Der Unbestechliche!
Der italienische Untersuchungsrichter Giovanni Falcone verschrieb sich dem Kampf gegen die sizilianische Mafia — und bezahlte dafür mit dem Leben. Anlässlich seines 25. Todestages zeigen wir Nicola Sanis beeindruckendes Musiktheater Falcone, das einen Blick auf den Menschen hinter der Richterrobe gewährt. Wichtige Daten und Hintergründe zum Attentat, das am 23. Mai 1992 begangen wurde und ganz Italien in eine schwere Krise stürzte, liefert die folgende Chronik.
Die Cosa Nostra und Giovanni Falcone – Eine Chronik
1837 Pietro Calà Ulloa, Statthalter des neapolitanischen Königs im westsizilianischen Trapani, beschreibt in Briefen nach Neapel »Vereinigungen und Bruderschaften« in vielen Orten, die erhebliche Macht ausüben und einen Staat im Staat bilden würden. Seine Berichte gelten als die ältesten Schilderungen mafiöser Strukturen, die jedoch wesentlich weiter zurückreichen.
1863 Im Titel der Volkskomödie I mafiusi de la Vicariavon Giuseppe Rizzotto und Gaspare Mosca, die in Palermos größtem Gefängnis spielt, taucht zum ersten Mal der Terminus Mafioso auf. Im 19. Jahrhundert ist er durchaus positiv konnotiert und steht für Ansehen, Größe und Standhaftigkeit [vor allem gegen die Jahrhunderte währende Fremdherrschaft in Sizilien].
1875 Die Regierung in Rom gibt den Auftrag für eine Untersuchung der »Zustände in Sizilien«. Die Kommission diagnostiziert »einen bewaffneten Staat aus persönlichen Beziehungen, in dem sich mächtige Interessensverbände bilden, die in alle privaten und öffentlichen Angelegenheiten eindringen und sich durchsetzen«. Zu konkreten Schritten kann sich die Regierung trotzdem nicht durchringen.
1893 Emanuele Notarbartolo, Ex-Bürgermeister von Palermo und aktiver Gegner von Korruption und kriminellen Machenschaften, wird auf einer Zugfahrt von der Cosa Nostra ermordet. Das Attentat ist das erste der Cosa Nostra, das einer hochstehenden Persönlichkeit gilt.
1924 Mussolini entsendet den »eisernen Präfekten« Cesare Mori nach Sizilien, der mit aller Härte gegen das organisierte Verbrechen vorgeht. Tausende Mafiosi [und auch Nicht-Mafiosi] landen im Gefängnis. Die Cosa Nostra stellt zeitweise ihre Aktivität ein; viele Bosse emigrieren in die USA. 1929, bei Eintritt in den Ruhestand, lässt Mori verlauten, dass die Mafia besiegt sei.
1939 Am 18. Mai wird Giovanni Falcone als Sohn einer gutsituierten Familie in Kalsa, im Zentrum Palermos, geboren. Die Cosa Nostra gehört dort nach wie vor zum Alltag. Ein halbes Jahr später erblickt im selben Viertel Falcones späterer Weggefährte Paolo Borsellino das Licht der Welt.
1943 Die Landung der Alliierten auf Sizilien wird entscheidend durch die Mafia unterstützt. Im Folgenden werden bei der Neuvergabe von Verwaltungsämtern, die zuvor Faschisten innehatten, Mafiosi und mafianahe Personen begünstigt.
1958 Nach wenigen Monaten an der Marineakademie in Livorno bricht Falcone sein Ingenieurstudium ab und schreibt sich stattdessen an der Universität von Palermo im Fach Jura ein. Ein Jahr später zieht die Familie in die nach dem Mafiaopfer benannte Via Notarbartolo um, in der auch alle folgenden Palermitaner Wohnungen von Giovanni Falcone liegen.
1965 Falcone tritt seine erste Stelle als Amtsrichter im kleinen Ort Lentini im Südosten Siziliens an.
1966 Falcone lässt sich ins westsizilianische Trapani versetzen. Dort wird er erstmals mit Mafiafällen konfrontiert. Trapani wird in den 1970er-Jahren zum Hauptumschlagsplatz der Cosa Nostra für den Drogenhandel nach Amerika. Falcone bleibt nicht verborgen, dass Trapani – obwohl offiziell eine der ärmsten Städte Italiens – die höchste Pro-Kopf-Dichte an Bankkonten aufweist.
1978 Falcone kehrt nach Palermo zurück und wird kurze Zeit später zum Untersuchungsrichter befördert. Im damaligen Rechtssystem Italiens umfasst dieses Amt mehr als sein deutsches Pendant, nämlich die Lenkung der gesamten Ermittlungen, die hierzulande der Staatsanwaltschaft obliegt.
1981 Zwischen den Mafiafamilien von Palermo und Corleone bricht ein offener Krieg um die Vorherrschaft aus, den die »Corleonesi« um Salvatore Totò Riina nach zwei blutigen Jahren für sich entscheiden. Dabei verlieren schätzungsweise 1.000 Menschen ihr Leben. Die italienische Regierung vernachlässigt dennoch die Bekämpfung der Mafia, weil sie sich auf den Links- [»brigate rosse«] und Rechtsterrorismus konzentriert.
1982 Am 30. April fällt der Politiker Pio La Torre einem Cosa-Nostra-Anschlag zum Opfer. Sein Vermächtnis ist das Gesetz »Rognoni-La Torre«, das den neuen Straftatbestand der »associazione di tipo mafiosa« einführt und am 13. September in Kraft tritt. Mafiosi können nun aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zur Organisation und nicht nur wegen einzelner Delikte vor Gericht gestellt werden.
1983 Rocco Chinnici, der Leiter des Palermitaner Ermittlungsrichterstabs und Falcones direkter Vorgesetzter, wird am 29. Juli vor seinem Haus durch eine Autobombe getötet. Chinnicis Nachfolger wird Antonino Caponnetto, der den Plan seines Vorgängers eines »pool antimafia« umsetzt. Diese Sondereinheit befasst sich entgegen der damaligen Praxis, nach der alle Fälle gleichmäßig unter allen Ermittlungsrichtern aufgeteilt wurden, ausschließlich mit Mafiadelikten und kann so in größeren Zusammenhängen ermitteln. Der Einheit gehört neben Falcone auch Paolo Borsellino an.
Am 23. Oktober wird in Brasilien der ehemalige Mafiaboss Tommaso Buscetta verhaftet. Er wird zum ersten »pentito«, also Kronzeugen, der mit den Ermittlungsbehörden zusammenarbeitet. Falcone führt die Vernehmungen und erlangt wertvolle Informationen über die Struktur der Cosa Nostra. Die Staatsanwaltschaft erlässt aufgrund Buscettas Aussage mehrere hundert Haftbefehle gegen Mafiosi.
1985 Falcone und Borsellino widmen ihre ganze Zeit der Vorbereitung der Anklageschrift. Aus Angst vor Anschlägen mieten sie sich für den ganzen Sommer samt Familien in das Hochsicherheitsgefängnis von Asinara, einer Insel bei Sardinien, ein.
1986 Am 10. Februar beginnt in einem extra dafür gebauten Gerichtssaal in Palermo, der »aula bunker«, der Maxiprocesso, der hinsichtlich der Zahl von 476 Angeklagten bis heute umfangreichste Gerichtsprozess der Geschichte. Unter ihnen befinden sich etliche Mafiabosse; untergetauchte Anführer wie Totò Riina werden in Abwesenheit angeklagt. Gegenstand sind neben etlichen Mafiadelikten nicht weniger als 120 Morde.
1987 Nach 349 Verhandlungstagen endet der Maxiprocesso. Bei der Urteilsverkündigung am 16. Dezember verurteilt Richter Alfonso Giordano 346 der Angeklagten und verhängt Haftstrafen in Höhe von insgesamt 2.665 Jahren. Darüber hinaus werden 19 Angeklagte zu lebenslanger Haft verurteilt.
1988 Im Moment seines größten beruflichen Erfolges muss Falcone eine Niederlage einstecken: Er wird als Nachfolger seines Chefs Antonino Caponnetto, der in Rente geht, abgelehnt. Aufgrund längerer Dienstlaufbahn wird der eher unbedarfte Richter Antonino Meli aus der Kleinstadt Caltanissetta vorgezogen.
1989 Ein Bombenattentat auf Falcone scheitert; bei seinem Ferienhaus am Meer in Addaura entdecken Polizisten eine Tasche voll Sprengstoff. Eine öffentliche Verleumdungskampagne gegen Falcone beginnt. Nachdem bereits 1987 Leonardo Sciascia, der einflussreichste Intellektuelle Siziliens, den Mitgliedern des »pool antimafia« Opportunismus und Profilierungsgier vorgeworfen hatte, tauchen im Palermitaner Justizpalast anonyme Briefe auf, die Falcone und einige seiner Kollegen diffamieren. Später stellt sich heraus, dass hinter dem sich als »corvo« [Rabe] bezeichnenden Absender Alberto Di Pisa, ein Kollege Falcones, steckt.
1991 Aufgrund anhaltender Differenzen mit seinem Vorgesetzten Meli verlässt Falcone Palermo und wechselt zum Justizministerium nach Rom. Er bringt zahlreiche Gesetzesinitiativen gegen die Mafia auf den Weg, darunter die Gründung der »Direzione Investigativa Antimafia« [DIA], die auf nationaler Ebene die Ermittlungen gegen kriminelle Vereinigungen koordiniert.
1992 Der höchste Gerichtshof in Rom bestätigt am 30. Januar im Revisionsverfahren zum Maxiprocesso weitgehend die verhängten Haftstrafen, die damit rechtskräftig werden.
Am 23. Mai sterben Falcone, seine Frau Francesca Morvillo und die Leibwächter Rocco Dicillo, Antonio Montanari und Vito Schifani bei einem Bombenanschlag auf der Autobahn A29 bei Capaci auf dem Weg vom Flughafen von Palermo in die Stadt.
In einem Abflussrohr unter der Straßendecke sind rund 500 kg TNT angebracht worden, die per Fernzündung zur Detonation gebracht werden und einen 10 Meter tiefen Krater aufreißen. Der Anschlag ruft weltweites Entsetzen hervor und beeinflusst sogar die italienischen Präsidentenwahlen, die zwei Tage später stattfinden: Giulio Andreotti, bis dahin Favorit, wird nun wegen seiner mutmaßlichen Mafiakontakte aus früheren Jahren für untragbar gehalten. Kurz darauf zerbricht seine Partei, die Democrazia Cristiana, an einem Korruptionsskandal. Das Attentat auf Falcone wird auch zum Auslöser einer Widerstandsbewegung gegen die Cosa Nostra in Sizilien.
Am 19. Juli fällt auch Falcones langjähriger Weggefährte Paolo Borsellino einem Bombenanschlag in der Via d’Amelio in Palermo zum Opfer.
1993 Totò Riina, der Mafiaboss von Corleone, wird in Palermo verhaftet. Ihm wird, neben zahllosen Gräueltaten, zur Last gelegt, die Morde an Falcone und Borsellino befohlen zu haben.
1996 Am 20. Mai wird Giovanni Brusca, einer von Riinas Killern mit den wenig schmeichelhaften Mafiabeinamen »porco – Schwein« und »scannacristiani – Christenabstecher«, in Agrigento verhaftet. Den Ermittlungen zufolge war er es, der beim Attentat von Capaci, bei dem Falcone ermordet wurde, den Fernzünder aktivierte. Im Jahr 2000 beschließt Brusca, mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten.
2007 Im Teatro Cavallerizza in Reggio Emilia wird am 11. Oktober Nicola Sanis Kammeroper Il tempo sospeso del volo uraufgeführt. Die Oper verbindet Falcones Gedanken während des Fluges kurz vor dem Anschlag mit biographischen Rückblenden. Das Libretto von Franco Ripa di Meana ist ausschließlich aus Originalquellen zusammengestellt.
2017 Aus Anlass des 25. Jahrestages des Anschlags von Capaci erlebt Sanis Werk unter dem Titel Falcone in der Werkstatt der Staatsoper im Schiller Theater am 30. April seine deutsche Erstaufführung.
Text von Benjamin Wäntig
Ein Kommentar
schrieb am 02.05.2017 um 17:48 Uhr.
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