Zirkelschlag zum Jubiläum der Orchesterakademie: Von Wagner über Mozart und Debussy zu Wagner

Die Wagner-Tradition der Staatskapelle Berlin ist lang und reichhaltig. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzt sie ein, am 1. Juli wird sie fortgeschrieben, mit zwei Kompositionen, von denen eine von Richard Wagner selbst stammt, während das andere Themen und Motive aus seinem musikgeschichtlich wohl einflussreichsten Werkes verarbeitet.

»Tristan und Isolde«, jenes in den späten 1850er Jahren entstandene und 1865 uraufgeführte singuläre Opus des Musikdramatikers, mit dem er sich anschickte, die Tonsprache der Romantik gleichsam zu revolutionieren, wurde zum Ausgangspunkt eines für Blechbläser und Schlagwerk geschriebenen Stückes von Manfred Honetschläger, der hier seine vielfältigen Talente als Komponist und Arrangeur unter Beweis stellt. Als ausgebildeter und praktizierender Jazzmusiker und Bigbandleader machte er ebenso auf sich aufmerksam wie als Schöpfer von Musiken für Film und Radio. Wagners »Tristan« bot ihm hinreichend viele Anknüpfungspunkte für eine Komposition, die immer wieder das Original durchscheinen lässt, die charakteristischen melodischen und harmonischen Verläufe aber in ein neues Klanggewand bettet, ohne Streicher und Holzbläser, dafür aber mit allen Farben, die einem Brass Ensemble möglich sind.
So wie hier ein Brückenschlag von der Hochromantik in die Gegenwart praktiziert wird, so hat sich Wolfgang Amadeus Mozart gegen Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Wahlheimat Wien auf die Spur der »Alten Meister« begeben. Wenngleich das Publikum dazu tendierte, neueste, gerade komponierte Werke hören zu wollen, gab es doch auch Kreise, in denen die Kunst der Barockzeit nach wie vor hoch geschätzt wurde. Kenner und Liebhaber dieser Musik trafen sich vor allem im Hause des Barons Gottfried van Swieten, als Präfekt der Wiener Hofbibliothek und Präsident der Studien- und Zensurkommission eine Art »Kultusminister« Kaiser Josephs II. Die seit Beginn der 1780er Jahre regelmäßig abgehaltenen Sonntagsmatineen, bei denen man sich zum gemeinsamen Musizieren – in erster Linie von Werken Bachs und Händels – zusammenfand, wurden bald zu einer festen Größe, mit Mozart als einem ihrer besonders aktiven Teilnehmer.
Van Swietens reichhaltige Notenbibliothek mit Kompositionen des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts stand den Interessierten offen. Und nicht zuletzt nutzte Mozart diese Möglichkeit, die Kompositionstechnik der großen Barockmeister ausgiebig zu studieren – er suchte förmlich nach Anregungen dieser Art, sei es in Form von Arrangements, u. a. von Oratorien Händels und Klavierwerken Bachs, sei es in Gestalt von eigenen Kompositionen, die von der Musik der verehrten Vorgänger inspiriert war.
Das polyphone, der Ästhetik der Barockzeit verpflichtete Denken, welches sich Mozart in jenen Jahren systematisch aneignete, spiegelt sich auch in einem Werk, das zu den atmosphärisch eigentümlichsten seines gesamten Œuvres zählt. Im Sommer 1782 komponierte er eine Serenade in c-Moll, die er in einem Brief an Vater Leopold in Salzburg explizit als »Nacht Musique« bezeichnete. Im Gegensatz zu der fünf Jahre später entstandenen, allgemein bekannten »Kleinen Nachtmusik« für Streicher KV 525 war diese Komposition ausdrücklich für eine Bläserbesetzung mit ihren besonderen Klangfarben gedacht. Bestimmt war sie offenbar für das kaiserliche Harmoniemusik-Ensemble, das im Umkreis höfischer Feste zur Unterhaltung aufspielte. Häufig erklangen dabei populäre Melodien aus aktuellen Opern, mitunter wurde aber auch anspruchsvolle Kammermusik geboten. Die »Nacht Musique« KV 388 zeigt sich von jenem gefälligen Divertimento-Charakter, der vielen Serenaden-Kompositionen eigen ist, weit entfernt. Sowohl seine Satztechnik – das Menuett mit seiner imitatorischen Anlage kann als direkte Folge von Mozarts Bach-Studien begriffen werden – als auch seine Grundtonart, Grundstimmung und Klangwelt lassen erkennen, dass es sich um ein sehr besonderes Werk handelt. Ursprünglich für ein Oktett aus je zwei Oboen, Klarinetten, Fagotten und Hörnern konzipiert, wandelte es der Komponist 1787 in ein Streichquintett (KV 406) um. Die Originalfassung jedoch zeigt einmal mehr Mozarts eminente Begabung, nicht nur einen Tonsatz von herausragender Qualität zu schaffen, sondern auch ausgesprochen sensibel die Timbres der verschiedenen Instrumente auszuhorchen und einzusetzen.
Auch Claude Debussy vermochte es, raffiniert mit Klängen und Klangfarben umzugehen – seine Orchesterwerke demonstrieren das auf eindrückliche Weise, ebenso wie seine Klavier- und Kammermusik. Spätestens in den Jahren ab 1900, mit stetig wachsendem Erfahrungsschatz, verfügte er über immer verfeinerte Mittel und Möglichkeiten, den Instrumenten klangliche Nuancierungen vielerlei Art abzugewinnen. Erstaunlich ist, dass diese Wirkung auch bei vergleichsweise beschränkten Besetzungen mit nur wenigen, zudem eher homogenen Klanggebern zu beobachten ist.
1904 erhielt der in Paris und darüber hinaus mittlerweile berühmte Debussy vom renommierten Klavier- und Harfenfabrikanten Pleyel den Auftrag, ein Stück für Harfe und Streicherensemble zu komponieren. Durch technische Innovationen war es möglich geworden, die Harfe stärker als bislang als chromatisches Instrument zu nutzen, d. h. für ein Spiel mit allen Halbtönen der Skala. Entsprechend ausgeweitet waren die kompositorischen Optionen, im Blick auf die Momente des Konstruktiven wie des Expressiven. Debussy ergriff diese Chance und schrieb zwei Tänze für diese neue »arpe chromatique«, zwei Sätze von merklich unterschiedlichem Charakter. Die einleitende »Danse sacrée« zeichnet sich durch ein betont feierliches Gepräge aus und erinnert mit seinem ruhigen Tempo im 3/2-Takt an einen alten Schreittanz, während die sich ohne Zäsur anschließende »Danse profane« wesentlich bewegter gehalten ist und von einem durchgängigen, beständig variierten Thema lebt, durch das diese Musik ihre spezielle Physiognomie erhält. Im November 1904 im Rahmen der Concerts Colonne uraufgeführt, sind die »Deux Danses« für Harfe und Streicher rasch in das feste Repertoire der Instrumentalisten eingegangen.
So wie die musikhistorische Bedeutung Debussys für die musikalische Avantgarde des späteren 20. Jahrhunderts außer Frage steht, ist auch diejenige von Richard Wagner unbestritten, sogar in einem generelleren Sinne. Seine Opern und Musikdramen zeitigten eine Wirkung, die kaum zu überschätzen ist. Die Anregungen, die er sowohl den Zeitgenossen als auch den Nachgeborenen gegeben hat, sind ebenso vielfältig wie nachhaltig – man denke nur an die Musik des »Tristan«, die für viele Komponisten der anbrechenden und sich durchsetzenden Moderne Erweckungserlebnis und Ausgangspunkt für eigenes Fortschreiten darstellte. Wagner war der Mann für das sprichwörtlich Große, Monumentale, Universelle; abseits dessen hat er nur wenige, zumeist unbekannt gebliebene Stücke hat er für kammermusikalische Besetzungen komponiert. Eine prominente Ausnahme – sofern man hier von »Kammermusik« überhaupt noch sprechen kann – gibt es gleichwohl: das »Siegfried-Idyll«.
Die Uraufführung dieser in der Tat außergewöhnlichen Komposition fand auch in einem außergewöhnlichen Rahmen statt: Am Morgen des 25. Dezember 1870, an Cosima Wagners 33. Geburtstag, erklang im Treppenhaus der Villa in Tribschen am Vierwaldstätter See eine Musik, die einen solchen Zauber entfaltete, dass Cosima darüber regelrecht ins Schwärmen geriet. In ihren Tagebuchaufzeichnungen berichtet sie, spürbar beeindruckt, von diesem ungewöhnlichen Ständchen, das ihr die 15 Musiker des Züricher Tonhalle-Orchesters unter Leitung ihres Gatten entgegenbrachten: »Immer voller schwoll er an, nicht mehr im Traum durfte ich mich wähnen, Musik erschallte, und welche Musik! Als sie verklungen, trat R. mit den fünf Kindern zu mir ein und überreichte mir die Partitur des ›Symphonischen Geburtstagsgrußes‹ –, in Tränen war ich, aber auch das ganze Haus; auf der Treppe hatte R. sein Orchester gestellt und so unser Tribschen auf ewig geweiht! Die ›Tribscher Idylle‹ so heißt das Werk.«
In der Tat hatte Wagner das Titelblatt der Widmungspartitur mit den Worten versehen: »Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang als Symphonischer Geburtstagsgruß. Seiner Cosima dargebracht von Ihrem Richard« – eine sehr persönliche Zueignung eines sehr persönlichen Werkes, die manche Assoziationen enthält und auf manches Faktische verweist. So wird durch die Erwähnung von »Fidi« – dem Kosenamen für Richard und Cosimas im Juni 1869 geborenen Sohn Siegfried – das Augenmerk einerseits auf das Kind, zum anderen aber auch auf den dritten Teil der »Ring«-Tetralogie gleichen Namens gerichtet.
Dass Wagner das Stück später klar und deutlich »Siegfried-Idyll« nannte und auch unter diesem Titel veröffentlichte, hat nicht zuletzt den Grund, die Nähe zu seinem Musikdrama, das er zu Beginn der 1870er Jahre sich fertigzustellen anschickte, zu betonen. Die Gründe dafür sind leicht ersichtlich, findet sich doch in seinem Instrumentalwerk jenes musikalische Material, mit dem auch die abschließende Szene des dritten Aufzugs von »Siegfried«, der Dialog zwischen dem Titelhelden und Brünnhilde, gestaltet ist.
Während sich dort jedoch ein dramatisches Geschehen entspinnt, so erweist sich das »Siegfried-Idyll« als ein Werk, das zunächst aus sich selbst heraus verständlich scheint: Wagner gestaltet es als eine delikate Miniatur mit beinahe impressionistisch anmutenden Klangwirkungen. Mit größter Sensibilität werden Licht und Schatten verteilt, wird die Farbpalette der Instrumente mit spürbarer Leuchtkraft ausgestattet oder wie unter einem Schleier verdeckt gehalten. Über weite Strecken entfaltet sich die Musik zudem in ruhig fließender Bewegung und ist im Piano-Bereich angesiedelt, kaum einmal wächst der Klang zu größerer Intensität an. Trotz der Kammerorchesterbesetzung (neben den Streichern verlangt Wagner je eine Flöte, Oboe, Trompete und ein Fagott sowie je zwei Klarinetten und Hörner) ist das »Siegfried-Idyll« keine Kammermusik im eigentlichen Sinn. Durch seine entfaltete Polyphonie und seine ausdifferenzierten Klänge besitzt es einen gewissen Zug ins Große, wenngleich sich Wagner zugunsten der Aneinanderreihung verschiedener Motive einer strikten sinfonischen Arbeit in der Tradition der Wiener Klassiker verweigert.
Zeitlebens hat Wagner sein »Siegfried-Idyll« sehr geschätzt. Nach der Tribschener Premiere unter den speziellen Umständen initiierte er öffentliche Aufführungen in Mannheim 1871 sowie in Meiningen 1877, darüber hinaus erklang es mehrfach in der Bayreuther Villa Wahnfried in Privatvorführungen. Obwohl Wagner gerade in seinen letzten Lebensjahren des Öfteren davon sprach, nach seinen Musikdramen nurmehr Sinfonien komponieren zu wollen, so kam es doch nicht mehr dazu, diese Ambitionen zu verwirklichen. Letztlich sollte das »Siegfried-Idyll« das einzige allgemein anerkannte genuine Instrumentalwerk aus Wagners Feder bleiben. Und auch dieses von hoher Kompositionskunst zeugende Stück Musik ist in die große Wagner-Tradition der Staatskapelle Berlin und ihrer Orchesterakademie eingegangen.

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