediglich durch das offene Fenster singen gehört und kommt in der Geschichte erst drei Jahre später wieder in die Stadt zurück.

Claus Guth  Genau das ist das Signifikante an Michels Verhältnis zu Juliette. Es geht um das Bild des Anderen, das sich aufgrund einer Begegnung hergestellt hat und nichts mehr mit der eigentlichen Person zu tun hat. Der Andere wird gewissermaßen zu einer Projektionsfläche. Das Problem Michels liegt darin, dass die von ihm begehrte und zu einer Obsession gewordene Juliette sich anders verhält, als er es sich ausgemalt hat. Ab einem gewissen Punkt hat er das Gefühl, dieses Abweichen Juliettes von seiner Vorstellung bestrafen zu müssen, da er dieses nur als Fehlverhalten deuten kann.

Yvonne Gebauer  Auch Juliette, die uns zunächst nur als Projektionsfigur erscheint, entwickelt ab einem bestimmten Punkt ein Eigeninteresse…

Roman Reeger  Es gibt die Erzählung von Juliette, die zunächst durch den Erinnerungsverkäufer beeinflusst wird, aber vielleicht nicht weniger fiktiv ist, als die von Michel. Beide Erzählungen stehen sich unvermittelt gegenüber. Einer der – auch musikalisch – größten Momente der Oper setzt ein, wenn Michel die Geschichte ihrer ersten Begegnung schildert. Hieraus resultiert schließlich eine Kränkung, da er von Juliette verlacht wird…

Claus Guth  Dieser Moment beschreibt das »Sichöffnen« als gefährlichen Akt. Juliette verletzt  Michel mehr oder weniger unbewusst, wobei es gar nicht so leicht nachzuvollziehen ist, wann und warum sie ihm gegenüber verbal aggressiv wird.

Für mich ist die große Liebesszene zwischen Michel und Juliette im Zweiten Akt auch der Höhepunkt der gesamten Oper. Hier erinnern mich die Figuren sehr an Pelléas und Mélisande, denn je mehr sie versuchen, sich näherzukommen, desto weiter entfernen sie sich voneinander. Wenn wir diese Liebesszenen isoliert vom Rest des Stückes betrachten, finden wir eine hervorragende Studie zum Thema Liebe, verbunden mit den Fragen: Wen oder was meinen wir,  wenn wir sagen: »Ich liebe dich«? Inwiefern stimmt das Bild, das wir vom Anderen haben, mit der Wirklichkeit überein? Es ist sehr interessant zu beobachten, wie sich diese beiden Menschen in emotionaler Verzückung in das Zusammensein stürzen und dann doch immer wieder voneinander abprallen, da sie an verschiedenen Stellen bemerken, dass sie zwar übereinander sprechen, sich womöglich aber gar nicht meinen, sondern nur das Bild des Anderen im Kopf haben. Diese Szenen sind ziemlich einmalig in der Operngeschichte, denn es gelingt Martinů hier, eine Liebesgeschichte zu erzählen, die gleichzeitig die Pervertierung eines klassischen Liebesduetts darstellt und Raum für Ironie und Humor schafft.

Juliette - Foto: Monika Rittershaus

Roman Reeger  Welchen Weg beschreitet Michel durch die drei Akte hindurch?

Claus Guth  Uns hat das Thema des Gedächtnisverlusts von Anfang an sehr interessiert. Zum einen kann das als Krankheitsbild, zum anderen aber auch als Prozess der Verdrängung verstanden werden. Und hier fing für uns die Spurensuche an.

Für uns beginnt die Geschichte von Michel mit einem Schock. Er schreckt auf und kann die Einzelteile seiner Erinnerung nicht mehr zusammenbringen. Das ist das Auffallende an der Konstruktion der Geschichte, dass außer Michel und Juliette niemand einen Namen trägt. Alle Figuren, mit denen Michel im Laufe des Stückes zusammentrifft, sind lediglich durch Merkmale wie »Mann mit Helm», »Mann am Fenster«, »Junger Araber« usw. gekennzeichnet. Von Michel wissen wir immerhin, dass er Lepic heisst und  Buchhändler in Paris ist. Aber all die namenlosen Figuren, auf die Michel trifft, wirken wie diffuse Gestalten, an die man sich vielleicht nur noch vage und in Einzelheiten erinnern kann, wie z. B. an einen Hut, den jemand getragen hat. Sie gehören zu einem Durcheinander von Details und Informationen, die Michel wie in einem Puzzle wieder zusammenzusetzen versucht.

Roman Reeger  Was passiert genau im Zweiten Akt?

Claus Guth  Im Zweiten Akt gibt es einen komponierten Schuss, der sich nicht aufklärt. Für uns erschien das als eine deutliche Spur zu sein. Michels erste wirkliche und reale Begegnung mit Juliette endet tödlich. Er wird fast wie durch eine Übersprungshandlung zum Mörder. Er kann die Tat nicht verarbeiten und gerät außer sich. Im Augenblick des Mordes setzt bei ihm eine Art Bewusstseinszersplitterung ein, ein »Filmriss«. Er kann und will sich nicht mehr daran erinnern, dass er die Geliebte umgebracht hat. Seine Erinnerung wird unscharf und vollkommen unzusammenhängend. Was ihm dann begegnet, was er wahrnimmt, kann er nur noch in merkwürdigen, für ihn scheinbar sinnlosen Details und Einzelepisoden wahrnehmen.

Das schien für uns gerade für den Ersten Akt eine sehr einleuchtende Lesart zu sein. Die Welt, wie Michel sie nach seiner Tat wahrnimmt, kann nur sinnlos und ohne Vergangenheit oder zumindest ohne Erinnerung an Vergangenheit sein. Aus der zunächst sinnlos erscheinenden Folge von Szenen im Ersten Akt entsteht dann im Zweiten Akt eine Art Kohärenz. Hier werden die Einzelteile wieder in eine größere Ordnung gebracht.

Wir haben durch unsere Grundannahme, dass Michel im Zweiten Akt zum Mörder wird, die Geschichte in einen anderen Aggregatzustand versetzt. Wir beobachten jetzt nicht mehr einen allgemein desorientierten, verliebten Mann, der sich in einer merkwürdigen Stadt aufhält, sondern wir schildern das Psychogramm eines Mannes, für den es um Leben und Tod geht. Das bringt für die gesamte Erzählung eine größere Dringlichkeit und motiviert jede einzelne Szene ganz anders. Das betrifft auch die Perspektive auf den Dritten Akt, der wie eine Art Nachspiel oder Epilog funktioniert. Fast könnte man sagen, dass das Stück nach dem Zweiten Akt zu Ende ist. Der dritte Akt spielt in einer vollkommen anderen Welt, bei uns eine Art Limbus oder Zwischenreich, in dem Michel wie losgelöst seine Existenz betrachtet.

Roman Reeger  Was lässt sich über die Raumkonzeption sagen?

Alfred Peter  Das Thema der Verdrängung ist auch das Zentrale in Bezug auf die Bühne. Es gibt einen geschlossenen Raum, der jedoch für bestimmte Emotionen durchlässig ist und – mit Ausnahme der Schwerkraft – nicht den normalen Gesetzen folgt. So können sich Personen, Stimmen, Gegenstände vervielfältigen wie auch in der Musik bestimmte Motive auftauchen und wiederkehren. Wir haben an einigen Stellen auch die musikalischen Haltemomente verstärkt, die sich auch auf die Bewegung im Raum auswirken.

Die Idee dahinter war die Erzählung einer Affekttat, die ein solches Trauma auslöst, sodass die anderen Figuren letztendlich zur Projektionsfläche des Täters werden. In ihnen kehrt das Verdrängte schließlich auf unangenehme Weise zurück. Die Herausforderung des Stückes besteht ja nicht zuletzt darin, dass wir uns permanent mit Figuren auseinandergesetzt sehen, die kein Gedächtnis haben und somit identitätslos sind, deswegen erscheint uns die gesamte Situation und die Geschichte auch mehr oder weniger haltlos, in dem Sinne, dass wir uns an nichts festhalten können.

Claus Guth  Hieran schließen auch die surrealistischen Tendenzen des Stücks an, in denen scheinbar unbedeutende Dinge auf einmal sehr zentral werden. Mich erinnert dies vor allem an Bilder von Magritte, in denen ein alltägliches Objekt wie z. B. eine Pfeife auf einmal so in Szene gesetzt wird, dass es eine unheimliche, fast bedrohliche Aura bekommt.

Juliette - Foto: Monika Rittershaus

Roman Reeger  Welche Rolle spielt der Surrealismus in »Juliette«?

Claus Guth  Das Theaterstück von Neveux aber auch Martinůs Oper sind in der Hochphase des Surrealismus in Paris entstanden. Bei aller Faszination ist es wichtig, sich bewusst zu machen, warum der Surrealismus als Mittel der Befreiung eine solch große Wirkung erzielen konnte. Historisch hatte dies mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, mit einer Überbewertung der Rationalität und der extremen Entwicklung bürokratischer Strukturen zu tun. So steckt hinter dem Phänomen des Surrealismus die Grundenergie des Anarchischen, der Wunsch, sich aus wie auch immer gearteten Fesseln zu befreien. Was mich hieran begeistert, ist die ungemeine Kreativität und die daraus entstandene Vielfältigkeit in Bezug auf die Formensprache, die vor allem in der surrealistischen Malerei zu beobachten ist.

Allerdings interessiert uns das Stilprinzip des Surrealismus nicht im Sinne einer beliebigen Aneinanderreihung von Merkwürdigkeiten. Wir wollen eine Reise ins Unterbewusste erzählen, die Monstrosität einer Person und ihre Abgründe beleuchten. Es geht darum, all diese seltsamen Ereignisse auf einen Kern zurückzuführen, sodass ein System entsteht, in welchem die Grenze zwischen Realität und Traum verschoben ist.

Yvonne Gebauer  Die Grenze zwischen Traum und Realität ist in »Juliette« markant definiert, denn im Dritten Akt findet sich der Protagonist im sogenannten »Zentralbüro für Träume« wieder und erfährt, dass er alles was sich im Ersten und Zweiten Akt ereignet hat geträumt hat. Wie seid ihr mit diesen unterschiedlichen Zuständen umgegangen?

Alfred Peter  Das war von Anfang eine große Frage: Gibt es eine Instanz, wie den Beamten, der das Träumen verwaltet und reglementiert? Wir sahen uns mit dem Problem konfrontiert, dass sich die Brisanz der ersten beiden Akte und auch die darin verhandelten Themen verlieren, wenn wir im Dritten Akt erfahren, dass Michel alles nur geträumt hat. Für das Bühnenbild jedoch war schnell klar, dass wir uns im Dritten Akt in einem Raum befinden, der sich radikal von dem der ersten beiden Akte unterscheiden muss. Wir haben die Gegensätzlichkeit gesucht und uns dafür entschieden, dass sich der Raum zu Beginn des Dritten Aktes auflösen sollte.

Claus Guth  Schon in der Stückvorlage spürt man, dass dieses Traumbüro als »Ort nach dem Erwachen« auch mit dem Tod zu tun hat, dieses erscheint ja auch wie ein endloser Albtraum, aus dem es schließlich keinen Weg zurück gibt. Mich erinnert das an die Berichte von sogenannten Nahtoderlebnissen, in denen Formen des »Übergangs« beschrieben werden, manchmal auch verbunden mit der bewussten Entscheidung zurückzukehren. Welche Entscheidung Michel für sich treffen wird, bleibt für uns offen.

 

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