Eine offene Wunde

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sich zahlreiche Militärdiktaturen in Südamerika heraus, die durch gewaltsame Umstürze an die Macht gekommen waren. Die brutale Absetzung der demokratisch gewählten sozialistischen Regierung von Salvador Allende am 11. September 1973, die durch einen von Augusto Pinochet geführte Militärputsch stattfand, gilt als hierfür als eines der prominentesten Beispiele. Doch auch in Brasilien, Paraguay, Uruguay und Bolivien herrschten in dieser Zeit Militärs, deren Geheimdienste in der Hochzeit des Kalten Krieges mit der amerikanischen Regierung unter dem Codenamen »Operation Condor« kollaborierten, um linke Oppositionelle zu verfolgen und zu töten.

1973 war Argentinien mit der erneuten Wahl des einst 1955 vom Militär gestürzten Präsidenten Juan Perón kurzzeitig zur Demokratie zurückgekehrt. Doch stirbt Perón nur wenige Monate nach seiner Wahl, woraufhin seine Frau und Vizepräsidentin Isabel Perón die Regierung übernahm. Eine hohe Inflation, Gewalt und Chaos spaltete die argentinische Gesellschaft in den Jahren 1974 und 1975. Guerillakämpfer-Gruppen gründeten sich und die Militärs gewannen, durch den ständigen Ausnahmezustand und zahlreiche erlassene Sondergesetze bedingt, zunehmend an Einfluss. Mit einem von General Jorge Rafael Videla angeführten Militärputsch am 24. März 1976 endete die kurze Phase der Demokratie in Argentinien. Unmittelbar nach Absetzung der Perón-Regierung leitete die neue politische Führung einen weitreichenden »Prozess der nationalen Reorganisation« ein, infolgedessen die Mitglieder des Obersten Gerichts entlassen und die wichtigsten staatlichen Institutionen unter militärische Kontrolle gestellt wurden. Hiermit begann eine beispiellose Jagd auf politische Gegner des Regimes. Dabei hatten es die Militärs nicht allein auf die Sozialisten und Parteikommunisten abgesehen, stattdessen betrachteten sie die gesamte Linke, insbesondere die organisierte Arbeiterbewegung, Gewerkschaften sowie Betriebsräte als Feinde. Auch Künstler und Intellektuelle gerieten ins Visier der neugegründeten Einsatzgruppen. Um die vermeintlichen Staatsfeinde zu beseitigen, bedienten sich die Polizeikommandos, Geheimdienste und Militäreinheiten des perfiden Systems des Verschwindenlassens: die Opfer wurden entführt und in einem der über 350 geheimen Haftlager auf jede erdenkliche Weise gefoltert. Häufig wurden die Entführungen nachts oder zu frühen Morgenstunden durchgeführt, damit sich die Angehörigen nicht unmittelbar an offizielle Stellen wenden konnten, was den Verschleppern einen Zeitvorsprung verschaffte. Viele erlagen ihren durch die schweren Folterungen durch Elektroschocks, Wasser oder Schläge hinzugefügten Verletzungen. Andere wurden auf besonders grausame Weise ermordet, indem man sie mit Schlafmitteln betäubte und über dem Rio de la Plata aus dem Flugzeug abwarf. Nach dem Tod erfolgte die Vernichtung aller offiziell vorhandenen Daten bzw. deren Verfälschung. Die verstorbene Person wurde als NN ausgegeben, Name unbekannt. Durch die Verschleppungen gelangten auch mehrere hundert Kinder von desaparecidos, manchmal unmittelbar nach der Geburt, an Familien von Militärs, Polizisten oder regimetreue Personen. Sie erhielten künstlich erschaffene Identitäten, die zum Teil bis heute nicht
entschlüsselt sind.
Nach Ende des für Argentinien katastrophalen Krieges um die von Großbritannien besetzten Falklandinseln geriet das Militärregime durch öffentliche Demonstrationen für Demokratie und freie Wahlen zunehmend unter Druck. Noch vor Ende der Diktatur 1983 versuchten die Militärs, ihre Taten und die Schicksale der desaparecidos zu vertuschen. Geschichten wurden erfunden und Behauptungen über Personen aufgestellt, diese seien in den Untergrund oder ins Ausland gegangen. Belastete Militärs amnestierten sich selbst und vernichteten zahlreiche Dokumente, Berichte und Zeugnisse der Verschleppungen.
Der als Sieger aus den Wahlen im Oktober 1983 hervorgegangene Präsident Raúl Alfonsín gründete kurz nach der Amtsübernahme die Organisation CONADEP (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas), eine Nationale Kommission zur Untersuchung der Fälle verschwundener Personen. Ein Jahr später überreichte die CONADEP dem Präsidenten den Abschlussbericht, der »Nunca más« (Nie wieder) betitelt wurde. 1985 erhielten Videla und der Exdiktator Emilio Massera lebenslange Freiheitsstrafen und weitere Ermittlungsverfahren gegen hunderte Offiziere wurden geführt. Unter dem Druck der Militärs wurde die Strafverfolgung zunehmend eingeschränkt und kam spätestens durch die nachträglich ausgesprochenen Amnestien von Präsident Menem 1989–90 vollständig zum Erliegen. Erst 2003 beschloss die Regierung unter Néstor Kirchner die Außerkraftsetzung der Amnestiegesetze. Zahlreiche großangelegte Prozesse gegen Militärangehörige beschäftigen seitdem immer wieder die argentinische Öffentlichkeit. Insgesamt 30.000 Menschen verschwanden oder starben in den Jahren der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. Sie haben eine offene Wunde in der argentinischen Geschichte hinterlassen, die bis heute nicht geschlossen ist. Im November 2017 verfolgten hunderte Menschen die Urteilsverkündung in einem Maxiprozess vor dem Justizpalast »Comodoro Py« in Buenos Aires auf Großleinwänden: von 54 angeklagten ehemaligen Offizieren erhielten 29 lebenslänglich, und 19 weitere hohe Haftstrafen zwischen 8 und 25 Jahren. Nur sechs wurden freigesprochen.

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