»Das Musiktheater ist meine Waffe«

Oscar Strasnoy - Foto: Stephanie von Becker

Kurz vor dem Beginn der ersten Durchlaufprobe zur Neuproduktion »Geschichte« in der Werkstatt der Staatsoper im Schiller Theater trafen wir den gut gelaunten Komponisten Oscar Strasnoy zum Interview in der Kantine des Schiller Theaters und sprachen mit ihm über die die Flucht aus dem Elfenbeinturm, den polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz und das Wesen der Operette.

Wie laufen die Proben?
Musikalisch klingt alles schon sehr, sehr gut. Von den szenischen Proben habe ich bis jetzt leider noch nicht allzu viel sehen können, aber ich habe ein sehr gutes Gefühl.

»Geschichte« ist ein Musiktheater für ein sechsstimmiges A-cappella-Ensemble. Überhaupt stehen Ensembles immer wieder im Vordergrund deiner Werke für das Musiktheater. Hierbei ist man als Zuhörer jedes Mal ganz erstaunt, wie facettenreich es dir gelingt, unterschiedliche stimmliche Ausdrucksmöglichkeiten so zu verwenden, dass diese Ensembles ständig in Bewegung bleiben und nicht, wie es sonst häufig der Fall ist, statische Momentaufnahmen bilden. Woher rührt die Faszination für diese dynamischen Ensembles bzw. was bedeuten sie für dich?
Ich glaube, dass diese Faszination aus meiner Beschäftigung mit dem Theater entwachsen ist. Eine Zeit lang habe ich im Rahmen eines Lehrauftrags viel mit Schauspielern an ihren stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten gearbeitet, sowohl chorisch als auch solistisch. Dabei hat mich immer besonders die Beziehung zwischen dem Solisten und dem Chor interessiert. In der griechischen Tragödie wurden die Solisten ja häufig vom Chor regelrecht »ausgespuckt« und hiernach wieder inkorporiert – so kam ich auf diese Form. Außerdem habe ich viel mit dem bulgarischen Theaterregisseur Galin Stoev zusammengearbeitet, der ein guter Freund von mir ist, und in seinen Inszenierungen sehr viel mit diesem Element arbeitet. Musikalisch finde ich das Verhältnis und die Interaktion zwischen dem Individuum und der Gruppe sehr interessant.

Unsere Vorstellung von der griechischen Tragödie hat lange ignoriert, dass der Chor im ursprünglichen Sinne überhaupt nicht statisch war, sondern im Gegenteil sehr bewegt: So gab es z. B. in den Aufführungen häufig rituelle Tänze…
Spätestens im 19. Jahrhundert wurde der Chor zu einem Synonym von Volk oder Masse, während er bei den Griechen eher etwas mit dem fließen der Zeit zu tun hat. Darum sind die Chorpassagen in der antiken Tragödie und auch im japanischen Theater, das ich intensiv studiert habe, die bewegtesten, während die solistischen häufig Stillstand repräsentieren. Im Nō-Theater ist der Sprecher, der Coryphaeus, zum Beispiel sehr statisch, wohingegen der Chor die Aktion weiterführt.

Du hast bereits mehr als zehn Opern geschrieben, was interessiert dich am Musiktheater bzw. was treibt dich an?
Das Musiktheater ist gewissermaßen meine Waffe gegen den Akademismus der zeitgenössischen Musik, nicht zuletzt, um ihrem Elfenbeinturm zu entkommen. Ich glaube, dass man mit dem Musiktheater auch ein anderes Publikum erreichen kann. In manchen Konzerten für zeitgenössische Musik trifft man ja nur Komponisten, wohingegen in Musiktheateraufführung Menschen gehen, die sich für Literatur, für Theater oder eben für Musik interessieren. Diese Mischung gefällt mir.

»Ich war schon immer von der Oper fasziniert.«

Erinnerst du dich noch, wann du begonnen hast, dich intensiv mit dem Musiktheater auseinanderzusetzen und warum?
Ich war als Kind schon immer von der Oper, diesem großen Spektakel, fasziniert. In meinem Studium bei Hans Zender, der ja auch ein sehr feinsinniger Theatermann ist, haben wir vor allem Opern wie Debussys »Pelléas et Mélisande« oder Richard Wagners »Siegfried« analysiert, was mich noch mal entscheidend geprägt hat.

Als Vorlage für deine Libretti dienen so unterschiedliche Autoren wie die argentinischen Schriftsteller Alberto Manguel und Copi, jedoch auch viele mit einem klaren Ostbezug wie Irene Nemirovsky, Daniil Charms und natürlich Witold Grombrowicz. Hast du ein besonderes Verhältnis  zur osteuropäischen und russischen Literatur?
Ja, auf jeden Fall. Meine Familie mütterlicher- und väterlicherseits stammt aus Russland, somit habe ich früh einen Bezug zur russischen Literatur und Lebensart entwickeln können, die mir sehr nah ist. Überhaupt habe ich mich immer mit Themen beschäftigt, die auch mit mir persönlich etwas zu tun haben. Grombrowicz war z. B. ein Freund meines Vaters. Nemirovsky repräsentiert für mich die jüdische Seite, die ich auch in mir trage. Bei Charms habe ich die Absurdität gefunden. Mit Alberto Manguel bin ich sehr gut befreundet. Ich würde jetzt nicht einfach so auf die Idee kommen, die Weltliteratur zu vertonen.

»Kagel ist der Gombrowicz der Musik.«

Du hast mal gesagt: »Kagel ist der Gombrowicz der Musik«. Was meinst du damit?
Ich glaube sowohl Kagel als auch Gombrowicz hatten die Fähigkeit, nicht zuletzt aufgrund ihrer biografischen Situation, ihre Heimatländer und Kultur aus der Distanz zu betrachten, ohne sich im Geist von ihnen zu entfernen. Gombrowicz war in Argentinien ein Außenseiter, der sich nicht unbedingt mit der lokalen intellektuellen Szene identifizierte. Auch Kagel war in der ultra-seriösen deutschen Musikszene eine Art »Outsider«. Er war das Pendant Stockhausens, so wie Gombrowicz das Pendant Borges’ geworden ist.

Kagel ist es zu einem sehr frühen Zeitpunkt gelungen, die Selbstreflexion in der Musik stark in den Fokus zu rücken…
Ja, genau. Da fällt mir gleich ein Satz aus Gombrowiczs Tagebüchern ein, der über den 20-jährigen Kagel, der zu der Zeit noch in Argentinien lebte, schrieb: »Kagel wird der größte Komponist dieses Landes sein.« Das ist schon erstaunlich, denn Kagel hatte zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich kleine dodekaphonischen Übungen komponiert.

War das noch vor der Komposition von »Anagrama«?
Ich glaube, Kagel hatte damals mehr mit dem Kino zu tun, als mit der Musik.

Du hast unter anderem bei Gérard Grisey, einem der Wegbereiter der Spektralmusik, studiert. Wenn du heute zurückblickst: welchen Einfluss hatte Grisey auf dich, der, wie alle Komponisten der L’Itinéraire, für einen sehr klaren Weg einer neuen musikalischen Ästhetik stand?
Grisey war ein sehr interessanter Typ, denn er hasste es, wenn seine Schüler begannen, wie er zu komponieren. Er mochte die Schüler, die sich ästhetisch von ihm entfernten. Zugleich war er sehr offen und hat sich für vieles interessiert. Kompositorisch habe bei ihm vor allem viel über Orchestration gelernt. Aber wie gesagt, ästhetisch gibt es zwischen uns wenige Gemeinsamkeiten und auch insgesamt habe ich seltsamerweise wenig mit der französischen Musik zu tun, obwohl ich mein halbes Leben in Frankreich verbracht habe.

Hast du während deiner Zeit in Frankreich mit dem IRCAM zusammengearbeitet?
Nach dem Konservatorium musste man das mal tun, aber ich habe mich dort schon sehr fremd gefühlt.

Was zweifellos an deiner Musik fasziniert ist, dass es dir gelingt, in ihr die scheinbar größten Gegensätze zusammenzubringen. In »Slutchai (Fälle)« prallen Fetzen sowjetischer Propagandamusik, welche das Milieu der Figuren in dem Setting nach Texten von Daniil Charms beschreiben, auf eine intime, manchmal auch nostalgisch anmutende Stimmung. Wie findest du diese besonderen Klangmischungen in deinen Musiktheaterstücken?
Wenn man ein Theaterstück schreibt, gibt es mehrere wichtige Grundsätze: zuerst kommt natürlich das Libretto. Dann benötigt man einen Pauschalklang, eine Art Grundstimmung. Sowohl in »Slutchai (Fälle)« als auch in »Cachafaz« ist dieses Element sehr präsent. In beiden Stücken, die in etwa zur selben Zeit in den 1930er Jahren spielen, finden wir eine seltsam alt-moderne Grundklangfarbe, geprägt z. B. durch den Sound der Hammondorgel, also ein Klang, der vor 80 Jahren hätte modern sein können, uns heute jedoch archaisch erscheint.

Für mich sind »Slutchai (Fälle)« und »Geschichte« Geschwisterstücke, da beide eine ähnliche Struktur haben, der Wechsel zwischen opernhaften und solistischen Momenten und auch die klaustrophobische Grundsituation sowie die Absurdität der Erzählung in beiden gleichermaßen eine Rolle spielen.

»Die Familie als Mikrokosmos.«

Es gibt auch deutliche Parallelen zwischen »Geschichte« und »Le Bal«, da in beiden Stücken neurotische Familien im Zentrum stehen.
Ja, das stimmt: Die Familie als Mikrokosmos. Ich glaube, wenn man die Beziehungen und Konflikte innerhalb solch seltsamer Familien wie in »Geschichte« oder »Le Bal« versteht, kann man auch die Welt verstehen.

Bei deiner Musik hat man häufig den Eindruck, dass sie ganz und gar dem Theater folgt. Man spürt quasi die leibliche Präsenz der Figuren. Ebenso gibt es auch keine komponierten Filmpanoramen oder Schnitte, sondern das Theater scheint in deinen Stücken permanent anwesend. Denkst du tatsächlich immer in theatralen-dramatischen Situationen, wenn du komponierst?
Für mich ist das, was du beschreibst, tatsächlich sehr wichtig. Darum ist es für meine Arbeit auch notwendig, möglichst früh innerhalb des Kompositionsprozesses eng mit dem Librettisten und dem Regisseur zusammenzuarbeiten, um gemeinsam die Situationen zu durchdenken und zu definieren. »Geschichte« habe ich komlett zusammen mit Galin Stoev entworfen, wir haben auch zusammen die Textfassung aus den chaotischen Skizzen von Gombrowicz geschrieben. Die einzelnen Szenen hatten wir mehr oder weniger schon vor der Komposition im Kopf. »Von welcher Seite tritt der Darsteller auf? Was macht er genau?«. Auch die Arbeit von »Slutchai (Fälle)« verlief so ähnlich. Mir hilft es sehr, von Anfang an situativ-räumlich zu denken. Zugleich verfolge ich als Komponist das Ideal, dass man das Stück auch ohne die szenische Aufführung, also nur durch das Hören der Musik, versteht.

Was bedeutet die Operette, die Gombrowicz einmal als »Parodie der Form« bezeichnete, für dich?
Für mich repräsentiert die Operette eine Zeit, die vergangen ist. Für Gombrowicz war die Dummheit der Operette ein Symbol für das alte Europa, welches bis zum Jahr 1914 existierte. In der Operette zeigte sich zum Beispiel, was die »einfachen Leute« über die Aristokratie bzw. über die herrschende Klasse dachten, sie war eine Karikatur der Sozialschichten. Im Gegensatz zur Oper, die natürlich ebenso für eine vergangene Zeit steht, galt sie jedoch vielmehr als eine Form der Unterhaltung, mit der wir natürlich heute nur noch sehr wenig anfangen können. Gombrowicz selbst hat sich ja an einer »Operette«, die er auch als solche benannt hat, versucht, tatsächlich als »Parodie der Form«. Er verstand das jedoch so, dass in der Operette, bei der die Sänger so tun, als ob sie lustig seien und das Publikum so tut, als ob es sich amüsiere, alle Anwesenden zu einer Karikatur ihrer selbst werden.

»Ich habe ein Problem mit dem Realismus.«

Theodor W. Adorno schreibt: »Nur die Übertreibung ist wahr«. Würdest du ihm zustimmen?
Hier ist Adorno erstaunlich nah bei Gombrowicz, wenn dieser sagt, dass die Oper nur als Parodie ihrer selbst glaubwürdig sein kann. Diese Idee der überhöhten Wirklichkeit, hat für mich auch mit der Operette zu tun, die als Genre die Übertreibung feiert, in Form einer exponierten Künstlichkeit von Komik, Romantik, Lächerlichkeit usw…

Auf jeden Fall habe ich ein Problem mit dem Realismus. Nach ein paar Versuchen, mit realistischen Texten zu arbeiten, merkte ich, dass das für mich sehr schwierig und kompliziert ist. Im Gegensatz zur globalen Reality Show, funktioniert die Oper über Symbole, die man bewusst und unbewusst verstehen muss.

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