Der Tod – Das letzte Tabu?

Georg Friedrich Haas’ Kammeroper »Thomas« wird derzeit in einer Inszenierung von Barbora Horáková im Rahmen von LINDEN 21 gezeigt. Sie handelt von den Erfahrungen, die der Hinterbliebene Thomas durchlebt, als sein geliebter Freund aus dem Leben scheidet.

 

Matthias liegt im Sterben. Wir hören seine letzten Atemzüge. Ein Rasseln. Ein Stöhnen. Und schließlich Stille. Matthias wird nie wieder atmen. Thomas, sein Freund, bleibt am Sterbebett zurück. Es ist die wohl existenziellste Grenzerfahrung, mit der uns Librettist Händl Klaus und Komponist Georg Friedrich Haas in ihrer Kammeroper »Thomas« konfrontieren: mit dem Tod selbst – und der Katastrophe, als Hinterbliebener weiterleben zu müssen.

Kaum einem Thema scheint die moderne Gesellschaft derart entfremdet zu sein wie der Endlichkeit des Lebens. Der Schauspieler und Regisseur Woody Allen sagte einmal: »Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.« Der Tod, das ist etwas, das anderen passiert. Rund acht Milliarden Menschen leben auf dieser Erde – sie alle werden sterben. Genauso wie die Abermilliarden vor ihnen und all diejenigen, die ihnen nachfolgen. So weit, so trivial. Und doch sind und bleiben Tod und Sterblichkeit – vor allem die eigene Person betreffend – unvorstellbar, unerklärbar, eigenartig wortlos. Der Tod ist uns fremd und allen Wissens des Homo sapiens um die unabdingbare Verwobenheit von Leben und Vergehen zum Trotz scheint die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod zunehmend ins Abseits zu rücken – so zumindest der allgemeine Selbstbefund der Moderne. Der Tod – das letzte Tabu unserer Gesellschaft, aus dem Alltag verdrängt und weggeschoben? War der Tod in den religiös geprägten Weltbildern ehemals ein unverrückbarer Teil der menschlichen Existenz, sinnstiftend das Leben in eine neue Daseins- form überführend, erscheint er in einer zunehmend säkularisierten und progressiv auf die Zukunft ausgerichteten Gesellschaft mit seiner allumfassenden Endgültigkeit heute als Skandal. Der Tod als Zeichen letzten Scheiterns.

Die moderne Verdrängung des Todes hat eine lange Tradition: »Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen«, konstatierte bereits 1915 Sigmund Freud in seiner Schrift »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« – wohlbemerkt inmitten des Ersten Weltkriegs, einer Zeit, in der massenhaftes Sterben an der Tagesordnung war. Freud diagnostizierte jedoch weniger eine Verdrängung des Todes als vielmehr eine Verleugnung dessen: Während eine Verdrängung die eigene Sterblichkeit nur ins Unterbewusste verlagert, negiert die Verleugnung die Todeserfahrung gänzlich. »So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: Im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.«

Rund zwanzig Jahre nach Freud beschrieb Walter Benjamin in seinem Essay »Der Erzähler« den historischen Prozess jenes Beiseiteschiebens des Todes, der dem psychologischen vorausging, nämlich die räumliche Verdrängung der Toten selbst: »Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. […] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.«

Nicht nur der Tod gerät also aus dem Sichtfeld der Lebenden, auch die Sterbenden – eine Entwicklung, die auch auf das 21. Jahrhundert nach wie vor zutrifft. Mit der Verlagerung der Todgeweihten in Krankenhäuser und Hospize wird ihnen abseits des persönlichen Lebensumfelds ein streng definierter Ort der medizinischen Expertise zugewiesen. Damit einher gehen die Medikalisierung, Institutionalisierung und Professionalisierung des Sterbens. Der Tod als standardisierter und – man denke an unzählige Vorschriften das menschliche Ableben betreffend, angefangen von der Leichenschau über die Anzeige beim Standesamt bis hin zur Bestattung – bürokratisierter Prozess. Ein gebannter, ein kontrollierter, gar domestizierter Tod der Moderne? Ein Schrecken ausgelagert in den abendlichen Krimi?

Gerade in den letzten Jahren ist jedoch ein Umdenken im gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod zu spüren. Bestimmte Aspekte des Todes werden wieder öffentlich diskutiert, seien es medizinische Themen wie die Patientenverfügung, die Organspende und der ärztlich assistierte Suizid oder die philosophische Frage nach einem »guten Sterben«. Die Kulturwissenschaftler:innen Kristin Marek und Thomas Macho sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer »neuen Sichtbarkeit des Todes«, die sich einerseits in der Rückeroberung eines individualisierten Todes äußere, beispielsweise im ganz persönlichen Zeremoniell der Bestattung oder der Gestaltung der letzten Ruhestätte, die sich in erster Linie jedoch auf dem Feld der Künste vollziehe. Hochreflektierte künstlerische Versuche, das existenziell Verdrängte in den öffentlichen Raum zurückzuholen, geben davon Zeugnis. Und vielleicht lässt sich der Sprachlosigkeit gebietenden Allmacht des Todes tatsächlich vor allem in jenen Klang- und Bildwelten von Musik, Literatur und Kunst, also im kulturell Imaginierten begegnen. Natürlich können auch künstlerische Bilder die substanzielle menschliche Angst vor dem Tod nicht über- winden. Doch sie können den Schmerz deklinieren, ihn beim Namen nennen, ihm neue Identität verleihen. So nimmt uns auch »Thomas« ausgehend von Matthias’ Tod mit auf eine intensive Auseinandersetzung mit der fremden und der eigenen Sterblichkeit, mitten hinein in die unvorstellbaren Dimensionen des Todes – und der sie überdauernden Liebe.

Text von Elisabeth Kühne

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