Das Theater als Zeuge

Am 28. Juni feiert »Ein Porträt des Künstlers als Toter« Premiere in der Neuen Werkstatt. Das Projekt kreist um die Abwesenheit des Körpers des desaparecido, des verschwundenen Menschen, und dessen Schicksal – Deportation, Gefangenschaft und Tod – ungewiss bleibt. Wie kann man dem, der zum Schweigen gebracht wurde, die Stimme wiedergeben? Wie kann man die Kunst dem Künstler, dessen künstlerischer Ausdruck verboten wurde, zurückgeben? Und vor allem: Wie kann man seinen verschwundenen Körper wieder ans Licht bringen? Dramaturg Roman Reeger hat vor der Premiere mit Komponist Franco Bridarolli, dem Autor und Regisseur Davide Carnevali und Bühnen- und Kostümbildnerin Charlotte Pistorius gesprochen.

Das Projekt ist als gemeinsamer Stückauftrag der Münchener Biennale für neues Musiktheater und der Staatsoper Unter den Linden zum Motto »Privatsache« entstanden. Welchen Aspekt des Themas »Privatsache« behandelt Euer Projekt? Ist das Thema direkter Bestandteil der Textgrundlage oder ist es  eher situativer bzw. konzeptioneller Natur?

DAVIDE CARNEVALI, AUTOR UND REGISSEUR Im Fokus des Projekts steht die Beziehung zwischen Präsenz und Abwesenheit des Körpers des desaparecido*, des Opfers staatlichen Terrors, dessen  Schicksal ungewiss bleibt: Tod, Gefangenschaft oder Deportation. Vom europäischen Faschismus bis hin zu den südamerikanischen Militärdiktaturen entstanden im 20. Jahrhundert zu beiden Seiten des  Atlantiks Gewaltherrschaften, die sich durch die systematische körperliche Beseitigung der Opposition  an der Macht hielten. Die Diktatur beruht darauf, dass sich öffentliche Kräfte selbst dazu legitimieren,  bewusst in die Privatsphäre des Individuums einzudringen und dem Opfer seinen gesellschaftlichen Status zu verweigern, es zum Schweigen zu bringen, Anspruch auf seinen privatesten Besitz zu  erheben: seinen Körper und damit seine Stimme. Damit hört die Privatsphäre auf, privat zu sein und  wird »privatum« oder etymologisch »entzogen«, »getrennt«, »isoliert«. Der desaparecido ist das  Individuum, das seiner Anerkennung »privatus« von seinen Lieben und seiner Gemeinschaft getrennt wird; aber auch der Gegenstand, in dem sich die Trennung zwischen Name, Bild und physischem  Körper vollzieht.

Wie habt ihr diese Auseinandersetzung mit dem Thema künstlerisch übersetzt?

CARNEVALI Die Dringlichkeit, dem deutschen Publikum diese Tatsachen heute nahezubringen, wurzelt  in unserem Fall in der Rolle des Theaters als Zeuge, der – Walter Benjamin paraphrasierend –  zum Medium für eine kritische Neuöffnung der Geschichte wird und so eine Vergangenheit, die auf ihre »geheime Begegnung« mit der Gegenwart wartet, vor der Katastrophe bewahrt. In unserer Geschichte überschneiden und überlappen sich die drei Figuren von Pintaudi, Bridarolli und Pasoski, um zu einer  einzigen Identität zu verschmelzen, der des Performers auf der Bühne.

FRANCO BRIDAROLLI, KOMPONIST Die Musik arbeitet ebenfalls das gesamte Stück hindurch mit  dieser Überlappung, indem sie Elemente wie ein gemeinsames harmonisches Feld, Klangmaterialien oder Neukontextualisierung einsetzt, um die einzelnen Fragmente zu verknüpfen. Diese Verknüpfungen schaffen Verbindungen, die dafür sorgen,  dass die Musik, selbst wenn sie in der gesprochenen  Erzählung von der Situation her unterschiedlich ist oder aus verschiedenen Epochen stammt, als Ganzes wahrgenommen werden kann.

CHARLOTTE PISTORIUS, BÜHNEN- UND KOSTÜMBILDNERIN Dem Entzug des Körpers und der  Stimme setzen wir eine eindeutige Materialität entgegen, die jedoch eine oszillierende ist. Im  Zusammenspiel von gesprochenem Wort, Klang und Materie wird eine klare Zuschreibung wiederholt in Frage gestellt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind beweglich und  durchlaufen verschiedene  Stadien, sowohl räumlich als auch im Modus des Betrachtens. Sie bewegen sich zwischen bloßem Zusehen und Zeugenschaft, in einem »Dazwischen«, nie wissend, was »wahr«  ist.

CARNEVALI Der Raum des Theaters besitzt zudem eine natürliche Tendenz, das continuum der Geschichte  aufzubrechen. Bridarollis Wohnung ist zugleich die Wohnung von Pintaudi und die von  Carnevali und schlägt so eine Brücke zwischen Argentinien und Berlin. Aber die Wohnung ist auch der private Ort, der öffentlich wird und schließlich nach dem Willen der Familie Bridarolli zu einem Hausmuseum und Ort der Erinnerung.

Wie definiert ihr das Verhältnis von »privat« und »öffentlich« im Kontext der Arbeit an »Ein Porträt des Künstlers als Toter«?

CARNEVALI Die künstlerische Schöpfung basiert immer auf der Ausgewogenheit zwischen der privaten und der öffentlichen Dimension des Künstlers. Der Künstler spielt immer mit Aspekten seiner Biografie, seiner Privatsphäre, die jedoch fiktiv werden, wenn er sein Werk kreiert. Die Öffentlichkeit erhält eine   Übersetzung, eine Translation im etymologischen Sinn: etwas, das aus der privaten in die öffentliche Sphäre »gezerrt« wird. Ebenfalls von dieser interessanten Beziehung ausgehend haben wir an der  Manipulation einer privaten Geschichte gearbeitet, die fiktive biografische Elemente enthält.

BRIDAROLLI Einige Musikfragmente wurden bewusst so komponiert, dass sie in gewisser Weise unfertig klingen. Irgendwann sollte sich das Publikum darüber im Unklaren sein, ob es Musik hört, die der Komponist nicht vollendet hat. Diese live im Konzert gespielt zu hören ist also eine öffentliche Darstellung einer noch privateren Dimension des Künstlers: der Arbeit, die noch im Werden ist.

PISTORIUS Die Rekonstruktion – die materielle Überschreibung oder Neuschreibung für ein Publikum – ist, so gut  sie auch gemeint ist, verfälschend und wahrscheinlich verletzend. Bewusst über- und umschreiten wir diese Grenze.

Müssen wir dieses Begriffspaar »privat«/»öffentlich« auch gesellschaftlich überdenken?

CARNEVALI Als Italiener sehe ich einen interessanten Unterschied zwischen der Vorstellung von »öffentlich« und »privat« in der italienischen und der deutschen Mentalität. So sieht die italienische  Konzeption der Öffentlichkeit das, was »öffentlich« ist, als »meins« an, was dazu führt, dass es als privat behandelt (und oft misshandelt) wird. In der deutschen Vorstellung eines Publikums gilt was  »öffentlich« ist auch als »deins« und wird daher so behandelt (und oft geachtet), als gehöre es allen. Das hat enorme Konsequenzen für das Konzept der »Gesellschaft«, das aus diesen beiden unterschiedlichen Mentalitäten hervorgeht.

Was kann und wodurch kann das Musik-Theater einen Ausdruck des Themas  »Privatsache« herstellen, was Musik oder Theater allein nicht könnten?

CARNEVALI In unserem Projekt verkörpert der Performer jetzt den Körper derer, die keinen mehr haben, seine  Stimme wird die derer, die auf das Schweigen reduziert wurden. Und seine heute  aufgeführte Musik stellt die Krönung eines kreativen Prozesses dar, der brutal unterbrochen wurde: Pintaudis Aufführung von Bridarollis Komposition geschieht als »Zusammenfassung« einer Reihe von Ereignissen, die im Hier und Jetzt des Theaterakts auf eine historische »Erlösung « im benjaminischen Sinne abzielen. Mit Live- Musik zu arbeiten hat eine starke Bedeutungskraft: Musik transzendiert in ihrer Immaterialität die Körperlichkeit, schlägt eine Brücke zwischen den Zeiten und etabliert sich selbst als eine Art »permanenter Gegenwart« voller Aktualität: Jetztzeit

BRIDAROLLI Zudem gibt es eine sehr wesentliche Schichtung und Überlappung im Dialog zwischen Musik und Theaterhandlung. Beide verstärken einander und schaffen so ein komplexeres Netz von Verbindungen.

Wie kam es zur Konstellation der in dieser Produktion miteinander arbeitenden Künstler und Mitwirkenden? Wie würdet ihr euren Arbeitsprozess beschreiben?

CARNEVALI Es war eine zutiefst bereichernde Arbeit. Keiner der an der Arbeit Beteiligten kannte die anderen vorher und dennoch entstand ein hervorragendes Team.

Als wie zentral für die Gesamtkonzeption eurer Uraufführung würdet ihr die Bedeutung des Spielortes beschreiben?

CARNEVALI In unserem Projekt spielt der Raum eine sehr wichtige Rolle. Die Wohnung, in der sich die in der  Geschichte erzählten Tatsachen ereigneten, zeigt sich dem Publikum in einer künstlichen Rekonstruktion. Zugleich befindet sich diese Wohnung in einem realen Raum, der in der Geschichte ebenfalls erwähnt wird, was die Beziehung zwischen Künstlichkeit und Realität unterstreicht. Zudem bietet uns das Theater selbst, der physische Ort der Begegnung zwischen Künstler und Publikum, die Gelegenheit für ein Treffen von Künstler und Publikum, das noch nicht stattgefunden hat. Das Theater  wird zum öffentlichen Ort einer privaten Erinnerung.

PISTORIUS Die Neue Werkstatt ihrerseits ist ein Raum mit einer signifikanten Materialität und  Formsprache, ein geschichtsträchtiger Ort. Die Renovierung übertüncht und bringt zugleich einmal mehr die zeitlichen Schichten des Ortes ins Bewusstsein. Die neue Zuschreibung des Ortes ist die der  Fiktion: ein Ort für dramatische Handlungen, ein Ort für jede erdenkliche Geschichte. Zugleich finden wir uns in einem Ort  ein, der es zulässt, von Tageslicht durchflutet zu werden, »knallhart« die Realität  abzubilden. Dieser Zwiespalt wird sich im Laufe des Stückes nie lösen.

Das Interview führte Roman Reeger.

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