MUSIK, DIE BRÜCKEN BAUT

In diesem Jahr feiert die Musikwelt den 150. Geburtstag von Sergej Rachmaninow. Die Sopranistin Anna Samuil und der Pianist Matthias Samuil widmen ihm daher einen besonderen Liederabend. An einem sonnigen Frühsommertag trafen wir uns mit Anna Samuil zum Gespräch über ihre Liebe zu Rachmaninow, ihre russischen, moldawischen und ukrainischen Wurzeln und wie es ist, mit dem eigenen Ehemann auf der Bühne zu musizieren.

In diesem Jahr wäre Sergej Rachmaninow 150 Jahre alt geworden. Was bedeuten Rachmaninows Musik und insbesondere seine Romanzen für dich persönlich?

Ich bin mit Rachmaninows Musik groß geworden, sie begleitet mich, seitdem ich denken kann und immer, wenn ich seine Lieder singe, ist es als ob ich reines Wasser aus einer Quelle trinke. Dazu habe ich genau wie Rachmaninow am Moskauer Konservatorium studiert, wo noch immer ein großes Schild an die Goldmedaille erinnert, die er hier für seine erste Oper »Aleko« im Jahr 1893 bekam. Aufgewachsen bin ich aber in Moldawien, und tatsächlich geht wohl auch ein Teil von Rachmaninows Stammbaum auf moldawische Wurzeln bis hin zu Stefan dem Großen zurück. Seine Musik ist also in vielerlei Hinsicht ein Teil von mir und es ist eine große Freude, die Liebe, die ich für diese Musik empfinde, dem Publikum zu zeigen.

 

Rachmaninow hat über 80 Romanzen geschrieben. Wie hast du die Auswahl getroffen?

Am Anfang meiner Karriere – ich singe ja schon 19 Jahre an der Staatsoper – habe ich ganz andere Lieder Rachmaninows gesungen. Doch inzwischen fühle ich mich auch für ernstere Lieder bereit, für die es einfach mehr Lebenserfahrung braucht. Mit den insgesamt elf Liedern, die ich ausgewählt habe, wollte ich Rachmaninows ganze Bandbreite des musikalischen Ausdrucks zeigen.

 

Du singst aber kein reines Rachmaninow-Programm, sondern beziehst mit den Liedern von Tschaikowsky und Mussorgsky auch zwei wichtige Vorläufer Rachmaninows mit ein…

Tschaikowsky hat eine unglaublich große Rolle in Rachmaninows Leben gespielt, er hatte ihm viel zu verdanken und war stark von ihm beeinflusst. Und ich wollte, dass beide Komponisten im Programm in eine direkte Verbindung zueinander treten, sodass man hören kann, was ähnlich, aber auch was neu bei Rachmaninow ist. Von Mussorgskys Musik war ich schon immer fasziniert, doch ich habe mich lange Zeit nicht an diese wirklich komplexen Lieder herangetraut. Sie sind also ganz neu für mich! Und sie sind der perfekte Auftakt zur Neuproduktion von Mussorgskys »Chowanschtschina«, in der ich nächste Spielzeit als Susanna hier auf der Bühne stehen werde. Alle drei werden auch durch zwei Dichter miteinander verbunden: Alexander Puschkin und Taras Schewtschenko. Puschkin hat nicht nur die literarische Grundlage zu »Eugen Onegin« geschrieben, sondern mit seinem Poem »Zygani« auch Rachmaninows erste Oper »Aleko« inspiriert. Daher kommt auch die Verbindung zu den Liedern von Leoncavallo, der ebenfalls eine Oper über dieses Poem komponiert hat. Puschkin schrieb »Zygani« übrigens auch in meiner zweiten Heimat Moldawien! Zwei andere Lieder Mussorgskys und auch eines von Rachmaninow sind über Gedichte des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko entstanden. Die Verbindung zur Ukraine ist mir sehr wichtig, weil dort die Wurzeln meines Vaters liegen. Dort wurde meine Oma begraben, dort habe ich viele Sommer verbracht, ich kenne dieses Land und seine Sprache seit Kindertagen. Deshalb spielen wir auch Werke von Heorhij Majboroda, Reinhold Glière und Sergej Bortkiewicz, drei weiteren ukrainischen Komponisten.

 

Matthias Samuil, ein hervorragender Pianist und dein Ehemann, begleitet dich am Flügel und spielt darüber hinaus auch Solostücke vom armenischen Komponisten Komitas und dem polnischen Pianisten und Komponisten Władisław Szpilman. Wie passen die ins Programm?

Die Themen Flucht, Krieg und Vertreibung ziehen sich wie ein roter Faden durch das Programm. Dazu passen auch Bortkiewicz, der genau wie Rachmaninow vor der Russischen Revolution floh, aber auch Komitas – ebenfalls ein Zeitgenosse Rachmaninows –, der im Zuge des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich verhaftet und deportiert wurde, und der jüdische Komponist Władisław Szpilman – bekannt durch den Film »Der Pianist« –, der als einziger seiner Familie das Warschauer Ghetto überlebte. Alle drei haben übrigens auch zeitweise in Berlin gelebt. Solche Querverbindungen zu ziehen, ist mir unheimlich wichtig.

 

Wie muss man sich die Proben im Hause Samuil vorstellen? Gibt es da sofort ein tiefes musikalisches Verständnis oder entstehen auch manchmal Reibungen?

Es ist nicht immer leicht, Berufliches und Privates zu trennen. Deshalb proben wir meist nicht zuhause, sondern in der Staatsoper oder in der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«, wo wir beide unterrichten. Er ist ein großartiger Musiker mit ganz eigenen Vorstellungen und Ideen. Aber bei uns ist ein bisschen wie beim berühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch und seiner Frau, der Sopranistin Galina Wischnewskaja: Die Leute fragten Rostropowitsch immer: »Welche Stimme hat Ihre Frau?« Und er antwortete: »Auf der Bühne ist sie eine lyrische Sopranistin, aber zuhause ist sie dramatischer Sopran.« Und das trifft wohl auch auf mich zu! (lacht)

 

Hast du ein Stück, auf das du dich besonders freust?

Ich freue mich einerseits besonders auf die Rachmaninow-Lieder »Rattenfänger« und »Trauere nicht um mich«, weil sie so gegensätzliche Stimmungen aufgreifen, das erste so leicht und lustig, das zweite so tiefsinnig und philosophisch. Den »Rattenfänger« habe ich schon viel gesungen, doch »Trauere nicht um mich« traue ich mir erst jetzt zu, weil es enorm viel stimmliche und menschliche Erfahrung dafür braucht. Und ich freue mich auf das ukrainische Lied von Majboroda, das mich viel an meine Kindheit denken lässt. Insbesondere jetzt, in Zeiten dieses schrecklichen Krieges in der Ukraine, bekommt das natürlich eine ganz neue Bedeutung für mich. Aber wenn ich mir die Schicksale von Bortkiewicz, Komitas, Szpilman oder Rachmaninow vor Augen führe, ist es für mich umso erstaunlicher, was für großartige Musik hervorgebracht haben – eine Musik, die Brücken bauen kann. Das gibt mir Hoffnung!

 

Das Gespräch führte Elisabeth Kühne

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